Lions 1957. Reihe oben, Dritter von links: Uncle Gil, “Wild Hoss”.

In Canton/Ohio hat der Reisende die Auswahl zwischen zwei Sehenswürdigkeiten. Die eine ist die Pro Football Hall of Fame. Die andere das Monument für den anno 1901 ermordeten Präsidenten William McKinley. Ich habe beide gemacht, am Montag die Hall of Fame, am Dienstag Monument und Museum. Wann kommt einer schon nach Canton?

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In der Hall of Fame interessiert natürlich der Sport. Das längste Spiel. The greatest game ever, 1958, Colts gegen Giants. Super Bowl III, Joe Namath. Die Detroit Lions von 1957 mit Onkel Gil. Aber der Hafer sticht anderswo. Wie geht derTempel mit Black Lives Matter um? Stösst der Besucher auf Colin Kaepernick?

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Kaepernick, Quarterback der San Francisco 49ers, hatte im Jahr 2016 den Protest gegen die Polizeigewalt in den USA in die Football-Arenen getragen, indem er beim Abspielen der Nationalhymne die traditionelle Achtungsstellung (aufrecht, rechte Hand auf dem Herz) verweigerte und stattdessen mit gesenktem Kopf auf den Boden kniete. Er fand zahlreiche Mitstreiter. Kommentatoren und die Klubeigner drehten durch, die 49ers liessen Kaepernick fallen (angeblich aus sportlichen Gründen). Trotz exzellenten Fähigkeiten hat er in den Jahren seither nirgendwo eine neue Anstellung gefunden. Ein Boykott. Die Liga unternahm nichts. Nach der Tötung von George Floyd in Minneapolis im vergangenen Frühling bemüssigte sich der Commissioner der Liga zum Entschuldigungsvideo: “Wir verurteilen Rassismus und die systematische Unterdrückung der Schwarzen. Wir geben zu, dass wir einen Fehler begingen, indem wir den NFL-Spieler nicht früher zuhörten… We, the National Football league believe black lives matter”. Eine Volte vorwärts. Aber Kaepernick spielt auch diese Saison nicht.

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Die kurze Antwort auf unsere Frage lautet: Nein und nichts. Die Knie-Fälle, die Boykotte oder Colin Kaepernick finden in der Hall of Fame keinerlei Erwähnung. Nicht, dass die Diskriminierung der Schwarzen und ihre langsame Überwindung kein Thema wären. Die Geschichte wird schön nachgezeichnet: Präsenz Schwarzer Spieler im professionellen Football seit den zwanziger Jahren, Verschwinden in der Wirtschaftskrise der dreissiger,  “Reintegration” 1946 (die Rams erhielten das Coliseum-Stadion in Los Angeles nur, wenn sie mindestens einen schwarzen Spieler aufnahmen). Der Streik der AFL-Stars 1965 im rassistischen New Orleans, der die Verlegung des All Star Game erzwang. Mitgestreikt hatten damals auch die weissen Spieler, unter ihnen der spätere Vizepräsidentschaftskandidat Jack Kemp, ein Republikaner. 1968 der erste schwarze Quarterback. 1987 der erste schwarze Quarterback als Gewinner der Super Bowl – Doug Williams von den Washington Redskins. Er ist nicht in der Hall of Fame. 1997 schliesslich die Zerschlagung der Betondecke, die Schwarzen den Einstieg in die Trainerszene verwehrte. Ein diversity committee der Liga stellte die Regel auf, dass bei der Ausschreibung jedes Trainerpostens mindestens ein Schwarzer zu berücksichtigen sei. Dann hört das Ausstellungssegment road of equality auf. In diesem Jahrzehnt findet in der Hall of Fame keine schwarze Geschichte mehr statt.

Herr McKinley und Ehefrau Ida als Sprechpuppen im Museumssalon.

Natürlich zieht die McKinley-Gedenkausstellung im Stark County Museum (eine Trouvaille) auch keine Parallelen zur Gegenwart. Die Geschichte liegt zu lange zurück. McKinley, im ersten Jahr seiner zweiten Amtszeit als US-Präsident, wurde im September 1901 während eines Auftritts in Buffalo vom Anarchisten Leon Czolgosz in den Bauch geschossen und starb eine Woche später. Die McKinley Gallery ist die Nachbildung eines riesigen Wohnzimmers aus Beständen des Ermordeten. Schreibtische, Stühle, Bilder, ein Flügel. Mittendrin zwei Sprechpuppen, Herr McKinley und Ehefrau Ida. Auf Knopfdruck sprechen sie Dialoge, die nach dem Vergleich zu heute schreien.

  • Er: “Es ist Zeit, die Besucher zu empfangen, ich muss raus”
  • Sie: “Diese front porch-Kampagne ist wirklich gute politische Strategie. Die billigen Eisenbahnfahrten ermöglichen es Menschen in grosser Zahl, hierher zu reisen und unser bescheidenes Heim zu sehen”

McKinley führte seine Wahlkampagne 1896 von zuhause aus. Wie heuer Joe Biden, der wegen der Corona-Krise die meiste Zeit daheim in Wilmington/Delaware verbringt. Auf der Terrasse seines Hauses – dem front porch – empfing McKinley jeden Tag Scharen von Anhängern, die mit Sonderzügen nach Canton gebracht wurden. Sein schwarzer Schaukelstuhl ist ausgestellt.

  • Er: “Mein Gegner, William Jennings Bryant, hat 18000 Meilen zurückgelegt und zu 5 Millionen Menschen gesprochen. Was seine Familie wohl denken muss? Mein Wahlkampfmanager Mark Hanna lässt die Partei Millionen von Pamphleten verteilen.”

Bryant, der Demokrat, machte es wie Trump, der wie ein Besessener durch das Land kreuzt und grossen Menschenmengen seine Botschaften einhämmert. Er forderte billiges Geld (den Dollar aus Silber statt aus Gold), was den Bauern und dem Landvolk entgegenkam, nicht aber der Arbeiterschaft in den Städten. Umgekehrt zu heute, wo Biden die Städte und Trump das Land hinter sich hat. McKinley propagierte hohe Einfuhrzölle zum Schutz der amerikanischen Industrie. Wie Handelskrieger Trump heute.

 

  • Er: “Experten sagen ein knappes Rennen voraus. Wenn es Gottes Wille ist, werde ich der nächste Präsident”

 

Schon damals war der Allmächtige im Spiel. Aber eher auf der anderen Seite. Der Demokrat Bryan war ein fundamentalistischer Christ, der die Bibel wörtlich nahm. In den zwanziger Jahren engagierte er sich prominent gegen die Darwin’sche Evolutionstheorie. Heute stehen die Fundamentalisten geschlossen im Lager des Republikaners Trump.

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Verkehrte Welt.

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Noch eine Differenz: Der Republikaner McKinley war ein Bürgerkriegsheld, der es im Bürgerkrieg vom einfachen Soldaten zum Major gebracht hatte. Republikaner Donald Trump, Jahrgang 1946, hat keinen Tag Militärdienst geleistet. Er entzog sich dem Kriegsdienst in Vietnam, angeblich dank bone spurs (Knochenspornen) am Fuss. McKinley war sich der Grausamkeit des Krieges bewusst, aber er war ein glühender Imperialist, der der Kolonialmacht Spanien die letzten Zähne zog und der Weltmacht USA den Weg bereitete. Trump ist ein Militärprahlhans (“stärkste Armee der Welt”). Gleichzeitig verspricht er den Rückzug aus “dummen Kriegen in Ländern, von denen wir nicht einmal den Namen kennen”.