Nirgendwo in den kapitalistisch organisierten Gesellschaften ist die Ungleichheit grösser als in den Vereinigten Staaten. Nirgendwo kostet ein Universitätsdiplom mehr. Nirgendwo ist die medizinische Versorgung teurer. Nirgendwo die soziale Durchlässigkeit zwischen “oben” und “unten” geringer. Nachlesen kann man dies zum Beispiel im neuen Wälzer des französischen Ökonomen Thomas Piketty, capital et idéologie. Und die Corona-Krise hat die Ungleichheit weiter verschärft, nachzulesen in einer Untersuchung des Institute for Policy Studies vom vergangenen Sommer.
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Im heute zu Ende gehenden Wahlkampf spielte das kaum eine Rolle. Der einzige Kandidat, der diese Themen ansprach, kraftvoll, war der Uralt-Sozialist Bernie Sanders in der demokratischen Vorwahl. Er versank in der Pandemie, mit vereinten Kräften aus der pole position gestossen von der Konkurrenz, die sich mit dem alten Parteischlachtross Joe Biden zufrieden gab. Biden hat gute Chancen, gewählt zu werden, Präsident Trump droht, als one-timer unterzugehen.
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Für Aussenstehende, namentlich die Nicht-Angelsachsen in Europa (die Briten haben den aus ähnlicher Pappe geformten Boris Johnson) ist es schwierig zu verstehen, dass zwischen 40 und 50 Prozent der US-Wählerschaft einem Trump die Stimme gibt. Ist er nicht ein Prahler und ein Gauner – a crook? Er ist es. Er ist das politische Produkt von reality TV, und als solches ein Modell, das vielleicht von der Bühne abtreten wird, aber nicht vom Spielplan.
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Es gibt ein rationales Argument, Trump die Stimme zu geben: Wer glaubt, dass gesellschaftliche Entscheidungen am besten dem “freien Markt” überlassen werden; glaubt, dass staatliche Vorschriften (regulations) in jedem Fall das Spiel jenes Marktes behindern und die Entfaltung der wirtschaftlichen Energien unterdrücken; glaubt, dass der Einsatz von staatlichen Mitteln – Steuern – niemals die Lösung gesellschaftlicher Schwierigkeiten befördern kann: wer all dies glaubt, der wählt Trump, nicht Biden. In den USA heisst das “Konservatismus”, und Trump hat dieser konservativen Sache treu gedient. Er hat die Steuern massiv gesenkt, hunderte von staatlichen Vorschriften ausser Kraft gesetzt und dafür gesorgt, dass die Bundesgerichte auf Jahrzehnte hinaus mit “konservativem” Personal besetzt werden. Eine grosse Menge von US-Bürgern ist für solche Dinge sehr empfänglich. Nicht zuletzt wegen der Börse, die mit der economy gleichgesetzt wird. Amerikaner, die verfügbare Mittel haben, stecken ihre Altersversorgung in die Börse : Im Gegensatz zur Schweiz, wo die “Zweite Säule” den Normalbürger von solchen Sorgen befreit, ist der Amerikaner dazu verdammt, sein eigener kleiner Kapitalist zu sein – lebenslang. Sein Lebensstandard im Alter hängt wesentlich vom steuerbegünstigten Individual Retirement Account ab. Deshalb die Bereitschaft, einen Trump zu wählen, auch wenn sein Charakter oder seine Amtsführung viele “Konservative” ekelt. Schliesslich hat der US-Präsident das feine Gewebe, das eine funktionierende Demokratie trägt, erheblich beschädigt. Er hat das Vertrauen in die Institutionen systematisch untergraben. Hat systematisch Verständnis für eine extreme, mit der Gewalt spielende Rechte bekundet. Hat den Chauvinismus und die Animosität gegen alles Fremde angefacht. Trump hat Hass gesät und nimmt in Kauf, Hass zu ernten. Dennoch sind zahlreiche “Konservative” bereit, den Charakterschwächling an der Staatsspitze (und am Atomwaffen-Knopf) zu schlucken. Sie ordnen ihre Bedenken der “konservativen” Ideologie unter. Es gibt andere Beispiele für derartige Unterordnungen in der Geschichte. Die Verteidiger des Generals Pinochets im Chile der siebziger Jahre waren nicht alles blutrünstige Faschisten, sondern Bürger, die an den “freien Markt” und den staatlichen Rückzug aus den wirtschaftlichen Entscheidungen glaubten. “Konservative”.
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Es gibt andere Konservative, die Trumps Defizite nicht der sozialen und ökonomischen Ideologie unterordnen. Sie können Biden wählen. Der demokratische Kandidat hat alles getan, dieser Wählerschaft den Schritt über den Parteigraben hinweg zu erleichtern. Dreh- und Angelpunkt seiner Kampagne sind “Anstand” und “Normalität”. Respekt vor der Rolle des Staats, vor den Institutionen, vor den demokratischen Prozessen. In anderen Zusammenhängen gilt dies ebenfalls als “konservativ” – in Europa würde man “bürgerlich” sagen. Die Konzentration auf die Bürgerlichkeit, die Haltung des citoyen, macht Biden gefährlich. Deshalb etikettieren die Trumpisten ihn als verkappten Kommunisten, der das Ende der kapitalistischen Ordnung einläutet.
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Die Wahl dreht sich um die Unterordnungsfrage: was wiegt mehr – der falsche Mann oder die richtige Ideologie? Das Thema der Wahl ist Donald Trump, nahezu das einzige.
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Was Biden will, wofür er – nach “Anstand” und “Normalität” – steht und wofür er sich entscheiden wird, ist eher ein Hintergedanke und ein grosses Fragezeichen. Gewiss, es gibt Pläne, Papiere, Konzepte. Aber sie sind nichts wert. Wer in den letzten Jahrzehnten die Demokraten wählte, weiss es ebenso gut wie der sozialdemokratische Wähler in Europa. Vor der Wahl wird A versprochen, nach der Wahl wird B regiert. Wird ein Präsident Biden die Steuern so erhöhen können, dass Amerikas Ungleichheit verkleinert wird? Wird er eine Energiewende einleiten können, die Amerika von seiner Sucht nach Benzin abbringt? Es ist sicher, dass die Kräfte hinter Biden in sehr verschiedene Richtungen zerren werden. Und es ist höchst ungewiss, ob ein 78 Jahre alter Greis stark genug sein wird, die Zügel in der Hand zu behalten.