Tim Guldimann (69) war Schweizerischer Botschafter in Berlin, sass fur die SP im Nationalrat und lebt in Berlin. Er findet es gut, dass der Staat neue Wertschätzung erfährt, und er ist beunruhigt, dass die globale Schuldenlast ins Unermessliche steigt.

 

Guten Tag Tim, was läuft in Berlin?
Nicht so viel wie üblich. Die Restriktionen werden gelockert, aber die Leute bleiben trotzdem zurückhaltend. Die Beizen sind wieder offen, aber man geht lieber auf den Balkon als in die Gaststube. Das Kulturleben ist weggebrochen. Vor kurzem war ich seit langem wieder in einer Ausstellung, die Hannah-Arendt-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum. Du musst Dich im Internet anmelden und erhältst ein Zeitfenster.

Warst Du immer in Deutschland?
Ja. Am Sonntag fahre ich mit dem Zug nach Genf – das erste Mal seit dem Ausbruch der Krise wieder in die Schweiz.

Trägst Du da eine Maske?
Man muss, im öffentlichen Verkehr ist es obligatorisch. Auch bei Einkaufen. In den Bäckereien hier in Berlin heisst es “bitte Maske anziehen”.

Hier in der Schweiz bin ich einer der wenigen, die Maske tragen, sowohl im Zug wie beim Einkaufen.
Die Schweiz hat halt fast keine Fälle mehr.

Sind die Schulen offen?
Langsam werden sie geöffnet, in gewissen Fällen nur sehr teilweise. Für Eltern, die Kinder in der Schule haben, ist es sehr mühsam, die Kinderbetreuung klappt nicht so gut, wie sie es sollte.

Sind Eure Kinder betroffen?
Die jüngere Tochter Marina ja. Sie hat am Samstag Abiturfeier. Wenn das Wetter gut ist, findet sie draussen statt und die Eltern dürfen dabei sein. Regnet es, gehen sie in eine Kirche. Ohne Eltern.

Du warst im Nationalrat und kennst die Schweizer Politik, und Du lebst in Berlin. Wie schätzt Du die Leistungen der Regierungen ein? Haben sie richtig reagiert?
Sie haben es gut gemacht, in Deutschland und in der Schweiz. Natürlich gibt es jetzt ein paar, die im Nachhinein Haare in der Suppe finden. Es wird nun geschrieben, der Bundesrat habe zu Beginn die Ergreifung von Massnahmen um drei Tage verschlampt. Na ja. Man kann immer sagen, dies oder jenes hätte vorausgesehen werden können – man kann auch einen Meteoriteneinschlag voraussehen. Aber in einer solchen Krise ist nicht alles genau absehbar. Wir haben seit der Spanischen Grippe nichts Vergleichbares mehr erlebt.

Ich bin erstaunt, wie gut die Leute die bundesrätlichen Massnahmen befolgt haben. In der Schweiz waren es ja vor allem “Empfehlungen” und keine Mandate.
Daniel Kehlmann hat gesagt, dass man in der Krise obrigkeitsgläubig und gehorsam wird. Die Leute haben gemerkt, dass es in der Krise den Staat braucht – sowohl zur Bekämpfung der Pandemie wie auch zur Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen. Das schafft eine gewaltige Erwartung. Macht der Staat es gut, stehen die Regierenden gut da. In Deutschland steigen die Umfragewerte von Merkel und auch von Vizekanzler Scholz. Macht er es schlecht, ist es umgekehrt. Die Umfragewerte von Trump, Johnson oder Bolsonaro sinken. Sie werden Mühe haben. Ich finde es nur gut, wenn die Menschen wieder spüren, dass der Staat wichtig ist.

Denkst Du, dass sich dies in Wahlergebnissen niederschlägt?
Ich habe eine gewisse Hoffnung. Jedenfalls haben diejenigen einen Rückschlag erlitten, die den Staat bekämpfen – die Neoliberalen, die den Staatsverzicht predigen und die AfD, die die Obrigkeitsschelte zum Programm macht.

Ich kenne viele Leute, welche die Pandemie herunterspielen und die Massnahmen belächeln oder darüber schimpfen. Aber kaum jemanden, der den Bundesrat und die Behörden massiv kritisiert. Ist das in Deinem Umkreis auch so?
Es gab auch in Berlin Demonstrationen gegen die Massnahmen, aber sie wurden überbewertet. In meinem Umfeld habe ich nie gehört, es sei alles Kabis, was die Behörden unternahmen. Die Massnahmen wurden als etwas Unangenehmes, aber Notwendiges akzeptiert. Zurzeit spüre ich eher Zurückhaltung gegenüber den Öffnungen.

Wie hast Du die Corona-Monate persönlich erlebt?
Es hat mir gut getan. Ich bin ein Krisengewinnler. Als Rentner steht man ja immer ein wenig unter dem Eindruck, viel vom pulsierenden Leben zu verpassen. In den Corona-Wochen verpasste ich nichts mehr. Alle anderen waren ja ebenfalls entschleunigt, alle zuhause. Ich empfand das ausgesprochen positiv. Es schadet nicht, wenn die Gesellschaft sich entschleunigt. Man hat mehr Zeit, Bücher zu lesen, mehr Zeit für die Familie. Unsere Beziehungen zu den Töchtern wurden intensiver. Wir haben das Privileg, immer wieder für Tage aufs Land ziehen zu können und waren mit vier anderen Familien in Brandenburg. Die neun Kinder, die da beisammen waren, haben tagelang einen Pferdehof restauriert. Das schuf einen neuen Zusammenhalt.

Seid Ihr alle gesund?
Ja. Voretwa anderthalb Monaten hatten wir einen Schrecken. Meine Frau hatte Husten und hohes Fieber, und nach zwei Tagen riefen wir den Arzt an. Seine Quatsche verwies uns an ein Spital und an eine speziell eingerichtete Corona-Nummer. Beide waren innerhalb von zehn Minuten persönlich erreichbar. Der Corona-Dienst schickte noch am gleichen Abend eine Ärztin vorbei, in Plastik verpackt, um eine Testprobe zu nehmen. Ich wollte den Test auch, aber die Ärztin lehnte ab, weil ich keine Symptome hatte.

Deutsche Gründlichkeit. Das Testresultat war ok?
Die Probe wurde am Donnerstagabend genommen, und am Montagmittag lag das Resultat vor: Negativ. Auch diese Erfahrung zeigte, dass der Staat in der Krise funktionierte.

Du sagst, die Coronakrise lehre die Bürger, den Staat zu schätzen. Hat auch der Staat etwas gelernt?
Die Beziehung zwischen Politik und Wissenschaft hat sich geändert. Nimm das Beispiel der Klimapolitik. Da sagt die Wissenschaft seit vierzig Jahren, dass wir unsere Lebensgrundlagen zerstören und unser Verhalten ändern müssten. Die Politik beginnt aber nur sehr langsam auf all diese Warnungen zu reagieren. In der Coronakrise ist es anders. Die Wissenschafter – zum Beispiel Drosten in Deutschland – sagen der Politik, was geht und was nicht geht, und die Politik hört genau hin und befolgt den Rat. Ich sehe eine enorme Wissenschaftsgläubigkeit, die ich toll finde. Das ist doch der Idealfall der Aufklärung: Staatliche Massnahmen, gegründet auf rationalen, nachvollziehbaren, überprüfbaren Fakten.

Nicht immer. In den sechziger Jahren hat die Wissenschaft uns erklärt, die Schweiz brauche zehn Atomkraftwerke, und wir kämpften nicht nur gegen die Atomindustrie, sondern auch gegen die Wissenschaft, die dahinter stand. In den achtziger Jahren erklärte die Wissenschaft uns, Gentechnologie sei für den Fortbestand zum Beispiel des Stadtstaats Basel unabdingbar, und wir kämpften nicht nur gegen die Pharmaindustrie, sondern auch gegen die Wissenschaft, die dahinter stand.

Ich bin nicht sicher, ob die Atom- oder die Gentech-Frage so auf die Corona-Situation übertragen werden können. Dabei gibt es auch in der Risikoabschätzung von Atomkraftwerken genauso wissenschaftlich erhärtete Kenntnisse. Ebenso ich bin sicher, dass die Impfgegner nach Corona ein Problem haben. Der Entscheid, sich impfen zu lassen oder nicht, ist ja immer auch ein Entscheid über andere, nämlich die potenziell Angesteckten. Da braucht es den Staat als Schiedsrichter.

Ich stelle nur fest, dass man sich in der Anti-AKW- oder Anti-Gentech-Bewegung unter Wissenschaftsskeptikern befand, während die Wissenschaftsskeptiker in der Bewegung der Lockdown-Gegner zu der Sorte gehören, die man lieber meidet.

Es ist eine zweischneidige Sache, wie gesagt, AKW- und Gentech-Kritiker können sich auf wissenschaftliche Erkenntnisse abstützen. Problematisch ist der unkritische Fortschrittsglaube der Befürworter.

Ein Thema haben wir noch nicht berührt: Europa. Du bist ein Verteidiger der Europäischen Union und warst als Politiker einer der wenigen im Bundeshaus, die klipp und klar für die europäische Integration inklusive Schweiz eintraten. Wie steht die EU in der Coronakrise da?
Gesundheitspolitik liegt in der Kompetenz der Nationalstaaten. Aber EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen hat eine schwache Figur abgegeben. Es hätte eine klare Ansage gebraucht: Brüssel koordiniert europäisch. In der Frühphase war es der italienische Innenminister, der eine solche Koordination initiierte, und nicht Brüssel. Dann ist Brüssel hinterhergehinkt. Positiv ist die neue, gemeinschaftliche Art, mit Wirtschaftshilfen umzugehen. Der Merkel-Macron-Plan wäre vor Corona nicht möglich gewesen. Hier entsteht eine europäische Solidarität bei der Übernahme von Finanzlasten, egal ob es “Eurobonds” heisst oder nicht. Das lässt Italiener und Spanier vielleicht etwas mehr an Europa glauben.

Unter dem Strich ziehst Du also eine eher positive Corona-Bilanz?
Nein. Die massive Verschuldung ist erschreckend. Die Pandemie werden wir medizinisch in Griff kriegen, und die Wirtschaft wird in ein, zwei Jahren wieder laufen. Aber die Krise wird mit einer grossen Geldschwemme in die Zukunft gespült. Ob das geht, weiss ich nicht. Die Verschuldung, die bereits vorher katastrophal war, wird nun nochmals aufgestockt und vor sich her geschoben. Die globale Verschuldung wird auf 250 000 Milliarden Dollar beziffert –die Zahl 25 und 13 Nullen dahinter. Das funktioniert nur, wenn Vertrauen da ist, also wenn alle daran glauben, dass es funktioniert. Bricht dieses Vertrauen aller Gläubiger dieser Welt in ihre Schuldner für die ausgeliehenen 250 000 Milliarden weg, kann eine Kettenreaktion folgen, von der niemand weiss, was sie bewirkt. Das beunruhigt mich am meisten.