Lotzwil, 31. Dezember 2018
Liebe FreundInnen, Bekannte, Angehörige,
Barbara und ich wünschen ein gutes neues Jahr, und alles, was dazu gehört. Mit dabei die Hoffnung, viele von Euch wiederzusehen.
Uns geht es gut – den Umständen entsprechend. Wir leben zwischen New York, Berlin und CH-4932 Lotzwil, öfter zusammen, oft geographisch getrennt. Nicht Fisch, nicht Vogel, die Balance in der Bewegung haltend wie die Velofahrer, die erst umfallen, wenn sie nicht mehr fahren.
Das ist schon recht so. Schafhirten, Theaterdirektoren oder «Konsulenten» ziehen ja auch von Weidegrund zu Weidegrund – von den Wikingerinnen nicht zu reden, die regelmässig Schwert und Schild schulterten und im Langboot gen Süden zogen, Mord, Raub und lateinische Bekanntschaften im Sinn, die Wikinger mit der Brut und den Shetlandponies zurücklassend, damit jemand den Schafen schaute und die kargen Felder harkte.
Oder umgekehrt.
Wir haben weder ein Langboot zur Hand noch ein Schaf im Trockenen, und zu harken gibt es nichts. Aber im Grossen und Ganzen sind wir gut im Schuss.
Der Nachwuchs kommt in die Gänge. Anna ist Köchin und versucht, sich in D.C. als selbständige «macrobiotic chef» zu etablieren. Ihre Fortschritte sind auf Instagram (@anna.rosa.oriat) dokumentiert. Sie lässt sich gerne anstellen. Meret ist in England, hat ihren zweiten Master gemacht (children’s literature) und möchte in London bleiben. Sie hält sich mit dem Verkauf von Aquarellen in Covent Garden über der Wasserlinie und sucht eine Stelle.
Barbaras Herz hängt weiterhin an ihrem Berliner Chor, mit dem sie im April einen schönen Erfolg erlebte (diplomaticchoirberlin.com) . Im dritten Anlauf war genug Geld zusammengekommen, um ihr «Konzert ohne Grenzen – unter freiem Himmel» aufzuführen. Da ging es um die Verflechtung von christlicher (Händel), jüdischer und islamisch-arabischer Musik – in erklärter Absicht zu zeigen, dass die drei Herkünfte sich nicht bloss tolerieren, sondern miteinander etwas zustande bringen können. Das Programm im Berliner Dom begann mit einem muslimischen Gebetsruf, der in den Anfang des «Messias» und danach in einen jüdischen Totengesang überging. Der Chor sang rein, das Publikum war gerührt, der Dom sprach umgehend eine Einladung für 2019 aus, sodass Barbara die meiste Zeit in Berlin am Üben und Geldauftreiben ist (jawoll – Ihr werdet den «crowdfunding»-link alle erhalten).
Ich selbst hatte Mutterglück. Dank einer kleinen Marnie konnte ich an der Schweizer UNO-Mission in New York ab April wieder eine Mutterschaftsvertretung versehen, die bis März 2019 teilzeitverlängert wurde. Ich war/bin a.i. «election officer» (vier Schweizer Wahlkampagnen – aufregend) und Medienmensch. In der ersten Funktion lernte ich sehr beeindruckende Mitbürger kennen – in der zweiten enorm wichtige. Anfang Jahr hatte ich zudem den Auftrag erhalten, einen Artikel über das Jahr 1968 in Langenthal zu schreiben, was gute Gelegenheit zum Klönschnak mit älteren Leuten gab, oft in Wirtshäusern. Nochmals herzlichen Dank an alle, die sich ausfragen liessen. («Jahrbuch des Oberaargaus» im Buchhandel).
So viel des Guten. Die Umstände?. Sie sind, was sie sind. Unsere Gesundheiten entwickeln eigene Launen, es sind Erosions- und Korrosionsschäden festzustellen, auch Phasen von «low energy». Ich ertappe mich dabei, Dinge nicht zu verstehen und mich auszuklinken, auch weil ich sie nicht verstehen will. Das Facebook zum Beispiel und die Obsession damit. Als die Wahlzinkereien in Amerika bekannt wurden, habe ich mein Konto gelöscht. Ich nehme mir für ’19 vor, mehr altmodische Briefe zu schreiben. Gut möglich, dass die oder der andere einen kriegt. Auch möglich, dass ich einige davon hier in die Vitrine stelle, selbstverständlich in neutralisierter Form.
Sonst? Trump soweit das Auge sieht. Die Trumperei. Was vollzogen wird, ist wenig überraschend – das Grossmannsgehabe, der Raubbau an der Natur, die Hochrüstung, der Kotau vor dem grossen Geld, gepfeffert mit Nationalismus etc. Das stand so auf der Speisekarte und wird nun halt angerichtet. Erstaunlicher finde ich, wer sich alles an den Tisch setzt. Wir kennen eine grosse Menge nette, sympathische, hochintelligente, mitten im realen Leben stehende, gottgläubige, «family-oriented» Leute, die sich als Trumpisten entpuppen. Natürlich bricht man deswegen keine Beziehungen ab. Aber man fragt sich nach den Gründen und findet weniger Antworten als historische Parallelen zu den dreissiger Jahren in Europa. Damals hatten sich das Bürgertum und ein erklecklicher Teil der Arbeiterklasse gegen «das System» und für die faschistischen Alternativen entschieden, und in Gesprächen mit unseren Freunden rechts sticht ins Auge, wie stark die ähnliche Vorstellung ist, einem feindlichen «System» («der Sumpf», die «Fake News») ausgesetzt zu sein. Wie damals in Europa ist die Abscheu im heutigen Amerika gross genug, um einen Gauner nicht nur an die Macht zu bringen, sondern auch an der Macht zu halten. Im gefühlten Notstand schmelzen die gewohnten Normen von «Anstand», «Respekt», «Ehrlichkeit» und Gesetzestreue (ich erinnere mich an manche Wohnzimmertirade gegen Bill Clinton) schneller weg als die Alpengletscher.
Wir sollten uns darob nicht auf die Brust schlagen. Die Trumperei breitet sich auch in Europa aus. Gerade in der Schweiz, die ja in vielem als Vorreiterin dasteht (der Heiland aus Herrliberg hat hier regiert, bevor Trump beim «Reality»-Fernsehen seine zweite Karriere startete). Mein Tiefpunkt in dieser Hinsicht war die Aufnahme des «Global Compact for safe, orderly and regular migration». Das ist eine internationale Abmachung über eine gemeinsame Ingriffnahme der Wanderungsbewegungen, die von der UNO beschlossen und vom Schweizer UNO-Botschafter zusammen mit dem Mexikaner ausverhandelt wurde – eine diplomatische Meisterleistung, die in Zürich und Bern ohne Verstand oder Verständnis abgehakt worden ist. Das Einwanderungs- und Rückführungsland Schweiz hat sich in eine Reihe mit bräunlichen Oesterreichern, faschistischen Belgiern und wurstigen Osteuropäern gestellt – ein Anschluss an eine neue paneuropäische Bewegung, der offenbar keine Schwierigkeiten bereitet.
Eigentlich ist es ganz in Ordnung, schon etwas älter zu sein. «Goldene Jahre» sind nicht in Sicht. Aber die Blut- und Leberwürste von Metzger Soltermann sind immer noch im Angebot und immer noch grossartig. Und vor wenigen Tagen hat meine Mutter an ihrem 99. Geburtstag getanzt, als wir den Köbeliwalzer machten. Zum Skifahren reichte es nicht – zu wenig Schnee.
Best
Johann