Die Catskills. Das Appalachengebirge zwischen dem Hudsonfluss und dem Delaware. Naherholungsgebiet der New Yorker upstate. Obwohl – auf der Landkarte betrachtet kann von “upstate” keine Rede sein, noch hunderte von Kilometer erstreckt sich der Riesenstaat New York nach Norden bis an die kanadische Grenze hinauf. Aber für die New Yorker ist alles ausserhalb  Interstate 84 upstate und rural. Seitdem die Corona-Pandemie die Städter in Angst und Schrecken versetzt hat, ist upstate erste Wahl für diejenigen, die sich die Flucht aus der Stadt leisten können. Der Liegenschaftenmarkt ist so heiss wie nie in diesem Jahrhundert.

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Wir gingen, um das Concord zu sehen. Das Concord gehörte zu den grossen Häusern des Borscht Belt, wo das jüdische Amerika die Sommerfrische zubrachte. Monumentale Hotelkomplexe mit Rundumversorgung an Verpflegung, Unterhaltung, activities. Generationen amerikanischer comedians machten sich hier den Namen: Jackie Mason, Don Rickles, Woody Allen, Milton Berle. Das Concord war die grösste Anlage von allen. Tausendfünfhundert Zimmer, dreitausend Plätze in der Esshalle. “Es war wie auf der Queen Mary, aber zu Lande”, sagt B. Ende der sechziger Jahre hatte sie hier Sommerferien verbracht, Grosseltern, Eltern, zwei Geschwister.

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Im Internet war keine Reservationsmöglichkeit auffindbar, aber B sagte, das bedeute nicht viel. Für eine Nacht könne man das Concord eh nicht buchen, das gehe höchstens wochenweise, und hinein kämen wir als walk-ins auch nicht, die Anlage sei nur für Hotelgäste. Wir fuhren dennoch hinauf nach Monticello (kein Stern im Reiseführer). Am nächsten Morgen weiter Richtung Kiamesha Lake auf der Concord Road. Wir fuhren und fuhren. Linkerhand signalisierte ein schlecht unterhaltener Zaun Privatbesitz, dahinter gelegentlich ein Haufen Gerümpel, sonst nichts als Gelände. Kein Gebäude. Nach einigen Minuten fragten wir zwei Männer nach dem Weg. You are twenty years too late, meinte der eine. Zwanzig Jahre zu spät. Das Concorde sei längst geschlossen und abgerissen. Die Juden aus New York seien aber immer noch da, die Chassidim, die Ultra-Orthodoxen mit den Schläfenlocken und den schwarzen Kleidern. Sie kauften alles auf in der Gegend. Aha. Am Abend zuvor hatten wir Itzchak aus Brooklyn kennengelernt, einen mittelalterlichen Chassid, der uns klagte, er habe immer noch keine Frau gefunden und lebe bei seinem Vater. Auf die Frage, was er ausgerechnet in Monticello mache, hatte er uns erklärt, er sei hier in einem “Lager für ledige Männer”. Auf der Weiterfahrt bemerken wir, dass viele Gebäude hebräisch angeschrieben sind.

Mit der Nostalgiephoto vom Concord ist es nichts. Aber wenn wir schon hier sind, sollten wir auch weiter nach Bethel, ein paar Meilen weiter westlich. Denn Bethel  ist “Woodstock”. Hier hat im August 1969 das riesige Popkonzert stattgefunden, das zu einem Schlüsselereignis von “1968” mythisiert worden ist. Man kennt den Film.

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Geographisch hat Bethel mit dem real existierenden Woodstock, sechzig Kilometer weiter östlich, so wenig zu tun wie der Gurten mit dem  Kemmeribodenbad. Ja, die Veranstalter hatten zunächst im Sinn, das Konzert in Woodstock durchzuführen (“Woodstock Music and Art Fair”), aber sie wurden von den örtlichen Behörden sabotiert. Desgleichen in einem zweiten Ort. Erst in letzter Minute gelang es, in Bethel eine Lokalität zu sichern. Der Grossfarmer Max Yasgur verpachtete sein Land für das Konzert. Von da an herrschten Chaos und Improvisation. Die Zeit war zu knapp, um das Gelände abzuzäunen und Kassenhäuschen aufzustellen, und noch bevor die Bühne aufgerichtet war, hatten 50 000 Personen den Platz besetzt. An Eintrittsgeld war nicht mehr zu denken, das Konzert wurde gratis erklärt. Statt der erwarteten 50 000 strömte eine halbe Million Menschen nach Bethel. Die ländlichen Strassen waren hoffnungslos verstopft, die Umgebung – Nachbarn und Behörden – feindselig, das Wetter garstig, Essen und Trinken knapp, die Toiletten rar, das  Konzertprogramm verzögert. Creedence Clearwater Revival kamen erst um drei Uhr morgens zum Auftritt, und als  Jimi Hendrix die amerikanische Nationalhymne begann, war es Montagmorgen und das Publikum bis auf 40 000 abgereist. Dem allem zum Trotz verliefen die drei Tage friedlich, ohne Gewalt und ohne “Zwischenfälle”. Aus einer aus dem Ruder laufenden unternehmerischen Katastrophe war eine idealistische Überlebensleistung geworden: “Woodstock”.

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Geschichte.

 

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Wo Ereignisse zur “Geschichte” gerinnen –  oder geronnen sind – müssen Denkmäler her. Und Museen. Kein Schluckauf der Zeitläufte scheint zu unbedeutend, um nicht in irgendeiner baulichen Form verdinglicht zu werden. In Woodstock ist es das  Bethel Woods Center for the Arts. An ackerweise Parkplatz vorbei geht es zu einer Ansammlung von Gebäuden im Besucherpavillonstil (dunkles Holz, Sichtmauerwerk, Decken bis zum Giebel). Dahinter die abschüssige Wiese hinunter zum damaligen Bühnenstandort und dem Filippini Pond, rundum Wald und Ruhe. Irgendwo liegt die neue Freiluftarena, “die beste in Amerika”, wie Herr Schwartz sagte, ein Liegenschaftenmakler in Monticello. Das Museum offeriert eine Multimediaschau und die Sonderausstellung Psychedelic Posters and Patterns from 1960s San Francisco. Eintritt 19 Dollar, mit Seniorenrabatt 17. Das allein ist abschreckend genug. Abgesehen davon, dass wir nicht uns nicht alt genug fühlen, die eigene Vergangenheit im Museum zu betrachten. Thanks but no thanks.

Weiter Richtung Callicoon. Halt an der Yasgur Road. Hier steht die Farm des Milchbauern, der das Woodstock-Konzert ermöglicht hatte. Max Yasgur war damals noch nicht ganz 50 Jahre alt, ein Wähler der Republikanischen Partei und Verteidiger des Vietnamkriegs. Und einer in Sorge über die “Generationenkluft”, welche die Gesellschaft von “1968” erschütterte,  und ein Verfechter des Rechts auf Anderssein, dem die Feindschaft der Einheimischen gegen die “Hippies” zuwider war. Deshalb war er bereit, sein Land für das Konzert zu verpachten. Haus und Scheune der Yasgurs stehen da, aber vom Besitz ist nichts mehr übrig. Witwe Yasgur hatte alles verkauft, bis auf einen Quadratfuss Land, der “auf immer im Familienbesitz bleibt”. Darauf steht eine kleine Tafel mit der Inschrift: The last piece of Yasgur Farm still held by the family.