Ich habe keine Schweizer Zeitung abonniert, aber manchmal lese ich eine im Café. Am Samstag vor einer Woche – Kabul stand kurz vor dem Einmarsch der Taliban – war es “Der Bund”. Der Sieg der Taliban sei “Bidens Schuld” stand dort im “Leitartikel” zu lesen. Der Amerikaner müsse nun “Flagge zeigen, und zwar rasch”. Soldaten schicken. Noch mehr als das Kontingent, das für den Abzugsschutz bestimmt ist. Die “paar Tausend”, wusste der Stratege, “reichen nicht”.

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Ob das Mahnwort aus Zürich das Weisse Haus rechtzeitig erreichte, ist nicht auszumachen. In jedem Fall kam es zu spät. Tags darauf ergriffen die islamischen Gottseibeiunse Besitz von Kabul, der Rest ist mehr oder weniger bekannt. In den vergangenen Tagen haben wir mehr über Afghanistan erfahren als in den zehn Jahren zuvor, es ist erstaunlich wie viel Wissen Leute wie der Denker des “Bund” auf einmal auszubreiten wissen.

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Zürcher Enthusiasmus für amerikanische Kriege hat Tradition. Mitte der siebziger Jahre verteidigte die “Neue Zürcher Zeitung” den Vietnamkrieg der USA, als ob es um das Bankgeheimnis ginge. Die NZZ habe aus Redaktionsbüros an der Falkenstrasse noch Krieg geführt, als die Amerikaner ihn schon aufgegeben hatten, spottete der grosse Niklaus Meienberg.  In diese Fussstapfen – im übrigen auch in jene des Berner Traditionsblatts – stellt sich der Leitartikler des “Bund”. Dass zwischen Vietnam und Afghanistan ein halbes Jahrhundert liegt, kümmert ihn nicht. Wie einst die NZZ führt nun der Tages-Anzeiger Krieg mit Amerikas Soldaten – ungeachtet der zahlreichen Unterschiede, welche das halbe Jahrhundert zwischen den beiden Feldzügen ausmacht.

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 Verglichen mit dem “Bund” von heute hat die NZZ von damals geradezu rational geleitartikelt. In den siebziger Jahren war die Welt eine andere als heute. Sie war in zwei sogenannte “Supermächte” aufgeteilt: Hie der “Osten” mit der Sowjetunion am Ruder – dort der “Westen” unter Führung der USA. Sie waren in ein geopolitisches Nullsummenspiel verwickelt: was des einen nicht war, musste des anderen sein. Die “Neutralität” gab es nicht, oder allenfalls im engen Gehege der Bundesfeiern, WK-Ansprachen und Bundesratsbeteuerungen. Die Schweiz wusste sehr wohl, auf welcher Seite ihr Brot bebuttert war. Deswegen wurde der “Osthandel” verpönt und das Rote geächtet. Die Schweiz gehörte zum “Westen”. Deswegen führte die NZZ Krieg in Vietnam. Im Gegensatz dazu gibt es heute die “Supermächte” nicht mehr. Die Welt ist in mehrere Pole unterteilt, das Nullsummenspiel ist aus. Russland und die USA sind keine unbestrittenen Führungsmächte, sondern reizbare Grobiane auf kleiner gewordenen Schulhöfen. Den “Westen” gibt es nicht mehr als politisches Gebilde, sondern allenfalls als ideologischen Schatten mit flexiblen Bezügen zur Realität: Menschenrechte oder Selbstbestimmung werden dort hochgehalten, wo es wirtschaftlich nicht weh tut.

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Es ist richtig, dass “wir” – die wir die Gleichberechtigung der Frauen, das Recht auf Schminke und Popmusik, Wein, Weib und Gesang hochhalten und mit Voltaire (“écrasez l’ infâme”) alle kirchlichen Bevormundungen des Lebens bekämpfen – dass wir von der Machtübernahme der Taliban betroffen sind. Es ist keine Frage, dass die neuerliche Errichtung eines Gottesstaates am Hindukusch Europas Islamiker beflügeln wird, welche die breite Palette reaktionärer Verhaltensregeln propagieren, vom Schulschwimmen über das Klassenlager bis zum Platz der Frau in der Gesellschaft. Aber “wir” sind nicht die Amerikaner. Erstens, weil die erwähnte Palette reaktionärer Verhaltensregeln dort ebenfalls im Schwange ist, weit stärker als bei uns. Und zweitens, weil nicht einzusehen ist, warum das amerikanische Militär geschickt werden sollte, wenn “wir” uns betroffen fühlen.

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Damit wären wir bei Europa. Hier wird hochgehalten, was Taliban-Afghanistan bekämpfen und angreifen wird. Das bedrohte “wir” ist Europa. Wenn schon, müsste über den Einsatz europäischer Soldaten gesprochen werden – NATO-Soldaten, immerhin firmiert der Afghanistankrieg (es hat ihn niemand als beendet erklärt) als Sache der NATO. In diesem Punkt schweigen die Leitartikler vom Schlage “Bund” beharrlich. Gerade sie: In der Schweiz ist “Europa” ein politisches four-letter-word. Die Qualitätsjournalisten in den  Qualitätsmedien wie “Der Bund” gerne eines ist, scheuen die Auseinandersetzung mit dem real existierenden Europa – also der Europäischen Union – wie der Teufel das Weihwasser. Besser das Männchen gemacht und dem “sleepy Joe” die Meinung gegeigt: Soll Soldaten schicken, das Weichei.

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Aber nicht unsere. Am vergangenen Mittwoch war ich wieder im Café. Nahm nochmals den “Bund” in die Hand und las wieder über Afghanistan. Da erinnerte sich einer an die vier Schweizer Soldaten, unbewaffnete, die der Verteidigungsminister als Beitrag an den Krieg gegen Al Qaeda entsandt hatte, damals, als im Krieg die grosse Hoffnung gegen den “Terrorismus” erblickt worden war. Erinnerte sich an die schweizerische Erregung, als der Verteidigungsminister Schmid den Schweizer Beitrag um zwanzig weitere Soldaten aufstocken wollte, und daran, wie er von seiner Volkspartei gedeckelt und verhöhnt und gezwungen wurde, seine Pläne zu begraben und die vier abzuziehen. Der Autor zeigte unverhohlene Befriedigung über jene Abfolge der Dinge: Von da an sei jede Beteiligung der Schweiz am NATO-Krieg vom Tisch gewesen.

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Wie sagt das Sprichtwort: Weit vom Geschütz gibt die alten Krieger. Aber “sleepy Joe” soll Soldaten schicken.