Lieber R,

Ich hatte nicht die Zeit, Dir so zu antworten, wie ich es sollte. Jetzt geht es. Ich war im Flieger (zwei Drittel leer – nie war Fliegen angenehmer) zurück in die Schweiz. Wir haben ein wenig den Bammel wegen der Pandemie. Die Schweiz ist viel, viel schlimmer dran als das vergleichsmässig sichere New York. Ich bin nicht überrascht. Als wir wegreisten, dritte Woche September, waren alle unbesorgt. Ich war der einzige, der im Coop eine Maske überzog.

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Für mich war das Jahr sehr befriedigend. Ich bin nach unserer Quarantäne in Florida mit einem Auto bis nach New York gefahren, dreieinhalb Wochen lang und habe versucht, die Wählerstimmung einzufangen. Ich ging nicht in Restaurants, Bars etc, sondern habe nur Essen eingekauft und in Motels übernachtet. Alle Kontakte waren mit Leuten, die mir verwandt sind oder die ich kenne – mehr Republikaner als Demokraten. Trotz diesen Einschränkungen war es grossartig, und ich habe auch an unsere Fahrt durch Georgia anno 1988 gedacht. Weisst Du noch, wie der Wahlspruch von Michael Dukakis lautete? “Good jobs for good wages”. Welch Eine Utopie in der heutigen Welt! Florida West und Ost , Georgia, South Carolina, North Carolina (Autounfall), Alexandria bei Anna, Edgewater und Mayo bei unserer alten Marina, Washington (mein Haus, das neu gestrichen und jetzt anderthalb Millionen wert ist), Virginia, Ohio, Wilmington/Delaware, New York. Du würdest die Gegend um Casa Rio Marina nicht mehr wiedererkennen. Alle alten Häuser sind abgerissen, die Strände aufgeschüttet, riesige Millionärsvillen aufgerichtet. Die Marina ist das einzige Anwesen, das noch funktioniert wie damals. Sie dürfen die Unterböden nicht mehr machen, weil die grünen Millionärsnachbarn ihnen das verboten haben. Es ist wahrscheinlich, wie wenn ein Handwerker in Spiegel bei Bern arbeiten müsste. Vorhölle.

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Ich bin vom Wahlausgang nicht überrascht. Mir war klar, dass Trump gross mobilisieren und mehr Stimmen machen würde als beim letzten Mal. Das Fragezeichen waren die Demokraten. Beide Wahlveranstaltungen, denen ich beiwohnte, waren lahm und lau. Nun hat es mit Ach und Krach geklappt. Die Biden-Vorsprünge in den Schwankstaaten sind sehr, sehr klein. Es ist immer noch möglich, dass Eine Nachzählung ein Resultat korrigiert, oder – wahrscheinlicher -dass ein Gericht Trump in irgendeinem Punkt Recht gibt. Dann könnte die Sache am Ende doch noch vor dem Obersten Gericht landen. Dass die neü Richterin nicht auf Trumps Seite stehen könnte, wie Du hoffst, glaube ich keinen Moment. Die Verhältnisse sind längst nicht mehr so – der “Anstand” und die Rechtschaffenheit, die Biden predigt, ist weg. Für immer. Es gelten das Recht des Stärkeren, die Rücksichtslosigkeit, das Gewinnen-um-jeden-Preis. Die amerikanische Gesellschaft ist so. Hingegen glaube ich nicht, dass die Wahl politische Gewaltakte in grösserem Stil provozieren wird. Ein paar Attentate zu späterer Zeit, vielleicht. Ich denke, die Institutionen – insbesondere die Vorstellung, Wahlentscheidungen an der Urne zu treffen – sind stärker als gewaltbereite Gangs. (Übrigens: Es gibt einen Roman von Upton Sinclair aus dem Jahr 1937, “it can’t happen here”, der eine faschistische Machtergreifung in den USA beschreibt – viele Parallelen).

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In den USA wären Veränderungen (ich mag den Begriff “Reformen” nicht – es gehört zum Wortschatz der journalistischen Schickeria) von der Grössenordnung der dreissiger Jahre nötig. Der einzige, der sie einforderte, war Bernie Sanders. Der einzige. Biden wird nichts dergleichen auch nur wolllen. Er will keine Konfrontation mit der amerikanischen Version von Economiesuisse und Bahnhofstrasse. Er würde auch keine bestehen können, nicht mit seiner Vergangenheit. Er ist schwach, und er hat es mit Gegnern zu tun, die an Härte und Ruchlosigkeit nichts eingebüsst haben. Die Republikaner werden nach Trumps Abgang nicht zahmer. Man sollte nicht zu viele Erwartungen in “Anstand”, “Versöhnung” und Biden den Einiger stecken. Obama trat auch so an, und er wurde brutal zurückgenommen. Jetzt spricht das Kommentariat von den angeblich wundervollen Kompromissen zwischen dem Vizepräsidenten Biden und dem Senatsführer McConnell, die wiederkehren könnten. Wirklich? Ich halte das für Phantasie.

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Anstatt sich den Kopf über Biden zu zerbrechen, sollten wir uns lieber fragen, was denn eigentlich geschehen ist durch die Präsidentschaft Trump. Für mich war von Anfang an klar, dass Trump ein Faschist ist. Nicht ein Hitler oder Mussolini in Uniform, mit Kampfbataillonen und Märschen etc., sondern eine neü, auf das 21. Jahrhundert zugeschnittene Form von Faschismus. Vielleicht näher verwandt den lateinamerikanischen strongmen, die die Zügel zu ergreifen pflegen, wenn die Macht den herrschenden Eliten zu entgleiten droht. Deshalb nannte ich Trump immer den Caudillo.

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Trump verkörpert die Reaktion auf den Umstand, dass die traditionell linke Partei (die Demokraten) zur Partei der Bessergestellten und Besserverdienenden geworden ist. Er nahm die Nöte der Verlierer in der Globalisierung, in der Stratifizierung des Bildungswesens, in der Zersetzung herkömmlicher gesellschaftlicher Rollen auf. Er gab diesen Massen die Anworten, die wir aus der Entstehungsgeschichte des Faschismus kennen: Abschottung des Eigenen gegenüber dem Fremden, Kreation einer “Identität”, die den Fremden gegenübergestellt werden kann; Nationalismus; Autarkie; Zelebration tradierter sozialer Rollen. Etcetera. Auf der individuellen Ebene entsprach Trump zahlreichen Charakteristiken der faschistischen Führer: die verbal Unflätigkeit. Das Allmachtsgetue. Der Fahnenkult (weisst Du noch, als Trump die Flagge küsste?). Das Imponiergehabe gegenüber anderen Staaten. Eine Generation später wird man sich vielleicht fragen, wie ein Typ, der so redete wie ein Trump, beim Volk dermassen erfolgreich sein konnte – genauso, wie wir uns fragen, wie ein Hitler mit seinem Gebell für die Deutschen ein Führer werden konnte. Ich denke, es sind ähnliche Gründe. Trump – wir sollten es nicht vergessen – hat ein paar Sachen gemacht, die für die unteren 50 Prozent der Amerikaner gut sind. Er hat das US-Militär aus ein paar Kriegen zurückgezogen und keine neuen angezettelt (dies, während er das Militär grotesk aufbaute und brutal zuschlug, wo es nötig schien). Er hat den verheerenden NAFTA-Freihandelsdeal neu ausgehandelt und leicht verbessert. Er hat überhaupt die Freihandelsphantasie relativiert. Und meine Verwandten sagen alle, Trump habe es geschafft, die Pharmakonzerne zu tieferen Medikamentenpreisen zu zwingen. Wenn das so ist, ist es gut.

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An der politischen, ökonomischen und sozialen Ausgangslage hat Bidens Wahlsieg nichts verändert. Die Republikaner sind eher stärker geworden. Sie wissen, dass sie auf dem Weg sind, die Partei der unteren Hälfte des Landes zu werden – aber nicht in der sozialdemokratischen, sondern in der rechtsextremen Version, welche die Massen hinter der Fahne, der Uniform, der nationalen Unvergleichlichkeit, der ”Freiheit” des kleinen Mannes schart und die grossen Mächte der kapitalistischen Ordnung in Ruhe lässt. In den exit polls bin ich auf ein sehr interessantes Ergebnis gestossen: Bei den Einkommen zwischen 100 000 und 190 000 Dollar pro Familie – das ist die Mittelklasse, aber nicht die obere – hat Trump gewonnen. Das sind erstens sehr viele Leute und zweitens die, welchen Obamacare nichts gebracht hat.

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Ich habe im Guardian einen Artikel von Yanis Varoufakis gefunden, der etwa dasselbe sagt, und den ich deshalb gut finde.

Einer der grossen deutschen Soziologen, ich glaube Horkheimer, hat in den dreissiger Jahren geschrieben: “Wer vom Kapitalismus nicht reden will, muss auch über den Faschismus schweigen”.

So isses.

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Übrigens: Die Schweizer Zeitungen, das heisst vor allem die in Zürich geschriebenen, überborden mit Werweisen um und Ratschlägen an Herrn Biden. Wie üblich, gehen sie dem wichtigen Thema aus dem Weg. Europa. Das einzige politische Fazit aus der Ära Trump, das für uns zählt, heisst Europa. Die Präsidentschaft Trump sollte uns gelehrt haben, dass Amerika im Begriff ist, einen anderen Weg zu gehen als den im Nachkriegswesteuropa bisher gewohnten. Die Lehre, die daraus zu ziehen ist, lautet Selbstbestimmung, eigene Macht, für sich agieren. Die Europäer können das nur gemeinsam. Ein Land für sich vermag es nicht. Es braucht ein geeinigteres Europa, mit einer eigenen Armee (yup), einer eigenen Steuerpolitik, Wirtschaftspolitik, Einwanderungspolitik. Mehr Europa, nicht weniger. Für die Schweizer heisst das Ja zu Europa. Für die Schweizer Linke heisst es Schluss mit der idiotischen “Euroskepsis”, die nur den Blocheristen in die Hände spielt. Das ist die Lehre, vielleicht eine unangenehme, die aus den vier Jahren Trump zu ziehen ist. Alles andere ist Habakuk.

Was denkst Du?

 

Best

J