Urs Zurlinden (69) ist Journalist (FACTS), Autor (“Der Ogi”) und Stadtrat in Langenthal, und er war mein Banknachbar im Griechischunterricht. Er ist im Umgang mit dem Corona-Risiko vorsichtiger als der Rest des Kantons.
Urs!
Johann Aeschlimann – was kann ich für Dich tun?
Ich brauche eine Stimme der Vernunft.
Du bist an der richtigen Adresse. Wo befindest Du Dich?
In New York. Wir hatten einen Todesfall in der Familie, und ich durfte in die USA einreisen. Jetzt muss ich rascher als geplant wieder in die Schweiz, auch wegen einer Familiensache. Ich lese allerlei Ungemütliches über die Lage in der Schweiz. Wie ist es?
Die Ansteckungen nehmen zu. Das ist im ganzen Land so.
Tragen die Leute Maske?
Praktisch niemand. Es ist hier selten, jemanden mit einer Maske zu sehen.
Auch im Coop oder im Migros nicht?
Auch dort nicht. Man sieht jetzt zwar mehr und mehr Maskenträger beim Einkaufen, aber sie sind weiterhin in der Minderheit.
Wenn ich die Quarantäne beendet habe, gehe ich sicher mit Maske einkaufen. Werde ich belächelt?
Ja, damit musst Du rechnen. Allerdings nimmt die Zahl der Maskenträger zu, und eine staatlich verordnete Maskenpflicht wird immer intensiver diskutiert.
Das ist hier in Amerika ganz anders. Wir sind mit dem Auto von Kansas nach New York gefahren, und es gab keinen Laden und auch kein Hotel, wo die Maske nicht vorgeschrieben gewesen wäre. Hier in New York City sind Menschen ohne Maske auf der Strasse eine kleine Minderheit. Heute Morgen ging ich am Hudson joggen, und selbst die Radfahrer und Jogger tragen Maske.
In der Schweiz ist die Maskenpflicht im Ermessen der Kantone. Der Kanton Bern hat niedrige Fallzahlen, und der Regierungsrat hat bisher von einem Obligatorium abgesehen. Der Bundesrat empfiehlt, Maske zu tragen, nebst dem Händewaschen und der Distanz zu anderen Personen. Aber die Leute halten sich nicht daran.
Was ist los? Mitte Juni, als ich in die USA abreiste, waren die täglichen Fallzahlen einstellig oder im niedrigen zweistelligen Bereich.
Die Schweizer sind nachlässig geworden, als der Bundesrat die Massnahmen lockerte. Man ist sich des Risikos nicht mehr bewusst. Ich auch.
Vielleicht liegt es daran, dass Ihr nie einen richtigen Schock erlebt habt. Hier in New York starben die Menschen wie die Fliegen. Auch in unserem Gebäude. Meine Frau kennt mehrere, die an COVID gestorben sind. Die Todesanzeigen werden jeweils am Eingang ausgestellt. Heute Morgen sah ich zwei – einer mit Jahrgang 1952, einer mit Jahrgang 1959.
Das stimmt. Hier in Langenthal hatten wir sechs Fälle im Spital. Ich weiss von zwei Todesfällen. Man wird nachlässig und vergisst. Heute waren wir an einem Reiterturnier. Man sass neben wildfremden Leuten, nahe beieinander – plötzlich war mir unwohl. Aber der soziale Druck ist halt auch da.
Die Restaurants sind offen. Gehst Du hin?
Wir gehen sowieso nicht so oft ins Restaurant. Aber ich würde gehen, ja.
Auch zum Essen im Innenraum – hier in New York City ist das weiterhin verboten.
Ja, auf jeden Fall. In Restaurants, die ich kenne.
Bist Du Zug gefahren? Wie ist es in den Zügen? Ich werde vom Flugplatz in Kloten mit dem Zug nach Hause reisen müssen.
Nein, ich fuhr nie. Aber ich höre, dass die Züge nicht so voll sind. Im öffentlichen Verkehr ist Maskenpflicht.
Ich trage auf alle Fälle Maske. Was mir mehr Kummer macht, sind die zehn Tage Quarantäne. Wie streng wird das gehandhabt? Ich werde schon daheim bleiben, aber ich kann mit dem Velo in den Wald zum Joggen, ohne dass ich jemanden sehe.
Quarantäne heisst Quarantäne. Du musst drinnen bleiben. Die Bussen sind sehr hoch.
Hmm. Wird das kontrolliert?
Wie könnten sie es kontrollieren? Du hast ja nicht auf der Stirn tätowiert, dass Du aus den USA eingereist bist.
Ich muss im Formular angeben, wo ich mich befinden werde. Und ich habe ein wenig Angst vor den selbsternannten Privatpolizisten. Die Leute im Dorf werden mich sehen und könnten mich anschwärzen.
Ich persönlich würde in den Wald gehen. Du fährst 5 Minuten mit dem Velo…
..eehm, nicht mehr. Es sind mittlerweile fast 10.
Du wirst halt auch alt. Du fährst 10 Minuten, drehst Deine Runde und rollst nach Hause. Das wird schon. Schau – Du musst Dir nicht allzu viele Sorgen machen. Du musst in ein Flugzeug steigen, wenn Du in die Schweiz willst, und Du musst Zug fahren, wenn Du nach Hause willst. Diese Sachen muss man fatalistisch nehmen. Die Chance, dass es Dich erwischt, ist ohnehin klein.
Ok – aber Du versprichst, dass wir uns nach der Quarantäne beim Schützenhäuslein treffen.
Ja, gut. Mein junger Hund kann jetzt etwas weiter laufen.
Beim Schiesstand?
Das ist zu weit. Für den Hund nicht, aber für mich.
Du kannst mit dem Velo fahren und den Hund an der Leine mitnehmen. Habe ich heute Morgen beim Hudson-Jog mehrfach gesehen.
Das gehört sich nicht. Der Hund will nicht hinaus, weil er neben einem Velo herrennen will, sondern weil er schnüffeln und erkunden will. Spazierengehen ist für einen Hund wie Zeitunglesen für uns.
Punkt für Dich. Die Hunde, die am Hudson den Herrschaften auf dem Velo nachbeineln mussten, machten keinen glücklichen Eindruck. Aber treffen werden wir uns, draussen und in gebührender Distanz, nicht?
Abgemacht.