Kansas City, 30 Jan 2020
Für politische Beobachter ist Iowa im Wahljahr ein Garten Eden: Verhältnismässig klein, gespickt mit leicht zugänglichen Wahlveranstaltungen. Nirgendwo tummeln sich so viele KandidatInnen auf so kleinem Raum in so kurzer Zeit wie hier und im ebenfalls kleinen New Hampshire an der Ostküste (Vorwahl am 11. Februar). Das liegt am Kalender und am System. Iowa ist Schauplatz des ersten Vorentscheids überhaupt, und gewählt wird nicht an der Urne, sondern in einer Art lokaler Landsgemeinde. In jedem der 1681 precincts (Bezirke) treffen sich die AnhängerInnen der Partei (jedermann kann sich vor Ort registrieren) zur Versammlung und marchen im offenen Verfahren aus, wer die Delegiertenstimmen für die späteren Parteikonvente erhalten soll. Das ist buchstäblich zu verstehen: Der Anhang jedes Kandidaten stellt sich an getrennten Orten im Raum auf, dann wird zweimal 30 Minuten hin und her geredet, geschachert und gekuhhandelt. Wer die Meinung ändert, marschiert in eine andere Ecke: Direktest-Demokratie, ohne geheime Stimmabgabe, wer sich äussert, muss sich exponieren. Das geht, weil a) ein Grundkonsens besteht, man ist Demokrat oder Republikaner und b) alle anständig sind. Man befindet sich im heartland.
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Das Ganze nennt sich caucus und wird von Aussenstehenden gelegentlich mit gerümpfter Nase betrachtet, von den Einheimischen aber durch alle Böden verteidigt. Mehr Mitsprache ist nirgends in Amerika, und kein Volk wird von den KandidatInnen intensiver hofiert als das Stimmvolk in Iowa. Später, vor dem Super Tuesday und danach läuft die Kommunikation vor allem über das teure Fernsehen und die direct mail -Postpropaganda. Hier aber zählen die Direktbegegnung, der Handschlag, das selfie. Iowa ist ein politischer Tante-Emma-Laden. Ein wenig grotesk – wie wenn Appenzell den wegweisenden ersten Entscheid in einer schweizerischen Bundesratswahl zu fällen hätte. Iowa hat weniger als 1 Prozent der US-Einwohnerschaft und lediglich 6 von 538 Stimmen im electoral college, das den Präsidenten schlussendlich wählen wird. Die caucuses der Demokraten in Iowa schicken gerade einmal 41 von 3979 Delegierten an den nationalen Konvent im Juli. “Meiner Meinung nach bedeutet Iowa nichts”, sagt Randy Steinman, ein politischer Beratungsunternehmer in Kansas City. “Vom letzten Dutzend Iowa-Siegern hat nur die Hälfte die Nomination geschafft, und nur zwei davon wurden Präsident”. Das stimmt. Aber Iowa schlägt die ersten Pflöcke ein. Wer später Erfolg haben will, macht sich hier frühzeitig bekannt. Deshalb die Bustouren, die town hall meetings, die Wahlversammlungen.
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Auf nach Iowa also, dem campaign trail nach. Auf schnurgeraden Landstrassen durch die verschneiten Felder des Mittelwestens. Heartland -Kernland, aber nicht wie die Idylle es sich vorstellt. Die farms sind hier nicht gepützelt wie in Neuengland, die Zäune selten weissgetüncht weiss getüncht wie in Kentucky, die kleinen Städtchen weniger pittoresk als verwittert. Zwischen die älteren zweistöckigen Holzhäuser, die mit dem porch vor dem Eingang, sind die gesichtslosen neuen Vorfabrikate gestreut, welche Amerika von Küste zu Küste überziehen.
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Hier, im Mittleren Westen, sind die Gegenden, wo Hillary Clinton vor vier Jahren die Wahl verloren hat. Ein Drittel aller counties in Iowa stimmte 2012 für Barack Obama und schwenkte 2016 zu Donald Trump.
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Trump ist hier nicht das Thema. Er ist bei den Republikanern gesetzt und herrscht wie ein lateinamerikanischer Caudillo. Keiner traut sich, offen gegen ihn aufzutreten (die Ausnahme ist der ehemalige Massachussetts-Gouverneur Bill Weld, aber der hat es zwischenzeitlich auch bei der Sekte der Libertären probiert). Interessant sind die Demokraten. Hier spielt sich ein zunehmend verbissenes Seilziehen zwischen “Linken” und “Gemässigten” ab. Linke fordern Rückverteilung, die Korrektur der Steuererleichterungen für die oberste Schicht der Besitzenden und Gutverdienenden, und massive Sozialprogramme nach europäischer Art: Krankenkasse für alle, billigere Universitäten, Minimallöhne, von denen sich leben lässt. Gemässigten geht das zu weit. Sie bieten kleinere Schritte in dieselbe Richtung an und pochen auf electability, will heissen: Die Unwählbarkeit der Gegner. Linke setzen auf eine Massenmobilisierung einer Wählerschaft, welche den Ausverkauf ihrer Interessen in Washington satt hat – ganz ähnlich wie der Trumpismus. Gemässigte setzen darauf, die Gemässigten auf der anderen Seite zu gangbaren Kompromissen zu bewegen.
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Die Auswahl wird von der Geografie und vom Kalender begrenzt, wegen des in Washington laufenden Impeachment-Verfahrens fallen nur Wochenende in Betracht. Auf der Strecke bleibt der Techno-Unternehmer Andrew Yang. Er propagiert das “bedingungslose Grundeinkommen”, über das die Schweiz vor kurzem abgestimmt hat. Das kennen wir. Unberücksichtigt bleibt auch der Milliardär Tom Steyer, der sich voll und ganz auf den Kampf gegen den Klimawandel einschiesst. Ein interessanter Mann. Steyer und seine Ehefrau haben vor zehn Jahren den giving pledge abgelegt, ein Gelöbnis, zu Lebzeiten die Hälfte des Vermögens für gemeinnützige Zwecke einzusetzen. Steyer könnte eine Überraschung abgeben, er gibt ein Sündengeld für Werbung aus. Aber seine gute Sache gehört eher nach Davos. Nicht auszudenken, wenn ein Steyer dem World Economic Forum den pledge unter die Nase hielte und Geld fürs Klima einfordern würde. Der Batzen, der da zusammenkäme, wäre mit Bestimmtheit mehr wert als die blechernen Bekenntnisse des Davos Man in der Alpenwelt.
Elizabeth Warren – Montag, 20 Jan 2020, Dallas Center High School, Grimes.
Der Ort: Moderne Schulanlage im Grünen für rund 10000 Einwohner, 30 Kilometer nordwestlich von der Iowa-Hauptstadt Des Moines. Mittleres Haushaltseinkommen 89000 Dollar. Mittlerer Hauspreis 258000 Dollar. Wahl 2016: Knapp für Donald Trump (51 Prozent), in der demokratischen Vorwahl für Hillary Clinton. Wahl 2012: Obama 56 Prozent. Lokalgrösse: Brett Moffitt, 2018 Champion in der NASCAR Truck series.
Elizabeth Ann Warren. 70 Jahre alt. Lehrerin, dann Juristin. Professorin für Konkursrecht an renommierten Universitäten. Konsumentenschützerin, nach der Bankenkrise 2008 politischer Kampf für den Schutz von privaten Kreditnehmern und stärkere Bankenregulierung. Leiterin von Obamas Amt für Finanzkonsumentenschutz (Consumer Financial Protection Bureau). Seit 2013 Senatorin für den Bundesstaat Massachussetts. Geschieden, verheiratet in zweiter Ehe. Zwei Kinder. Buch: A fighting chance (Autobiographie).
“Yoohoo”, Frau Warren betritt den Raum, energische Schritte von hinten Richtung Mikrophon. “Hello Grimes!”. Schwarze Hose, blaue Jacke, fit getrimmt. “Yoohoo”, der linke Arm schnellt nach oben. “Ich spreche über mich”. Sie spricht von der Armut daheim in Oklahoma und Texas. Der Vater Abwart. Drei Brüder, zwei davon Republikaner. Sie das einzige Mädchen, zu spät dazu gestossen – sie gegen die Boys. Heirat mit 19. Dann Billig-College, Lehrerin. “Yoohoo – sind Lehrer hier?”. Dann Umzug nach New Jersey, als Schwangere aus dem Schuldienst entlassen, wie es damals so war. Der Ehemann Nummer eins weg (“schlecht, wenn man die Ehemänner numerieren muss”), aber Nummer zwei ist jetzt hier, da hinten, wir sind uns treu. Abenduni, Plackerei, juristischer Abschluss, Universitätskarriere, Professuren, zuletzt in Harvard.
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Der Fokus auf der Biografie ist gut berechnet. Erstens will Warren zeigen, wie hart sie ihren Platz in der Gesellschaft erkämpfen musste. Präsident Trump verhöhnt sie als “Pocahontas”, weil sie sich als teilweise indianischer Herkunft bezeichnet hat, was ihr den Zugang zu den Eliteuniversitäten erleichtert habe (ein DNA-Test zeigte, dass Warrens Indianerblut allenfalls ein Tröpflein ist, aber sie macht geltend, die indianischen Vorfahren gehörten zur Familiensaga). Und sie kann ihre politischen Pläne mit biographischen Erfahrungen unterlegen. Denn ihre Pläne kommen von links: öffentliches Gesundheitssystem mit Krankenkasse für alle, Erlass aller Schulden aus den horrend teuren Universitätsstudien, Programme gegen die Klimaerwärmung, für das Bildungswesen – alles finanziert durch höhere Steuern auf grossen Einkommen und hohen Vermögen. Aber wo ist “gross” und “hoch”? Die Rechte schreit Sozialismus, und die gemässigten Demokraten runzeln die Stirn: Unfinanzierbar, Belastung der Mittelklasse, nicht wählbar. Warren hat Milch hinuntergegeben. Die Mittelklasse soll verschont werden, Ehrenwort. Soeben hat sie die offizielle Unterstützung der New York Times erhalten – als die gangbare Alternative zu Sanders, dem roten Gottseibeiuns.
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Elizabeth Warren spricht eindringlich, jedes Wort eine Mahnung, jeder Satz eine Andeutung von Grossem und Wichtigem. Die Botschaft lautet: Ich komme von unten, ich bin eine von Euch. “yoohoo”. Aber Stimme ist ein bisschen kleiner als die Botschaft, es krächzt. Umso mehr fuchteln die Arme, die Frau scheint vor Energie zu bersten, es zappelt vor dem Mikrophon, zuweilen kann sie sich nicht halten und muss ein paar Schritte tun. Elizabeth Warren agiert genauso wie die Schauspielerin Kate McKinnon, die sie in der Satireshow Saturday Night Live nachmacht. Überspannt, aufgedreht, bei allem und jedem auf dem letzten Zacken. Realität und Parodie sind nicht zu unterscheiden.
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“Ich habe immer die Geldthemen unterrichtet, hatte immer die arbeitenden Familien im Sinn”, sagt Warren. Dann geht es rund. “Für wen arbeitet unsere Regierung? Grossartig für die mit dem Geld, aber nicht für alle anderen, das ist Korruption, das muss man so sagen. Das Geld von Wall Street beeinflusst jeden Entscheid in Washington”. Jetzt kommt der Kern: “Wenn wir das ändern wollen, können wir nicht nur an den Rändern herumfummeln, da brauchen wir einen grossen Plan – a big structural plan. Ich habe den grössten Antikorruptionsplan seit Watergate. Are you ready?”
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Die 300 Leute im Auditorium lassen Applaus regnen, satt. Die Menge ist gut gemischt, gendermässig halb und halb, etwas mehr Alte als Junge, mehrere Kinder mit Vätern am Boden. Elizabeth Warren wird gut aufgenommen. Aber die Zustimmung der Menge hinkt hinter dem zelebrierten Enthusiasmus zurück.
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Frage/Antwort-Segment zum Schluss, ausgeloste Fragen. Was tut Präsidentin Warren für die Landwirtschaft? “Keine dummen Handelskriege”, kommt die Antwort. Und nahezu beiläufig die Unterstützung für Trumps neue Zusätze zum nordamerikanischen Freihandelsabkommen, die Rivale Sanders ablehnt. Eine Lehrerin – “yoohoo eine Lehrerin” – will wissen, was Warren für das Schulwesen tun will? Die Antwort ist die Reichtumssteuer: Die ersten 50 Millionen werden nicht angerührt, aber danach schlägt der Fiskus 2 Prozent auf jeden Dollar, das gibt Milliarden. Für die Schulen. Auch fürs Klima. Und für das universale staatliche Gesundheitswesen, Medicare for all. “Wir brauchen grosse Ideen”, sagt Warren. “Wenn business as usual alles ist, was wir anzubieten haben, verlieren wir die Wahl”.
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Zum Schluss die Schlange für die selfies. Ein grosser Mann, graumeliert, spricht erregt auf Warren ein. Es geht um das Erziehungswesen, Warrens Plan für Gratisuniversitäten und den Erlass bestehender College-Schulden. We are screwed, sagt der Mann. Das Fernsehen, das näher dran ist, hat den Austausch aufgezeichnet. Der Mann sagte Warren, er habe seine College-Kosten selbst bezahlt, vom Mund abgespart, zwei Jobs gearbeitet, während sein Kollege es schlittern liess und nun von Warrens Schuldenerlass profitiere. “Erhalte ich mein Geld zurück?”, fragte der Mann, und Warren antwortete: “natürlich nicht”. Screwed, in der Tat.
Später am Abend zeigt C-SPAN die Aufzeichnung der Veranstaltung. Auf dem Bildschirm kommt Elizabeth Warren weniger schrill herüber. Nicht überdreht, sondern nur energisch. Die Kamera liebt sie mehr als das Auge.
Pete Buttigieg – Dienstag, 21. Januar, Lake Cooper Foundation, Keokuk.
Der Ort: Altes Versammlungslokal an einer etwas zerfledderten Main Street. Keokuk: Kleinstadt am Mississippi River, 10 000 Einwohner. Damm mit Schleuse und Wasserkraftwerk. Mittleres Haushaltseinkommen 37000 Dollar. Mittlerer Hauspreis 69000 Dollar. Wahl 2016: Deutlich für Trump (69 Prozent), Wahl 2012 für Obama (56,7 Prozent). Lokalgrössen: Howard Hughes (Werkzeugindustrie, Vater des gleichnamigen Flugpioniers); Hollywood-Klatschjournalistin Elsa Maxwell.
Peter Paul Montgomgery “Pete” Buttigieg: Man sagt «Buutitschetsch».38 Jahre alt. Absolvent der Eliteuniversitäten Harvard und Oxford, Konsulent bei McKinsey, 2009 bis 2017 Nachrichtenoffizier bei der US Navy (Leutnant), 2014 sieben Monate im Afghanistan-Einsatz. 2012 bis 2020 Bürgermeister von South Bend/Indiana (100 000 Einwohner, Sitz der Notre Dame Universität). Der jüngste Kandidat, einziger der Generation unter 40. National unerfahren.
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Es ist kalt, die Helfer lassen einen früher hinein, man legt die Mäntel auf die Dielen und redet miteinander. Sue Olson, als precinct captain die lokale Einpeitscherin für den Kandidaten, bearbeitet eine unentschlossene Dame. Sie soll sich per Unterschrift verpflichten, am caucus teilzunehmen. Die Dame weicht aus: “Ich werde nicht hier sein” Sue war früher Lehrerin, jetzt irgendein business, sie arbeitete in Finnland, dann in Chicago, wo sie schlechte Erfahrungen gemacht hat: “Der Rektor fragte mich, ob ich den Schülern beibringen könne, wie sie sich bei einem bewaffneten Überfall ducken müssen – gehts noch?”. Im Raum steht ein uniformierter Polizist. Warum? “Sicherheit, wir haben Schiessereien hier”, sagt Sue. “Wenn Sie mich fragen, das sind welche, die kommen aus Chicago. Wir haben das beste welfare system im Mittleren Westen, die kommen, um zu kassieren”. Es sind nicht nur Trumpisten, die die Dinge so sehen.
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Aus dem Lautsprecher die gleiche Musik wie bei Elizabeth Warren. Sixties und seventies. I heard it through the grapevine. Signed, sealed, delivered. Ronan, der Kampagnenhelfer, tritt auf, er ist aus Manhattan gekommen. “Wir bringen neue Leute in den Prozess”, ruft er ins Publikum. “Es gibt jeden Tag Caucus-Seminare, gleich im Anschluss machen wir eins. Lust?”. Es drängt sich niemand vor. Wer arbeitet, hat am Dienstagvormittag etwas anderes zu tun, es sind vielleicht hundert Personen anwesend. Kim, meine junge Nachbarin, ist Mittelschullehrerin und hat gerade frei. Sie will wissen, was der Kandidat über die unteren Schuljahre denkt.
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Pete Buttigieg betritt den Raum ohne grössere Fanfare und stellt sich in die Mitte. Nicht gerade der klassische amerikanische Militärveteran. Keine berstenden Oberschenkel, kein Bürstenschnitt, mit grosser Wahrscheinlichkeit kein Sixpack unter dem weissen Hemd. “Mayor Pete” sieht eher aus wie ein Bankangestellter, der für einmal die Krawatte weglegt. Saturday Night Life karikiert ihn als unerfahrenen grossen Buben: “Ich bin kein Millionär, sondern lebe von meinem Gehalt als Bürgermeister”, sagt er im Sketch. “Plus das Taschengeld von meinen Eltern, und das kriege ich nur, wenn ich meine Ämtchen besorge”. Seit er in den Umfragen steigt, stellen seine Gegner ihn als Wolf im Schafspelz dar. Er habe als McKinsey-Berater an Sanierungsmassnahmen mitgewirkt, die hunderten den Job kosteten. Er nehme Geld von reichen Spendern. Er sei der Kandidat der Grosskonzerne und von Wall Street.
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Buttigieg macht die Vorstellung kurz, vor allem muss er kein Gespür für die sozialen Minderheiten in die Biografie ziselieren. Er ist schwul. Man weiss es, seit er 2015 einen Mann heiratete und trotzdem wiedergewählt wurde. Davon spricht Buttigieg nicht. Er kommt ohne Umschweife zur Sache: “Heute in einem Jahr ist der erste Tag, an dem Trump nicht mehr Präsident ist”, sagt er. “Was dann?” Der Neue muss grosse Fragen anpacken: Das Klima (“nationaler Plan”), die grassierende Waffengewalt, “eine Wirtschaft, in welcher der Dow Jones steigt, aber nicht für Bürger wie wir”. Deshalb “mehr Steuergerechtigkeit”, die staatliche Alterskrankenkasse Medicare “für alle, die es wollen”. Das ist weniger als das Obligatorium der Linken, aber mehr als es heute gibt “Wir müssen einen Präsidenten wählen, der führt”.
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Und einen, der gegen Trump gewinnen kann. Buttigieg preist sich als Mittelwestler an, “einen Steinwurf von den Maisfeldern weg”. Einer, der Trump seine Handelskriege als “Betrug an den Farmern” um die Ohren schlagen kann. Ein Kriegsveteran, der “nachfragt, was genau es mit jenem Knochensporn am Fuss auf sich hat, der ihn am Militärdienst hinderte”. Pete Buttigieg spricht präzise, fehlerfrei, kontrolliert. Ein politisches Präzisionsgerät, bis in die Bewegungen hinein. Den Arm vorgestreckt: Achtung, jetzt wird es genau. Die Arme ausgebreitet: Aufgepasst, der Punkt ist wichtig. Den Kopf schräg nach unten, den rechten Arm nach oben: die demütige Siegerpose.
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Fragen? Ein Mann sagt, der staatlich vorgeschriebene Gewässerschutz koste eine arme Gemeinde wie Keokuk Millionen, die sie nicht bezahlen könne. Bürgermeister Pete kennt das Problem genau und hat die Lösung: Ein Infrastrukturprogramm des Bundes. Dasselbe bei den teuren Ambulanzdiensten, welche die Gemeinden überfordern: “Die Lösungen sollen nicht alle von Washington kommen, aber die Gelder müssen es”. Nachbarin Kim stellt ihre Frage nach der Finanzierung der Grund- und Mittelschule. “Ich bin auch mit einem Mittelschullehrer verheiratet”, antwortet Buttigieg. “Wenn wir es mit dem College richten wollen, müssen wir es auch mit den ersten zwölf Schuljahren richtig machen. Es braucht die Unterstützung der Bundesregierung”. Kim ist beeindruckt.
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Auf der Fahrt zurück nach Des Moines stehen handgeschriebene Plakate auf den fahlen weissen Feldern: “Hillary in Prison”. Und: “Trump”.
Joe Biden – Dienstag, 21 Januar, 1500 Uhr, Community College Student Research Center, Fort Dodge.
Der Ort: Vorhalle in moderner, sehr gut ausgestatteter Bibliotheksanlage für die lokale staatliche Hochschule. Fort Dodge: 25000 Einwohner. Wirtschaft: Gipsplatten, Futtermittel, Veterinärmedikamente, Transportwesen. Mittleres Haushaltseinkommen 41000 Dollar. Mittlerer Hauspreis: 88000 Dollar. Wahl 2016: Trump 57,7 Prozent, demokratische Vorwahl Clinton 54,2 Prozent. Wahl 2012: Obama 52.2 Prozent. Lokalgrösse: Bill Tilghman, Wildwest-Marshal und Revolverheld.
Joseph Robinette “Joe” Biden Jr. 79 Jahre. US-Senator für den Bundesstaat Delaware während 36 Jahren. 2009-2017 US-Vizepräsident unter Barack Obama. Nach 1988 und 2008 zum dritten Mal Kandidat für die Nomination der demokratischen Partei. Geboren in der Industriestadt Scranton/Pennsylvania. Studium der Rechte, dann Berufspolitiker. Gilt als frontrunner der Demokraten mit grossem Rückhalt in der nichtweissen Wählerschaft, vor allem bei den schwarzen Frauen. Wegen einer Verwicklung seines Sohns Hunter Biden in Geschäfte in der Ukraine im Visier der Rechten. Präsident Trump verspottet ihn als sleepy Joe – der Schlafsepp. In den TV-Debatten sieht er alt aus. Wächsern, unbeholfen. Ein alter Mann, der gelegentlich den Faden verliert und Mühe zu bekunden scheint, zwei Stünden stehend durchzuhalten. Ein Mann der unbeholfenen Gesten (der Klassiker: Er leckte seiner Frau während ihren Einführungsworten bei einem Kampagnenauftritt die Hand) und nicht ganz verständliche Witze.
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Was sich in der Bibliothekshalle vorfindet, entspricht dem Etikett. Das Publikum, das da in den Stühlen hockt, ist alt, lethargisch, wie die Teilnehmer an einer Butterfahrt vor der Verteilung der Bhaltistüten. Man ist in einem College, aber es sind kaum Studenten da. Kein Anpeitscher, sondern eine anonyme Stimme: the program will begin shortly. Ein dicklicher Jüngling lädt zum pledge of allegiance ein, dem Fahneneid, den Amerikaner in der Schule vorsagen müssen. Es murmelt. One nation, under god. Der junge Mann fleht: Bitte, bitte, unterschreibt, dass Ihr zum caucus geht. Die Menge hockt und schweigt. Low energy würde Trump sagen.
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Ans Mikrophon tritt Frau Vilsack, die Frau des Gouverneurs: “Wir kennen Joe seit 33 Jahren, er ist solid wie ein Fels. Erfahren”. Frau Vilsack will Ruhe. “Wenn ich am Morgen erwache, will ich meiner Arbeit nachgehen und sicher sein, dass der Präsident der USA stabile Beziehungen pflegt, zum Ausland und zum Kongress”. Frau Vilsacks beste Freundin ist Republikanerin und denkt genau gleich. “Solche Leute müssen wir ansprechen. Wir wollen keinen Narzissten im Weissen Haus”. Höflicher Applaus.
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Dann kommt Biden. Er schreitet ohne Eile in die Runde, blauer Anzug, weisses Hemd, jeder Zoll ein Monsieur. Joe Biden bleckt unglaublich weisse Zähne und sagt “Folks”. Leute, nun hört mal zu, ganz im Ernst. Wo Frau Warren “yoohoo” ruft, sagt Herr Biden “folks”. “Folks, eine Sache ist entscheidend hier, zur Wahl steht der Charakter unseres Landes”. Entweder weiter mit der schieren Machtpolitik, dann kommt es unweigerlich zu Machtmissbrauch. Oder Amerika als Land, das “durch die Macht seines Beispiels führt”. Das sehen viele so. “Deshalb, folks, müssen wir die Menschen zusammenführen. Vier Jahre Trump können wir aushalten, aber nach acht Jahren haben wir eine fundamentale Veränderung in allem, was wir sind. Das Publikum sitzt da und schweigt. In einer Ecke machen eine Handvoll Junge ein Gekreisch. Die Kameras.
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Joe Biden ist nicht laut, er macht keine eigenartigen Gesten, er verheddert sich nicht. Er ist konzentriert, ernsthaft, bei der Sache. Hier ist nicht der Brabbler aus den Fernsehschnipseln zu sehen, sondern ein fitter Siebziger, von hinten eher jünger. Man liest, dass er regelmässig Sport treibt.
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Biden predigt die Kraft des vernünftigen Arguments. Er erinnert an Obamacare, das Krankenkassengesetz der Demokraten, das die Exekutivgewalt von Präsident Trump und die republikanisch dominierten Gerichte ausgeweidet haben. “Es wurde bekämpft, aber als wir den Bürgern erklärten, was Obamacare ist, konnten sie es nicht abschaffen”. So könne es auch mit den weiteren Punkten auf der demokratischen Tagesordnung gehen: Bessere Gesundheitsversorgung, Schulen, ein Einwanderungsgesetz, eine andere Wirtschaftspolitik: “Die Mittelklasse geht unter, diese neuen Jobs zahlen nichts, 40 Prozent machen keine 11 Dollar die Stunde”. Auch die Klimaerwärmung, “die wichtigste Frage von allen”. Alles im Rahmen des Vernünftigen. Keine gigantischen Steuererhöhungen, aber Fairness im Steuergesetz: Zurück zur Minimalsteuer für Konzerne, und “der Chef soll nicht weniger zahlen als die Sekretärin”. Keine durchgängigen Waffenverbote: “Ich besitze auch Gewehre, aber gewisse Leute sollten keine haben”. Im Fragesegment geht Biden ins Detail, spricht über Steuerabzüge und Steuersatzerhöhungen und das Übel des wirtschaftlichen Kurzfristdenkens an der Börse, das selbst den Unternehmensführern Angst mache, weil weniger Mittel für langfristige Investitionen zur Verfügung stünden: “Folks, das ist keine sozialistische Verrücktheit”.
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Ein Fragesteller gibt das Stichwort “militärische Kriegführung” und hier kommt Biden in Fahrt. Er warnt vor einem Krieg mit Iran, verteidigt das von der Trump-Regierung gekündigte Atomabkommen, geisselt die “America First”-Politik, die Amerika von seinen Verbündeten isoliere: “Was haben wir jetzt? China, Russland und Iran patrouillieren im Persischen Golf, unsere Alliierten sind nicht mehr mit uns”. Am ersten Arbeitstag als Präsident werde er die Nato-Verbündeten anrufen und ihnen sagen: “Wir sind zurück”. Und anders als zuvor. Biden erinnert daran, dass er als Vizepräsident gegen die Aufstockung der US-Truppen in Afghanistan eingetreten sei: “das Land steckt im 14. Jahrhundert, es ist unmöglich, dort eine Nation zu schaffen, und wir sind nicht der Weltpolizist”).
Dass er 2002 im Senat für den Irak-Krieg gestimmt hatte, sagte Joe Biden den Wählern in Fort Dodge nicht.
Erstes Fazit
Hat man hier den zukünftigen Präsidenten der USA gesehen, die Präsidentin? Oder die Person, die im Herbst gegen Trump antreten wird? Vielleicht. Aus den zahllosen Umfragen destilliert www.realclearpolitics.com heraus, dass Präsident Trump weiterhin von einer Mehrheit der Bevölkerung missbilligt wird. Weder das Impeachment-Verfahren in Washington noch dieTeilabkommen im Handelsstreit mit Mexiko und China haben sich gross ausgewirkt. Weiter zeigen die Umfragen, dass Joe Biden im demokratischen Feld vorne liegt, während Elizabeth Warren sinkt. Nur noch Platz drei. Aber die Umfragen sind labil, die grossen Entscheide noch nicht getroffen. In Iowa scheinen die meisten GesprächspartnerInnen ihre Meinung noch nicht endgültig gemacht zu haben.
Pete Buttigieg? Er ist ein Generationenkandidat, der Ausdruck eines Unbehagens, dass nur Grosseltern zur Wahl stehen. Er signalisiert Neuanfang, unkonventionell (schwul und gottesgläubig). Das ist eine alte Nische, und die Jugend läuft nicht in seiner Spur. Sie feels the Bern.
Joe Biden? Er sah eindeutig viel besser aus als was man von ihm liest. Solider. Und er hat die überwältigende Unterstützung der schwarzen Wählerschaft, die in den Staaten des Südens den Ausschlag gibt. Aber ist Biden verlässlich? Wieviel ist einem zuzutrauen, der die fatale crime bill der Clinton-Administration durch den Kongress schleuste und für den Irak-Krieg stimmte? Und wieviel wiegt die politische Botschaft, nach den vier Trump-Jahren zu einer Art Normalität zurückzukehren? Obama predigte bipartisanship, die amerikanische Version der Konkordanz, und scheiterte am eisernen Widerstand der Rechten. Schliesslich ist nicht ganz klar, wieviel der eigenartigen Ukraine-Geschäfte von Sohn Hunter auf den Kandidaten Biden abfärben wird. Nicht nur Trumpisten fragen, wie jener Hunter, im Ostgeschäft ein unbeschriebenes Blatt, dazu gekommen ist, sich mit einem ukrainischen Konglomerat ins Bett zu legen.
Solcherlei belastet Elizabeth Warren nicht. Sie wird im rechtsextremen Dauer-Talk noch unbarmherziger als “Pocahontas” verspottet werden, der Kern des Anti-Warren-Widerstands ist politisch: Warren ist links, wenn sie ihre Programme durchsetzen kann, wird der Würgegriff der Grosskonzerne und der Börse auf die amerikanische Politik gelockert. Das passt auch vielen demokratischen Parteigängern nicht. Der Widerstand gegen eine Präsidentin Warren wird alles in den Schatten stellen, was gegen einen Obama ins Feld geführt wurde. Ist sie stark genug, um durchzuhalten? Als Zuschauer der Veranstaltung in Grimes bleibt die Frage im Hinterkopf kleben. So viel Daueraufgekratztheit ist nicht natürlich. Wie viel Glut bleibt, wenn das zur Schau gestellte Feuer zusammenfällt? Es wird eine Menge weiblichen Druckes bedürfen, um Elizabeth Warren zur Nomination zu verhelfen.
Erschienen in www.watson.ch