War da was? Was man so sehen will in New Orleans hat sich von Katrina längst erholt. Vom Hurrikan, der die Stadt 2005 lahmgelegt hatte, sind an den populären Orten kaum Spuren zu sehen. Der Superdome, wo Zehntausende gestrandet waren, tagelang, ohne Versorgung und ohne Latrinen, ist seit Jahren wieder ein Stadion. Im Vieux Carré blüht die Gentrifizierung, die das French Quarter ist am dritten Juniwochenende ein Viehmarkt, an der Bourbon Street tönt aus jeder Türe live Musik, die Lokale sind voll. Die bons temps rollen. Kein Mensch trägt Maske, und nirgendwo wird gefragt, ob man auch geimpft sei. Auch Covid-19 gehört der Geschichte an.
Wer will, wie es gewesen ist im August 2005, muss ins Museum. Neben der Kathedrale zeigt das Louisiana State Museum wie die Stadt überrumpelt wurde, wie sich die in den Wind geschlagenen Warnungen vor falsch gebauten und ungenügend unterhaltenen Dämmen rächten, wie entschlossene Bürgerinnen und Bürger den auf den Dächern Gestrandeten beistanden, als überforderte Behörden nicht mehr weiter wussten. Ein Hotelangestellter erzählt, die Gegend, wo er wohne, sei überflutet worden, weil ein Schleusenwärter nicht auf seinem Posten gewesen sei. Der habe evakuiert werden müssen, und es sei niemandem in den Sinn gekommen, für einen Ersatz zu sorgen. Der zuständige Bürgermeister sei dann irgendeinmal verklagt worden. Auf die Frage nach dem Ausgang des Verfahrens lacht der Mann nur. Die wirkliche Katastrophe fand nicht im touristischen Teil von New Orleans statt, sondern in den Bereichen ausserhalb. Rund 300 000 Personen – die Hälfte der damaligen Bevölkerung – ist nicht zurückgekehrt.
Wir schreiben uns für eine Velotour ein, drei informative Stunden unter Führung von Brian. Brian ist eigentlich Theaterautor. Er sagt, die Geschichte von New Orleans lasse sich in vier Schlagworten verpacken. Erstens The French, Gründer und erste Kolonisatoren im 18. Jahrhundert. Zweitens The Spanish, welche die Stadt nach dem Siebenjährigen Krieg 1763 bis zu einer neuerlichen Übernahme durch die Franzosen im Jahr 1802 zugeschanzt erhielten. Drittens The Americans, welche ein Jahr später dem französischen Kriegsherrscher Napoleon das gesamte Mississippibecken abkauften – mit gepumptem Geld aus England und Holland. Viertens gamblers, thieves and whores – der schillernde Schlag Mensch, der die Stadtgeschichte bis auf den heutigen Tag prägt. Vote for the cool, it’s important, stand in Gouverneurswahlen 1991 auf den Klebern korrupten demokratischen Candidate, der gegen den rassistischen Grossdrachen des Ku Klux Klan angetreten war. Man beginnt beim Wohnhaus des Trompeters King Oliver, vorbei an einer Investitionsruine, die von keinem Interessenten angerührt wird, weil sie unter Denkmalschutz gestellt wurde, dann durch das French Quarter, wo Miss Doreen aus voller Lunge die Klarinette bläst, mit zappeligen Beinen, den Ehemann am Sousaphon zur Begleitung, und weiter ins Treme-Viertel, wo die Statue von Louis Armstrong steht, bis zu den Villen des Garden District mit dem Swiss Chalet Style home der Schauspielerin Sandra Bullock.
Zu den Errungenschaften post Katrina gehört das National World War II Museum, eine gigantische Anlage, die das Geschehen im Zweiten Weltkrieg nacherzähl – stramm aus amerikanischer Sicht, immer anschaulich und nahe am Soldaten, der in Bild und Ton zu Wort kommt. In der Eingangshalle steht ein D-Day Landungsboot, Produkt der Higgins-Werke in Louisiana, an der Decke hängt ein C-47 Transportflugzeug. Mehr, viel mehr Kriegsgerät ist zu sehen, in hoher Genauigkeit wird der Zweifrontenkrieg in Europa und Asien nachgezeichnet, Feldzug um Feldzug, von der Ardennenschlacht bis zu den Gemetzeln im Pazifischen Ozean. Die Kampagne der amerikanischen Hitler-Freunde(“America First”) ist dokumentiert, und die Finessen des Präsidenten Roosevelt (“Your boys are not going to be sent into any foreign wars”), die Zögerlichkeit des amerikanischen Kriegseintritts, die nach dem Überfall auf die Flotte in Hawaii in eine totale Mobilisation der Rüstungsproduktion (“Arsenal of Democracy”) umschlug.
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Alles – das meiste – ist gesagt, aber nach dem Masssystem der nationalen Nachkriegsgeschichte gewichtet. Das ist verständlich. Die “Geschichte” gibt den Siegern recht, die sie schreiben. Selbstkritik oder “Vergangenheitsbewältigung” sind von ihnen weniger zu erwarten als von den Verlierern. Aber die Darbietung im Kriegsmuseum hinterlässt das schale Gefühl, als Betrachter der Gegenstand einer politischen Absicht zu sein – einer Manipulation zur Verfestigung eines brüchig gewordenen nationalen Selbstverständnisses. Im National War Museum weht ein Hauch von der Übung “Diamant”, mit welcher eine verunsicherte Schweiz im Jahr 1989 den Ausbruch des Weltkriegs gefeiert hatte.
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Versuchen wir, fair zu sein. Um die Präsentation in den Hallen von New Orleans einzuschätzen, müsste sie mit jenen anderer Sieger verglichen werden. Ich weiss nicht, wo die Sowjetunion den Sieg über Hitlerdeutschland museal begeht, aber ich weiss, dass er bis zum letzten Tropfen gemolken wurde, um den Zusammenhalt des Landes hinter der Führung zu schüren, und sicherlich wurden – oder werden – die Greuel der Stalinisten dabei kurz geschoren. Ich bezweifle, dass Frankreich, auch Siegermacht, ein Weltkriegsmuseum unterhält. Ich habe an der Downing Street in London das Kriegskabinettsmuseum besucht, ganz dem Premier Churchill gewidmet, dessen Vergangenheit als Marineschlächter im Ersten Weltkrieg sehr klein geschrieben wird, ganz zu schweigen von seinem Kolonialismus. Verglichen damit ist die amerikanische Darstellung eine aufgeklärte. Die erzwungene Kasernierung aller japanstämmigen US-Bürger erhält breiten Raum, ebenso die über das Kriegsende hinaus fortdauernde Diskriminierung der Schwarzen und der Indianer, die ihren Teil am Kriegserfolg leisteten (der Anteil an Soldaten war bei den indianischen Ureinwohnern prozentual am höchsten). den grössten Anteil an Soldaten). Aber die Darstellung ist einseitig. Die Ausstellung heisst “Road to Berlin”, aber es wird weder erwähnt noch gezeigt, dass es die Rote Armee war, welche die deutsche Hauptstadt eingenommen hatte. Der selbstmörderische Nationalismus der Japaner wird geschildert, auch die auf weitere hunderttausende veranschlagten Verluste bei einer Eroberung des Landes, die durch den Abwurf der Atombomben in Hiroshima und Nagasaki hinfällig wurde. Aber wie es zum Entscheid über diesen Abwurf kam, welche Pro und welche Contra abgewogen wurden, bleibt unbeleuchtet. Ein Raum ist der Befreiung eins Konzentrationslagers im Österreichischen gewidmet, mit einem jüdischen Veteranen als virtuellem Interviewpartner. Aber kein Wort über die traurige amerikanische Rolle an der Konferenz von Evian im Jahre 1937, welche den in Europa bedrohten Juden eine Zuflucht verschaffen sollte. Überhaupt ist das National Museum of World War II ausnehmend reich an Details, aber umso ärmer an Kontext.
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Warum? Warum diese Fülle an Information, die sich Halle um Halle ausbreitet wie ein Ölfleck? Wieso gerade zum Beginn eines neuen Jahrhunderts, das die Leiden des alten hinter sich lassen könnte? Gerade deswegen. Der Zweite Weltkrieg war der letzte amerikanische Krieg, der als heldenhafter Sieg in die Geschichtsbücher geschrieben wird. Was danach kam, waren Unentschieden (Korea), Niederlagen (Vietnam) und politische Rechenfehler (Irak, Afghanistan). Nach dem Vietnamkrieg, dem letzten unter der allgemeinen Wehrpflicht, war die amerikanische Bevölkerung das Kriegführen leid. Soldaten waren keine Helden, sondern Vollstrecker eines jämmerlichen Handwerks. Aber in den Jahren seit Ronald Reagan die karibische Mini-Insel Grenada angreifen liess (1983) und George Bush der Ältere die Iraker aus Kuwait vertrieb (1991) kehrte die Stimmung. By god we kicked the Vietnam syndrome, erklärte Bush nach dem Ende seines Golfkriegs und meinte damit: Das Militär ist als Mittel der Aussenpolitik wieder salonfähig geworden. Nach und nach schlug die Stimmung um, und mit wachsender “Akzeptanz” in Parlament und Bevölkerung wurde das Mittel in die Hand genommen. Vor allem seit nineeleven, dem Anschlag auf das World Trade Center in New York im September 2001 hat Amerika nahezu permanent Krieg geführt, unter immer lauterem Unterstützungsgedröhn für die men and women in uniform. Nur eine kleine Minderheit von Parlamentariern sperrte sich gegen die Einsätze, die öffentliche Buchführung über die Toten in den Zeitungen ist längst eingestellt. Präsident Biden, der aufgeklärte Anti-Trump, schliesst seine Reden mit der Formel God Bless America and God bless our men and women in uniform”.
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Nur ist es eben nicht mehr so wie in den fünfziger Jahren, als die USA als allmächtige superpower agierten. Nineeleven ist nicht Pearl Harbor. Kim Jong-un oder Vladimir Putin sind nicht Adolf Hitler. Gegen die Chinesen ist keine Ardennenschlacht zu führen. Die superpower ist – im Vergleich zu zwei Generationen zuvor – reduziert. Sie stösst an Grenzen. Deshalb die Heldengeschichte des Zweiten Weltkriegs, aus den Erzählungen der Veteranen umgepflanzt in ein Museum. Dort bleibt sie unangetastet.
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Als der Krieg zu Ende war, hiess die Losung “nie wieder Krieg”. Die Schriftsteller schrieben Bücher, in denen das Hehre und Ehrenhafte im Krieg, die omnipräsenten values, verhöhnt und verspottet wurden, weil die Realität des Krieges, der erlebte Krieg sie in Nichts aufgelöst hatten. Wer wissen will, wie es war, liest die Literatur. Wer wissen will, wie er denken soll, dass es gewesen ist, besucht das Museum in New Orleans.