Die ersten Bojen sind umrundet, “hundert Tage”, Fourth of July: Zeit für eine Einschätzung von Joe Bidens Amerika. Das Gefühl, subjektiv und aus begrenzter Warte: wie auf einem rauchenden Vulkan.
Das Impfziel wurde knapp verfehlt. Bis zum Nationalfeiertag am 4. Juli sollten 70 Prozent der amerikanischen Bevölkerung geimpft sein, hatte Präsident Joe Biden erklärt. Stattdessen wurden es 66 Prozent. Das ist gut (Schweiz: etwa die Hälfte). Aber eben nicht so gut wie angekündigt. Der Präsident habe die Vorgabe nun abgeändert, spottete der Fernsehkomiker Jimmy Fallon: “Das neue Ziel heisst good enough.”
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COVID hat seinen Schrecken verloren. Am Abend des Fourth of July drängten sie sich vor der Strassensperre 48th street/1st Avenue wie beim public viewing des Euro-Fussballs, um am Ufer des East River das Feuerwerk zu sehen, nix Abstand und nix Maske. In der Zeitung war gestanden, der Einlass sei den Geimpften vorbehalten, aber wer könnte das kontrolliert haben? Und geimpft sind auch in New York nicht alle. Bei unserem Fussball-viewing in der Mercury Bar (nicht enorm public – am Tresen hatte es mehr Platz als Kunden) kamen wir, unmaskiert, mit dem Nebenmann ins Gespräch. Er arbeitet auf der Notfallstation des Spitals in der Nachbarschaft. Da sei er sicher geimpft, sagte meine Frau. “Nein”, antwortete der Mann, der aussah wie der junge Eddie Murphy. Er traue der Impfung nicht, weil sie zu schnell entwickelt und zu wenig getestet sei. Die Kollegen? “Ebenso. Etwa zehn liessen sich impfen, die älteren”. Von wie vielen? “Wir sind an die fünfzig”. Ob denn niemand krank geworden sei? “Doch, schon, die älteren halt.”
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Das war in New York, im vergangenen Frühjahr der hotspot der Welt und das Muster an gesundheitspolitischem Bürgersinn. Voll zu. Jetzt ist New York wieder offen, Restaurants, Läden wie früher, Mitte September sollen die Broadwaytheater öffnen, und die Jazzclubs. Die Notlage ist offiziell aufgehoben. Aber die Stadt fühlt sich anders an als früher. Rudy’s Bar an der 9th Avenue, einer der wenigen Orte in New York , wo Du ein Bier unter 5 Dollar erhälst, ist immer noch geschlossen. Der Verkehr steht nicht, er fliesst. Auf dem Times Square halten sie sich wieder den Touristenkameras feil, der Naked Cowboy, der spiderman und die Bikini-Latinas mit “NY” auf den Hinterbacken, aber es hat deutlich weniger Touristen, man kommt als Fussgänger auch in der Stosszeit leicht durch die Menge. Die Stadt brummt mit angezogener Handbremse, und niemand weiss zurzeit, wieviel PS der Motor wieder auf die Strasse bringt.
Der grosse Unterschied ist die Einstellung gegenüber der Pandemie. Vor einem Jahr war kein Greuelszenario zu abseitig, keine Warnung zu abstrus, um nicht ernst genommen zu werden. Jetzt verhalten die Menschen sich so wie damals die Trumpisten, welche dem Glauben anhingen, das Corona-Virus sei nicht gar so schlimm und die Pandemie eine von der Regierung in die Welt gesetzte Erfindung. In den “roten” Landesgegenden, wo die Republikanische Partei regiert und Donald Trump Hausgott ist, bleibt das so. Ich war in den vergangenen Wochen am Mississippi und am Missouri unterwegs, in den Staaten mit den tiefsten Impfraten und den höchsten Fallzahlen Amerikas. Dort verhielten sich die Leute wie Delegierte an einer SVP-Versammlung. Aber die Nonchalance ist ansteckend. I’m done with COVID, erklärte mein Freund Paul, Demokrat, militanter Nichtraucher und durchaus gesundheitsbewusst. Wir hatten eine Velotour unternommen, acht Personen, niemand Trumpist, alle vernünftig, zwei oder drei gar vegan, und während sechs Tagen wurde das Thema Ansteckung und Virenschutz ein- oder zweimal auf- und sogleich wieder verworfen. Die eine Bar, welche der Kundschaft das Rauchen gestattete, erzeugte weit mehr gesundheitliche Besorgnis und bei der Nichtraucherfraktion einen dezidierten Boykott. Vor der Präsidentschaftswahl im vergangenen November hatten Trumps Parteigänger immer wieder behauptet, die Pandemie sei aus politischen Gründen hochgespielt und man werde sehen, wie Sorge und Angst sich verflüchtigten, wenn Biden gewonnen habe. Hatten sie ein Stück weit recht? Ja, die Impfung macht viel aus. Aber die Seuche ist nicht vorbei. Sie ist nur als das alles ansteckende Thema verschwunden. Die ticker tape parade für die Angestellten im Gesundheitssektor in Manhattan vor einigen Tagen war den Medien nur eine Unter-Anderem-Meldung wert. Die Gewerkschaften hatten die Teilnahme verweigert, weil die Krankenschwestern, Pflegerinnen und ihre männlichen Kollegen heute genauso unterbezahlt bleiben wie vor der Pandemie.
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Der neue Notfall in New York heisst crime. Ein rasanter Anstieg von Gewalttaten in der Stadt schlägt die Bewohner zunehmend in Bann. Zum ersten Mal seit zwanzig Jahren wird man wieder gewarnt, nachts auf die Strasse zu gehen. Nachbarn erzählen sich Vorfälle. Ein kleiner Bub drüben auf dem Times Square angeschossen. Auf der 9th Avenue, direkt vor dem Gebäude, eine Frau von einem Passanten brutal niedergeschlagen. Desgleichen in Chinatown, es gibt Videos, man kann sie auf youtube anschauen. Die Opfer Asiatinnen, die Täter Vaganten, notorisch geistesgestört, der eine nahm sich nicht einmal die Mühe, nach der Tat wegzulaufen, sondern brabbelte auf dem Trottoir weiter, bis er ergriffen wurde: ein Obdachloser mit einer langen Vorgeschichte von Gewalttätigkeit, in eine Notunterkunft gesteckt und sich selbst überlassen. Zur Gewalt mit der Faust kommt jene mit der Schusswaffe. Die Zahl der shootings hatte sich 2020 gegenüber 2019 verdoppelt, im laufenden Jahr liegt die Zunahme bereits bei drei Viertel. Soeben hat Andrew Cuomo, der Gouverneur von New York State einen Notfall ausgerufen, um Gelder gegen die grassierende gang violence locker zu machen.
Trumps Republikaner hatten das städtische Amerika von Anbeginn als Freilaufgehege für Verbrecher denunziert, aber die andere Seite hielt Polizeiwillkür und Polizeigewalt im Blick. Besonders nach dem Mord am schwarzen Kleinkriminellen George Floyd (er wurde verdächtigt, Zigaretten mit einem gefälschten 20-Dollar-Schein bezahlen zu wollen) durch die Polizei in Minneapolis/Minnesota lautete das Motto “Den Stecker ziehen”. Die Linke fordert, die Polizeibudgets radikal zu kürzen (defund the police) oder die Polizei, so wie sie ist, schlichtweg abzuschaffen. Stattdessen soll mehr Staatsgeld in psychologische Betreuungsdienste gesteckt werden, um Polizisten von weniger zentralen Ordnungsproblemen zu entlasten. In New York City haben diese Forderungen soeben eine krachende Niederlage erlitten. Bei der Wahl des Bürgermeisterkandidaten der Demokratischen Partei – gleichbedeutend mit der Bürgermeisterwahl, weil die Stadt von den Demokraten beherrscht ist – gewann der ehemalige Polizist Eric Adams, der mit defund the police nichts anfangen kann. Die Gegner, welche das Polizeibudget weiter kürzen und dafür mehr Therapeuten anstellen wollen, sind alle unterlegen. Adams sagt, er sei auch für mehr psychische Betreuung der homeless und anderer Notfälle, aber den schweren Jungen in den Armenvierteln sei so nicht beizukommen. Dort brauche es energische intervention – Gegengewalt. Übrigens: Die Stimmbeteiligung bei jener Vorwahl am 23. Juni lag bei 26 Prozent. Nicht gerade ein Zeichen der politischen Nachhaltigkeit von Bewegungen wie defund the police. (In der Schweiz muss man für eine ähnlich tiefe Stimmbeteiligung auf das Jahr 1972 – “Bundesbeschluss über den Schutz der Währung” – zurückgreifen).
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Zurück zu Joe. Der Greis im Weissen Haus hatte einen guten Start. Erstens, weil die Ansprüche an ihn eher mittelmässig waren, und zweitens, weil es ihm ernst scheint, die Wahlversprechen einzuhalten. Im Gegensatz zu seinem demokratischen Vorgänger Obama, dem die politischen Esoteriker vor zwölf Jahren geradezu schamanische Qualitäten als Wettermacher in Washington zugeschrieben hatten, wurde von Joe Biden nur “Normalität” erwartet. Sie ist zurück, wenigstens insofern, als die Gutsherrenmentalität, die offene Korruption, das Schmierenhafte der Trumpherrschaft verschwunden sind. Dafür wurde Biden gewählt. Darüberhinaus hat er eine Fülle von Trumps Präsidialentscheiden rückgängig gemacht, namentlich im Bereich der Arbeiterrechte und des Umweltschutzes. Und mit den Mehrheiten seiner Partei in beiden Häusern des Kongresses hat er ein massives Corona-Hilfspaket durchgesetzt – 1,4 Billionen Dollars für Direktzahlungen an jede Person (600 Dollars), Verlängerung der finanziellen Schutzmassnahmen bis Ende Jahr und anderes.
Jetzt stockt der Motor. Die demokratischen Parlamentsmehrheiten sind zu dünn, um weitere grosse Projekte durchzusetzen. Im Senat gilt für die allermeisten Verfahren (Ausnahme: die Budgetbereinigung) die Supermehrheit. Um die Rednerliste zu schliessen und die Abstimmung über eine Vorlage zu ermöglichen, braucht es 60 von 100 Stimmen. Da die Kammer 50-50 gespalten ist (Vizepräsidentin Harris gibt den Stichentscheid) kann jede Seite ein Vorhaben verhindern, indem sie den Betrieb durch Endlosreden (filibuster ) lahmlegt. Auf diese Weise ist die voting rights bill auf Eis gelegt – eine Wahlrechtsreform, die es den Einzelstaaten verunmöglichen soll, den Zugang zur Urne nach politischer Willkür zu doktern. Die Republikaner, die Wahlrechte systematisch auf ihre Mühle zuschneiden, sind en bloc dagegen. Den verfügbaren politischen Schleichweg hat der demokratische Senator Joe Manchin aus West-Virginia gesperrt. Es wäre möglich, den filibuster mit einfacher Mehrheit auszuschalten, wenn die Vorlage in die Form einer Budgetbereinigung gegossen würde (im US-Parlament jederzeit möglich – die eidgenössische “Einheit der Materie” ist hier unbekannt). Aber Herr Manchin will das nicht, weshalb der Präsident punkto Wahlrecht kleinere Brote backen muss.
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Das andere grosse Biden-Projekt läuft unter dem Titel “Infrastruktur”. Gemeint ist nicht nur die Instandstellung der maroden Strassen, Brücken, Eisenbahnlinien, sondern auch eine massive Investition in die Ökologisierung der Wirtschaft und eine Stärkung des fragilen sozialen Unterbaus der Gesellschaft. Hier bilden sich zwei Fronten. Rechts wie zu erwarten die republikanische Rechte. Links diejenigen Demokraten, die von der Biden-Präsidentschaft viel mehr als die blosse Rückkehr zur “Normalität”. Die Linke fordert mehr Mindestlohn, Krankenkasse für alle und den Green New Deal – einen ökologischen Umbau von historischen Dimensionen. Zwischen diesen Marken muss Biden navigieren. Der derzeitige Spielstand ist unentschieden. Im Senat hat eine winzige Gruppe von Demokraten und Republikanern ein Schrumpfpaket geschnürt, das sich auf das Graue (die Betonbauten von der Strasse bis zum Klimaschutz) und ein ganz kleines bisschen das Grüne (Ladestationen für E-Autos) konzentriert. Rot, das Soziale, fehlt. Der Vorschlag enthält die Knospe eines zwischenparteilichen Kompromisses, der angesichts der Feindseligkeiten der vergangenen zwei Jahrzehnte schon fast exotisch anmutet. Biden steht dahinter, obwohl er im Wahlkampf viel mehr versprochen hat. Die demokratische Mehrheit im Repräsentantenhaus hält an den Wahlversprechen fest, inklusive sozialen Elementen und Steuererhöhungen für die Reichsten. Aber den “Gemässigten” in der Demokratischen Partei ist bange, vor allem wenn es um Steuererhöhungen geht. Und auf der Linken wittern einige bereits Verrat. Die Abgeordnete Alexandra Ocasio-Cortez, eine Twitterkönigin der amerikanischen Politik, zeigt sich öffentlich enttäuscht.
Soweit die Normalität in Washington. Ein demokratischer Präsident auf der rutschigen Unterlage seines eigenen Parteirückhalts, wie gehabt. Das Neue ist allenfalls, dass mit dem 78jährigen Biden nicht ein moderner, sondern ein vormoderner Mann am Ruder steht. Keiner, der mit der Milch von “weniger Staat, mehr Markt” gross wurde, sondern einer aus der Epoche zuvor, welche die Gewerkschaften nicht als Hemmschuhe der ökonomischen Entfaltung verstand und den staatlichen Einsatz zugunsten der vom Markt stehen Gelassenen als gegeben betrachtete. Zeichen einer derartigen Haltung sind an Bidens Präsidentschaft zu sehen – nicht zuletzt auch an der Bereitschaft zu einer globalen Mindestbesteuerung der zwischen den Staaten agierenden Steuerminimierer. Wie tief das prägt, und wie weit es trägt, ist fraglich. Bidens Bäume wachsen – von links her betrachtet – nicht in den Himmel. Immerhin: der job approval wurde zuletzt im grünen Bereich gemessen, mit 51,5 Prozent. Aber 51,6 Prozent der Amerikaner halten das Land on the wrong track.
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Von der anderen Seite ist vor allem Widerstand zu erwarten. Nach der Wahlniederlage im vergangenen November scheint die Rechte nur noch erbitterter. Im Kongress wurden die Trump-Kritiker aus der Parteiführung entfernt. Von einem Kurswechsel in der Partei ist – ungeachtet des Infrastruktur-Versuchsballons im Senat – nichts zu verspüren. Eine Untersuchung der Washington Post ergab vor kurzem, dass zwei Drittel der republikanischen Kandidaten für die als nächstes anstehenden Wahlen des Glaubens bleiben, die Präsidentschaftswahl sei gestohlen und Joe Biden ein illegitimer Präsident. In der Anhängerschaft ist es dasselbe. Aus keiner Umfrage, keinem Bericht geht hervor, dass die republikanischen Wähler sich von Donald Trump abwenden oder gar einer Alternative zuwenden könnten. Kein möglicher Kandidat für 2024 hat sich auch nur ansatzweise aus der Deckung gewagt, im Gegenteil. Das Wort gehört den Kriechern und Speichelleckern.
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Mein Reislein durch den Süden bestätigt den Befund. Gewiss, man spricht weniger von und über Donald Trump, weil er nicht mehr zu hören ist. Seit die social-media-Konzerne ihm die Konten gekündigt haben, ist der Caudillo aus der veröffentlichten Öffentlichkeit verschwunden. Eine Art Blog auf einer Webseite wurde mangels Interesses eingestellt, doch das hat wenig zu bedeuten (Wer liest schon Blogs ?). Aber der Ex-Präsident bleibt aktiv. Er hat tritt wieder auf Versammlungen auf, bei denen er republikanische Kandidaten seiner Couleur unterstützt und um Geld bettelt. Seine politische Kriegskasse ist intakt, unbenommen der rechtlichen Probleme seiner Firmen in New York. Und der Trumpismus lebt. Er breitet sich auch ohne die Führerfigur aus. Fox News, talk shows am Radio und die christlichen Sender speien weiterhin Gift und Galle. Sie nähren das Gefühl des Zukurzgekommenseins, des Nichtbeachtetwerdens und der Diskriminierung, welche die Leute ausserhalb der grossen Städte, das Volk auf dem Land empfinden und bereitwillig artikulieren. Das sind Millionen von Leuten, nicht alle politisch und nicht alles Wähler. William Galston, ein ehemaliger Clinton-Berater, schrieb vor kurzem über ihr “Gefühl der Verlorenheit in einem Land, das sie früher dominierten” – was die Kandidatin Hillary Clinton als deplorables bezeichnete und damit die Wut noch einmal schürte. Diese Gefühle sind jedoch verständlich, weil die Wortführer der Linken, die liberals, viel dazu tun, die Entfremdung zu verstärken. Der Kulturkampf wird nicht nur von rechts geführt. Der Kulturkampf der Linken, die groteske Ausfächerung der “sexuellen Identitäten”, die Insistenz auf dem Rassismus als Ursprung aller sozialen Übel, ihre Kodifizierung im Schulunterricht – all das ist für Millionen von Amerikanern zu weit von der gelebten Welt entfernt, um verstanden werden zu können, geschweige denn akzeptiert. Diesen Millionen liegen die Krankenkasse oder Mindestlohn näher als die “sexuelle Identität”. Die Ent-Ökonomisierung der amerikanischen Linken beisst sich in den eigenen Schwanz. Wie hiess es beim Präsidenten Clinton? It’s the economy, stupid!
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Es ist ruhig in Joe Bidens Amerika, ruhiger als in der Ära Trump, wo sich Provokation und Reaktion, Falschmeldung und Korrigendum jagten wie die Hunde einen Fuchs. Unangenehm ruhig. Wer sich auf Fox News und dem christlichen Radio fernhält, lebt in einer Trump-freien Welt der auferstandenen “Normalität”, wo Abgewählte ähnlich beschwiegen wird wie Lord Voldemort in den Harry-Potter-Geschichten. Wer sich auf Fox und Konsorten beschränkt, lebt in einer Gegenwelt, wo der Caudillo als Märtyrer der guten Sache gilt, ein Heiland des Kommenden. Biden-Welt und Trump-Welt. Dass die Novemberwahl gezinkt war, ist in der Trump-Welt Teil des politischen Glaubensbekenntnisses. In der Biden-Welt ist dieselbe Behauptung Lüge – nie erwähnt sie beispielsweise die New York Times ohne das Eigenschaftswort “lügenhaft”. Dass das Ergebnis für eine zweifelsfreie Ermittlung zu knapp gewesen sein könnte, wird ausgeschlossen. Beide Seiten haben über Bord geworfen, was in Demokratien gegeben sein muss: dass knappe Ergebnisse nicht Objekte von endlosen Rechtshändeln werden dürfen, und dass Verlierer ihre Niederlage, wie knapp auch immer, irgendeinmal anerkennen müssen.
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Das Amerika von Joe Biden ist ein geteiltes Land. “Wir in der roten Zone”, nannte Brian, ein Hotelmanager in Vicksburg/Mississippi die republikanisch (“rot”) regierten Gliedstaaten. Der Rest sind für ihn Ausland, die anderen, weit weg und ohne Bezug zu seinem Universum. Zwei Zonen, zwei Welten, zwei Arten zu denken, nichts Gemeinsames. Nehmen wir das Beispiel der Meinungs- und Meinungsäusserungsfreiheit: Für Trumpisten ist klar, dass der Ex-Präsident mit der Sperre durch Facebook und Twitter die seine verloren hat. Ein Liberal sieht das nicht, niemals. Ein Liberal sieht Beschneidung von Meinungs- und Meinungsäusserungsfreiheit, wenn die Rechte die Lehre linker Kulturkampfthesen im Schulunterricht einschränkt. Beide haben recht, aber dies zuzugestehen, ist auf beiden Seiten tabu. Die ur-amerikanische Haltung, dass alles – Alles mit dem grossen A – gesagt und verbreitet werden darf, ist am Zerbröckeln.
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Das rote und das blaue Amerika sind ähnlich segregiert wie weiland die katholische und die reformierte Schweiz, zu beobachten etwa an den Ruinen der politischen Auseinandersetzungen im vergangenen Jahr. Auf der Fahrt über Land sind nicht selten “Trump”-Schriften zu sehen, die meisten alt und verwitternd, einige aber auch auf die nächste Runde weisend. “Trump 24”, die Präsidentschaftswahl in drei Jahren. Am Bagnell Dam, dem gestauten Ausfluss des Lake of the Ozarks in Missouri, steht ein Stand mit “Trump 24”-Paraphernalien. How’s business?” – “Brisk”. Biden-Plakate sind nirgendwo mehr zu sehen, auch nicht in den Gegenden, wo demokratisch gewählt wird. Die besser betuchten Quartiere lassen eher die Black Lives Matter Schilder stehen.
Die Kluft macht mulmig. Sie schafft das Gefühl von Unruhe im Untergrund, Leben in einer Erdbebenzone. Denkbar, dass es in den Jahren vor dem Bürgerkrieg ähnlich empfunden wurde, als der Riss nach und nach alle Facetten ergriff. Heute sei es nicht viel anders, meinte Brian, der Hotelrezeptionist. Sicher, die Sklaverei gebe es nicht mehr. “Aber die Differenz zwischen den Sklaven von damals und den mexikanischen Arbeitern von heute ist gering”. Der einzige Unterschied sei sex trafficking, die Versklavung von Frauen für die Sexindustrie. “Das hatten wir damals nicht”.
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Vor dem Bürgerkrieg ging es auch rauh zu in der amerikanischen Politik, gewalttätig. Im Jahre 1856 traktierte der Kongressmann Preston Brooks den Senator Charles Sumner in der Senatskammer mit einem Spazierstock so heftig und andauernd (man schritt zunächst nicht ein), dass dieser nur knapp mit dem Leben davon kam. Soweit ist man heute nicht. Als Trumps Horden am 6. Januar das Parlament stürmten (4 Tote), blieben die Parlamentarier trotz politischer Differenzen friedfertig unter sich. Aber die Angst vor der Parteidoktrin ist gross. Reihenweise wird der Angriff von republikanischen Wortführern verniedlicht. Selbst Vizepräsident Mike Pence, den die Angreifer aufhängen wollten, weil er Bidens Wahl zertifizieren half, distanziert sich nur ganz, ganz vorsichtig (we don’t see eye to eye) , nach allen Seiten sichernd, vom Boss. Ein feiger Hund. Der red-blooded American, wie ihn die Nationalpropaganda ikonisiert, redet nicht so, wenn er mit dem Tod bedroht wird.
Wie hatte Ronald Reagan, der Wotan des Trumpismus gesagt? You ain’t seen nothing yet.
Publiziert auf www.watson.ch