Livingston, NY. Hudson Valley, linkes Flussufer, benannt nach einem Pelzbaron der hier ein Jahrhundert vor der amerikanischen Unabhängigkeit 650 Quadratkilometer Land zugesprochen erhielt, beidseits des Flusses damals. Alte Landwirtschaft, Äpfel, Gemüse, Vieh, Wild und Wald – ein Garten, wo die Bauern das Heu fünfmal schneiden und in tausenpfündige Ballen verpacken können. Gute zwei Autostunden nördlich von New York City ist die Gegend zur Begegnungszone zwischen alteingesessenem Landvolk und Neuzuzügern aus der Stadt mutiert  – die Erstgenannten eher konservativ,  altmodisch, oft nicht gerade wohlhabend, die Letzteren liberal, dem Trend du jour auf der Spur, oft gut betucht. Das Alte koexistiert hier mit dem Neuen, und das Neue gewinnt an Boden.

Er gehe er zum Turkey Shoot, sagte Neffe Max auf meine Frage, was er am Sonntag vorhabe. Ich durfte mit. Max, Sechstklässler, hat eine alte Winchester, Kaliber 22 – ein Flobert, wie wir bei uns sagen würden. Nach ein paar Gewöhnungsübungen hinter der Scheune machten wir uns kurz vor 10 Uhr morgens auf den Weg zum Kalicoontie Rod & Gun Club, wo drei, vier Dutzend Männer und eine Handvoll Frauen herumstanden und warteten. Weiss alle, der Altersdurchschnitt Ü-40,  Das Schützenhaus, eine Holzbaracke, ist eher grösser als man in der Schweiz die Schützenhäuser gewöhnt ist, an den Wänden hängt ausgestopftes Wildbret. Die Kombüse bot egg sandwiches an, und Kaffee, den dünnen,  unprätentiösen amerikanischen, für einen Dollar – nicht die räuberischen dreifünfzig, die sie Dir in der Schweiz für Filterplörre abknöpfen. Im  Eingangsraum standen vier Tische. Am ersten Tisch musste sich jeder eintragen, auch der Nichtschütze, “damit wir die Kontrolle haben”, sagte der official . Auf dem nächsten lag Ware zum Verkauf: Messer, Munition, outdoors-Zeug. Am dritten kaufte man die Tombolalose, zwei Dollar das Stück, die schönen Preise waren davor ausgestellt: Erster Preis ein Remington savage axis Jagdgewehr, zweiter Preis eine wicked ridge Armbrust. Dritter Preis eine halbautomatische G-Force 12-gauge Büchse, Typ home protection. Die Waffenverkäufe in den USA schiessen durchs Dach.

Am hintersten Tisch trug man sich in die Schützenliste ein, 3 Dollar für die Passe à fünf Schuss – je nach Bewaffnung zusammengestellt: Kaliber-22-Gewehre, Schrotflinten, Handfeuerwaffen. Einige Schützenfreunde hatten mächtige Stücke dabei, in gewaltigen Koffern, mit Zielfernrohren. Geschossen wurde auf 25 Meter Distanz stehend, im Stand ein paar Stufen weiter unten. Made possible by a grant from  the NRA steht über dem Eingang, wo ein official die Patronen herausgab. Die National Rifle Association, der Schützenverband, hat den Bau des Schiessstandes offenbar finanziell unterstützt, und gibt auch sonst Deckung. Die NRA ist in den USA  nicht einfach die Lobby für das ausserdienstliche Schiesswesen, sondern eine gewaltige rechtsgerichtete Macht im Staat, ein breiter, mit allerlei politischen Erotika (das right to bear arms, der Patriotismus, die Ehrfurcht vor allem Militärischen) besetzter Transmissionsriemen zwischen den “konservativen” Milliardären und den Wählermillionen des Trumpismus. Zurzeit etwas im Gegenwind, weil ein finanzieller Kunstschuss sich als Rohrkrepierer erwies: Um sich aus einer Geldnot zu befreien, hatte die NRA den Bankrott angemeldet, der vor kurzem von einem Gericht abgelehnt worden ist. Für eine Weile – nicht für immer – könnte es Schluss sein mit made possible by a grant from the NRA.

Ah ja, die Masken. Keiner trug eine, abgesehen von einem jüngeren Vater und seinem kleinen Sohn.  Ganz anders als unten in New York City, wo am Freitag und Samstag weiterhin die grosse Mehrheit auf der Strasse die Maske vor dem Gesicht trug, obwohl Präsident Joe Biden gerade verkündet hatte, die Geimpften seien fortan von der Pflicht befreit. Are you kidding?, meinte O., der Sicherheitsmann an unserem Gebäudeeingang. “Ich spiele nicht mit meiner Gesundheit”. Am Radio und in der Zeitung gibt die neue Linie der Regierung  zu reden, weil der gesunde Menschenverstand sich fragt, wie denn der legitime geimpfte Nichtmaskierte vom betrügerischen nichtgeimpften zu unterscheiden sei. Soll ein Ladenbesitzer einen Impfausweis verlangen? Zu vermuten ist, dass die politische Ideologie weiterhin eine wichtige Rolle beim Maskentragentscheid spielt. Beim Abendplausch am Freitagabend habe kein Mensch eine Maske getragen, sagt E., gedanklich bei den Trumpisten zu verorten, aber in der Gärtnerei, die immer weniger Gemüsesetzlinge und zunehmend Blumengesäme anbiete, was auf die Überhandnahme der Städter hinweise, die den Garten für die Blütenpracht benutze und die biologisch-dynamische Nahrung aus dem organischen Suoermarkt beziehe (E. ist Gemüsebauer) – in dieser Gärtnerei hätten die Brooklynities, die dort ihre Zierpflanzensetzlinge einkauften, alle eine Maske getragen.

Im Kalicoontie Rod & Gun Club war die Maske offensichtlich kein Thema. Zwar war am schwarzen Brett auch ein verbleichender wear a mask, please-Zettel aufgeklebt, neben einer alten Zielscheibe mit fünf Mouchen und Bob’s Anzeige für milit. Surplus ammo. Aber das war offensichtlich nicht ernst zu nehmen. Von Corona und Covid war allerdings durchaus die Rede.“Jetzt, wo ich mich schon fast daran gewöhnt habe, darf ich die Maske Maske sein lassen”, meinte der Hamburgerkoch, und schob die Geschichte vom Freund eines Freundes der Tochter nach, den es bös erwischt habe. “Der ist gestorben”. Ein anderer erzählte, seine Tochter habe noch jetzt, nach vier Monaten, mit den Folgen von Covid zu kämpfen. Doch die Covid-Stories blieben ein Thema unter anderen, eher beiläufig erwähnt. Geschichten aus der Vergangenheit. In anderen Gesprächsfetzen ging es um Aktuelleres. Die überteuerten chicken wings im yuppiefizierenden Hudson (“achtzehn Dollar für ein Dutzend – unglaublich”). Das Rennross, dem der Sieg im Kentucky Derby wegen Doping aberkannt worden ist. Das Kreuz mit den ängstlichen Ehefrauen, die kaum aus einem Einkaufszentrum weg- und umso seltener auf das Motorboot zu bringen sind.

Im Kalicoontie Rod & Gun Club tropft das Leben wie immer, Maske hin oder her. It is what it is. Geschossen haben wir auch. Gewonnen nichts. Vielleicht sollte man den alten Karabiner doch aus dem Schrank holen und ein wenig üben gehen. Aber wo? In der Schweizer Bleibe haben sie in der Schiessstand geschlossen. Das Schützenhaus steht leer. Nicht einmal an einem schönen Sonntag wird Kaffee ausgeschenkt. Nicht einmal für räuberische dreifünfzig.