Wie ein aus der Halterung gerissener Feuerwerkskreisel furzt die gesamte Familie Trump durch die Staaten, maskenlos, und auch Joe Biden hat sich in diesen letzten Tagen vor der Wahl zur Kampagnentour aufgemacht, den Anhang im Auto zum drive-in rally versammelt, eingeführt von alt-Präsident Barack Obama als Vorredner, und Stevie Wonder als Attraktion. Am Freitag war Donald Junior in einer Scheune bei York/Pennsylvania zugange, mit Ted Nugent im Programm. Haben Sie ein Sackmesser?, fragte der Polizist am Einlass, das müssen Sie im Auto zurücklassen. Ich kehrte nach zehn Minuten wieder um – déja vu). Heute Sonntag wird  Joe Biden in Philadelphia auftreten, zweimal, aber wo, ist ein gut gehütetes Geheimnis. Einem normalen Bürger ist es unmöglich, via Telefon oder Internet herauszufinden, wo der Kandidat sprechen wird. Es ist im Franklin Delano Roosevelt Park, 1700 Uhr. Um halb zwei stehen bereits ein paar Wagen Schlange am verregneten Strassenrand. Press?, fragt der Ordner. Ich darf mich anstellen, aber ich frage zurück, wieviele Autos erwartet werden. About two hundred. Merci. Auch déjà vu. Ich fahre weiter.  “Ich habe nie einen Kandidaten gesehen, der sich so schützt”, sagt Kampagnen-Profi Randy Steinman aus Kansas City. “Es ist ungewöhnlich, aber gut zu verstehen”. In Texas hatte am  Vortag eine Wagenkolonne von Trumpisten Biden’s Autobus umzingelt und den Kandidaten zum Verzicht auf einen Auftritt gezwungen.

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Unterhalb der präsidialen Schaumkronen wogt der Wellengang der Parlamentswahl. Am 3. November werden auch das gesamte Repräsentantenhaus (435 Mitglieder, Amtszeit 2 Jahre) und ein Drittel des Senats (100 Mitglieder, Amtszeit 6 Jahre) neu gewählt. Im Repräsentantenhaus haben derzeit Bidens Demokraten die Mehrheit, im Senat die Republikaner. Das macht das Regieren schwierig: Wie in der Schweiz braucht es in den USA die Zustimmung beider Parlamentskammern, um ein Gesetz zu erlassen (anders als in der Schweiz kann die Exekutive – der Präsident – ein Gesetz mit dem Veto verhindern, welches das Parlament wiederum mit Zweidrittelmehrheit in beiden Kammern aufheben kann).

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Wie wichtig diese Mehrheiten sind, ist dieser Tage an zwei Beispielen sichtbar: Das erste heisst Amy Coney Barrett. Die ungemein konservative Juristin wurde vom Senat im Affentempo als Oberste Bundesrichterin bestätigt, nachdem Trump sie zur Nachfolgerin der verstorbenen Richterin Ruth Bader Ginsburg  vorgeschlagen hatte. “Konservativ” heisst in diesem Zusammenhang vor allem “gegen Abtreibung” und “gegen Obamacare”, beide in hängigen Fällen vor dem Obersten Gericht, aber auch “Wahlrecht”: Es ist gut möglich, dass der Wahlausgang in Gerichtsstreitigkeiten vor dem Supreme Court landen wird, und Frau Coney Barretts Stimme macht die konservative Mehrheit wasserdicht. Das andere Beispiel ist die zweite Auflage eines Corona-Hilfspakets. Der Senat weigert sich, vor den Wahlen überhaupt darauf einzutreten. Das Repräsentantenhaus hat ein umfassendes Programm von 2,2 Billionen (Du liest richtig: 2 000 000 000 000 Dollars) verabschiedet, aber Mitch McConnell, der majority leader des Senats, hat die Türe verriegelt.

Alexandria/Virginia: Rasenschild für den republikanischen Senatskandidaten Daniel Gade. Das Trump-Schild fehlt.

Dass die Demokraten ihre Mehrheit im Repräsentantenhaus halten oder ausbauen, gilt als sicher. Die Mehrheit der Republikaner im Senat dagegen ist nicht nur die knappere, sondern auch die weichere. Sie mehr Sitze verteidigen als die Demokraten, und die Umfragen bewerten mehr republikanische Sitze als “wankend” oder “gleichauf” als demokratische. Die Zahlen: Republikaner halten derzeit 53 von 100 Sitzen. Insgesamt werden 35 Senatoren gewählt. 23 davon sind derzeit von Republikanern besetzt, 12 von Demokraten. Je einer dürfte die politische Farbe wechseln, in Colorado von rot (republikanisch) zu blau (demokratisch), in Alabama umgekehrt. 9 Sitze werden von den Umfrageanalytikern von www.realclearpolitics.com als tossups bewertet – unvorhersehbar knapp. 7 davon sind derzeit von Republikanern besetzt, 2 von Demokraten. “Ich denke, die Republikaner werden den Senat verlieren”, sagt Randy Steinman.

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Samstag, 18. Oktober The Bend Park in North Charleston, South Carolina. Niemandsland, weitab von der Stadt. Eine Meile weiter draussen ist der County-Knast, daneben eine Polizeikaserne und ein Strauss bond-Büros, die  Sofortkredit für die Kautionen gewähren. Hier hatte Jaime Harrison, Kandidat der Demokraten für den US-Senat, zum drive-in rally geladen. So nennen sich die coronadichten Wahlkampfversanstaltungen im Auto. Du fährst mit dem Wagen an einen genau zugewiesenen Platz und darfst die Darbietung durch die Windschutzscheibe an einem Bildschirm verfolgen. Harrisons Leute, alles Junge, waren strikt. Ich musste versichern, dass ich lediglich zum Pinkeln aussteigen würde,  und dann mit Maske. Der Andrang war weniger überwältigend als die Vorsicht, der Kandidat weniger mitreissend als seine Umfragewerte. Harrison, ein Mittvierziger, Jurist, Kongressmitarbeiter, Lobbyist, hohe Parteicharge bei den Demokraten, serviert politische Hausmannskost: “Meine Geschichte” von arm zu Mittelstand, Es-geht-nicht-um-mich-es-geht-um-Euch, die Krankenkasse, Bildung, Spitäler, ein Plan gegen das Virus, auch ein leichter Hieb in die Rassenkerbe: South Carolina would be the first state with two black senators. Der andere Senator, Tim Cook, Republikaner, ist schwarz. Harrison ebenfalls.

South Carolina

Das allein wäre eine politische Sensation. Ausgerechnet South Carolina, der Sklavenhalterstaat par Exxcellence, der Ort des Beginns des amerikanischen Bürgerkriegs, würde mit Harrisons Wahl zwei schwarze Senatoren stellen. Jaime Harrison hielte denselben Senatssitz wie einst John Calhoun, der mächtigste Vertreter der Sklaverei im amerikanischen Parlament. Nicht das jedoch macht Harrisons Wahlkampf zum nationalen Phänomen. Es ist sein Gegner Lindsey Graham. Der, ein Republikaner,  war 2016 als scharfer Kritiker von Donald Trump aufgetreten (Zitate: downright dangerous, batshit crazy), hatte sich jedoch nach der Wahl zu einem der widerlichsten Arschkriecher hinter dem Präsidenten gemausert. Als Vorsitzender des Justizausschusses war in Graham in vorderster Linie für die rasche Einsetzung der Richterin Coney Barrett verantwortlich – auch dies ein politischer Salto Mortale: 2016, als Präsident Obama im Wahljahr einen Richter für das Oberste Gericht nominierte, um eine Vakanz zu füllen, hatten die Republikaner sich geweigert, den Mann auch nur anzuhören. Graham versprach damals hoch und heilig, das werde fortan immer so gehalten. In diesem Jahr flatterte seine Windfahne aber in der umgekehrten Richtung und Frau Conan Barrett wurde unter Grahams Führerschaft durchgewunken.  Harrisons TV-Werbung hat es leicht. Sie stellt die alten und die neuen Zitate nebeneinander und spielt auf den Mann: ”Lindsey Graham geht es nur um eines – Lindsey Graham”. Für die Galerie ist die Senatswahl in South Carolina ein Referendum über den Opportunismus und die Immoralität des Trumpismus. Einen Sieg hat Kandidat Harrison in diesem Wettbewerb bereits errungen. Noch nie hat ein US-Senatskandidat mehr Geld eingebettelt als er. Im dritten Berichtsquartal (US-Politiker müssen ihre Gelder – anders als in der Schweiz – von Gesetzes wegen offenlegen) brachte er es auf sagenhafte 57 Millionen Dollar – neunzig Prozent davon aus Spenden von ausserhalb des Staats. Graham liegt finanziell im Hintertreffen. Die Wahlfinanzierungsanalytiker von www.opensecrets.org schätzen, dass der Senatswahlkampf in South Carolina 164 Millionen Dollar verschlingen wird. (Klammerbemerkung: Insgesamt werden für die US-Wahlkämpfe laut derselben Quelle 14 Milliarden Dollar aufgewendet. Das sind rund 42 Dollar pro Einwohner. Zum Vergleich: Wenn in der Schweiz mit gleicher Kelle angerichtet würde, kostete ein Nationalratswahl oder ein Abstimmungskampf 360 Millionen Franken).

South Carolina ist nur eine der Senatswahlen, deren Ausgang als “knapp” oder “gleichauf” bewertet wird. Die anderen sind Arizona, Georgia, Iowa, Maine, Michigan, Minnesota, Montana und North Carolina.  Der Reihe nach:

Arizona

Hier geht es um den Sitz des verstorbenen Republikaners John McCain. Die zur Nachfolgerin ernannte Martha McSally wird vom ehemaligen Astronauten Mark Kelly herausgefordert. Kelly, der Demokrat, ist der Ehemann der Kongressabgeordneten Gabby Giffords, die 2011 bei einer Besprechung mit Wählern einem Attentat zum Opfer fiel. Kelly liegt vorne.

 

Georgia

Hier finden – Sonderfall – gleich zwei Senatswahlen statt, die eine turnusgemäss und die andere als special election nach dem Rücktritt des Amtsinhabers. Beide Sitze sind von Republikanern besetzt, in beiden Wahlen haben die Demokraten gute Chancen. An der special election ist das Besondere, dass nicht zwei, sondern mehrere KandidatInnen zur Wahl stehen und die beiden Besten zur Stichwahl antreten werden. Interessant ist hier das Rennen bei den Republikanern. Die derzeitige, vom Gouverneur ernannte, Amtsinhaberin Kelly Loeffler ist eine scharfe Trump-Anhängerin. Sie wird vom Gemässigteren Doug Collins bedrängt.

 

Iowa

Die Amtsinhaberin Joni Ernst, Republikanerin, hat sich unmöglich gemacht, weil sie bei einem TV-Auftritt den Preis der Sojabohne nicht wusste. Im Agrarstaat Iowa ist das schlimm. Herausforderin Theresa Greenfield liegt vorne.

Maine

Senatorin Susan Collins, eine Republikanerin, die sich öfters gegen Präisdent Trump stellt (sie stimmte gegen die Abschaffung der Obamacare-Krankenkasse), wird von der Demokratin Sara Gideon hart gefordert.

 

Michigan

Demokrat Gary Peters wird vom schwarzen Republikaner John James, einem Kampfhelikopterpiloten aus dem Irak-Krieg, bedrängt.

Minnesota

Hier liegen die Amtsinhaberin Tina Smith, eine Demokratin, und der Republikaner Jason Lewis gleichauf.

Montana

Der amtierende Gouverneur Steve Bullock, Demokrat, jagt den amtierenden Senator Steve Daines, Republikaner.

North Carolina

Senator Thom Tillis, Republikaner, liegt gemäss Umfragen hinter dem demokratischen Herausforderer Cal Cunningham. Der Senatswahlkampf in North Carolina ist gemäss www.opensecrets.com der teuerste aller Zeiten. Die Kandidaten und selbständig operierende politische Gruppen haben über 260 Millionen Dollar versenkt.

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Überraschungen sind zu erwarten. Die als tossups definierten Senatswahlen sind nicht die einzigen, auf die es sich zu schauen lohnt. Kansas zum Beispiel, wo der Bisherige nicht antritt. Seit 1932 war der Sitz immer von Republikanern besetzt, aber die Demokratin Barbara Bollier hat eine Aussenseiterchance. Oder Texas, wo der republikanische Amtsinhaber gegen die  Demokratin MJ Hegar, Militärpilotin (Afghanistan, Medevac-Missionen, verwundet) und Mutter, um seine Wiederwahl kämpfen muss. Auch Nebraska ist einen Blick wert. Der amtierende Senator Ben Sasse, ein Republikaner, wird wiedergewählt, aber die Frage ist, wie gut. Sasse ist verbal der schärfste Kritiker von Präsident Trump in seiner Partei, doch wenn es darauf ankam, zum Beispiel im impeachment-Verfahren, hielt er dem Präsidenten die Stange. Trump verliert, könnte Sasse’s Stimme in der zerstörten Grand Old Party mehr Gewicht erhalten.

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Auch Mitch McConnell, als majority leader der massgebende Architekt der Trump-Gesetzgebungsverfahren, steht zur Wahl. In Kentucky. Seine Gegnerin ist Amy McCrath von den Demokraten. F/A18-Kampfpilotin in Afghanistan, Oberstleutnant, Mutter von drei Kindern.