Vergangene Woche war ich in Deutschland. Per Fahrrad (man trägt derzeit grün), Radweg «Deutsche Einheit»  Bonn-Berlin. Dem Rhein nach aufwärts bis Koblenz, dann Tal der Lahn, über die Höhe ins Tal der Fulda, wieder über die Höhe ins Tal der Leine. In Göttingen Abbruch wegen einer Planänderung. Befund: Helmut Kohl hatte recht, «Deutschland ist schön». Zwischen den Dörfern gibt es richtig Land, die Flüsse sind unverbaut, die Radwege oft ausreichend signalisiert. Ausser in Marburg. Und in Giessen. Und vor Göttingen. Und auch sonst in Niedersachsen. Dort sind die Radwege von Sadisten geplant worden – auf der gewöhnlichen Strasse käme man doppelt zügig vom Fleck.

Nicht zu übersehen, dass Deutschland wählt – morgen Sonntag ist es ja soweit. Aus der Berichterstattung in der Schweiz schlägt dem «Medienkonsumenten» eine gewisse Wurstigkeit entgegen. Die offene Situation macht unwirsch und nervös. Die «Neue Zürcher Zeitung», in Deutschland das Sprachrohr der Neuen Rechten, lässt kein gutes Haar an den sozialdemokratisch geprägten Merkel-Jahren und malt den «Reformbedarf» an die Wand. Was sich sonst in den Schweizer Gazetten aufschnappen lässt, ist journalistische Bückware. Hier ein Umfrageresultat, dort ein Hinweis, dass der Wahl die grossen Themen und die noch grösseren Persönlichkeiten fehlen, da ein Befund, dass sie den Bürgern ziemlich egal sei. Das ist alles ziemlicher Unsinn. Die Bundesrepublik steht im europäischen Vergleich gut da, ebenso gut wie Europa im Weltvergleich, was der Sehnsucht nach den tiefen Reformen die Spitze bricht. Die Wahlbeteiligung wird ungleich höher sein als in der Eidgenossenschaft oder in den Vereinigten Staaten. Und der Geringschätzung des deutschen Wahlbetriebs steht der Umstand gegenüber, dass Deutschland nicht nur der wichtigste ökonomische Partner der Schweiz, sondern – weit bedeutender – der massgebliche Mitgliedsstaat der Europäischen Union ist. Das mag den Neuen Zürchern in die Nase stechen, bleibt aber so.

 

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Auf ein paar Tagen Fahrradtour erfährst Du nicht alles zur Lage im Land. Aber ein paar Beobachtungen verdienen es, festgehalten zu werden.

Erstens die Vielfalt. Überall, auch im hintersten Winkel sind kleine und kleinste Parteien mit Plakaten präsent. «Volt» (Paneuropäer), «Piraten», «Die Basis», eine «Klimaliste». Und etwas, das sich «Team Todenhöfer» nennt, auf einen Minister des vergangenen Jahrhunderts ausgerichtet. Auffällig oft – es mag an der Route liegen – fallen die Plakate der rechtsextremen «Alternative für Deutschland» (AfD) ins Auge. Die Fünf-Prozent-Hürde (Einsitznahme im Parlament nur für Parteien, die national 5 Prozent der Parteistimmen erreichen) ist kein Thema mehr. Neben den beiden Grossen (CDU/CSU und SPD) werden die Freien Demokraten (Liberale), die Grünen, die Linke (Ex-Kommunisten) und die AfD im Parlament sitzen. Dass zwei Parteien die notwendige Regierungsmehrheit zusammenkriegen, ist unwahrscheinlich, es sei denn, die «grosse Koalition» aus Christ- und Sozialdemokraten werde ein viertes Mal erneuert. Wahrscheinlicher ist eine Regierung aus drei Partnern in drei Kombinationen: «Rot-Rot-Grün» (SPD, Linke, Grüne), «Jamaica» (CDU, Grüne, Liberale) und «Ampel» (SPD, Grüne, Liberale). Das wird ein episches Thema der Wahlnachtsendungen werden und macht Angst. «Die politische Stabilität in Deutschland ist weg», sagt mein Freund H. in Bonn.

Zweitens ein Manko an Enthusiasmus. Ich habe niemanden getroffen, den der Wahlkampf zum Platzen bringt. «Is mir schnuppe», sagte unsere Freundin J. in Berlin auf die Frage, wer als nächstes regieren werde. Ihre Hauptsorge ist das Erstarken der AfD, die in einigen Bundesländern zweitstärkste Partei geworden ist. Alle Umfragen zeigen, dass der Aufstieg gebremst wird. Das sei das Wichtigste, sagt J. und alles andere zweitrangig. In einer Kneipe in Limburg unterhielten sich zwei Männer beim Bier. «Der Scholz könnte Kanzler werden», sagte der eine. «Ja, aber ich glaube nicht, dass sich etwas ändern wird», der andere. Nach Monaten der permanenten politischen Erregung in Amerika tut der Mangel an Enthusiasmus in Deutschland wohl. Er ist übrigens nicht dasselbe wie Wahlabstinenz. Die drei Erwähnten hatten bereits gewählt, per Briefwahl.

Drittens die Enttäuschung bei Grün. Alle, restlos alle, die ich getroffen habe, viele davon eher links und grün, finden Annalena Baerbock die falsche Person für die grüne Kanzlerkandidatur. Ein Beispiel aus dem ICE auf der Rückfahrt in die Schweiz. Im Nebenabteil vier Frauen auf einem Ausflug nach Frankfurt, leicht aufgekratzt, auch die übliche Verspätung der Deutschen Bahn tat der guten Laune keinen Abbruch. Zuerst unterhielten sie sich über Autos, das Für und Wider einer Neuanschaffung gegenüber einem Motorersatz beim alten Renault, dann fragte eine in die Runde: «Hat jemand das Triell gesehen?» So hiess das TV-Format, in dem lediglich drei Parteien debattierten. Nein, lautete die einhellige Antwort. Zu langweilig sei das, aber  es habe eine andere Sendung gegeben, mit Lindner von der FDP, Habeck von den Grünen und Frau Esken von der SPD, die sei informativer gewesen. Einmütig wurde Kritik an der sozialdemokratischen Doppelspitze geübt, die aus Leuten bestehe, die «noch nie gearbeitet haben», sondern direkt von der Universität in die Berufspolitik gestiegen seien. Der Grüne Habeck, in der internen Ausmarchung gegen Baerbock unterlegen, wurde hoch gelobt, Frau Baerbock als zu leichtgewichtig weggeschoben. Die Kandidatin muss sich den Vorwurf gefallen lassen, ihre Biographie geschönt und bei der hurtigen Abfassung eines Buchs zum Wahlkampf ohne Quellenangabe abgeschrieben zu haben. Feministinnen weisen darauf hin, Baerbock werde mit anderer Elle gemessen werde als männliche Kandidaten, aber der Schaden ist da. Die Grünen, im Frühling und Sommer ganz auf die Person an der Spitze fixiert, machen jetzt mit ihrem Thema Kampagne: Kampf dem Klimawandel. Das wird solide Wählerprozente geben. «Klimaneutralität», «Ausstiegspfad» oder «Klimaziel» sind in aller Munde. Aber vielen ist die «soziale Gerechtigkeit» ebenso wichtig wie die Erderwärmung. Ein Punkt für den Sozialdemokraten Scholz.

Viertens die Enttäuschung bei Schwarz. Armin Laschet, der Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen gilt der Rechten als der falsche Kanzlerkandidat der Christlich-Demokraten. Sie hätten lieber den Bayern Söder gesehen, eine schillernde Figur, der das Volkstümelnde ebenso beherrscht wie die «klare Kante» gegen Steuererhöhungen und staatliche Leitplanken für die Wirtschaft. Laschet ist ein etwas lehrerhafter, ein wenig weich wirkender Mann, dem der letzte Biss zu fehlen scheint. Zu vermuten ist jedoch, dass es eher seine Positionen sind, die ihn weiter rechts unbeliebt machen.  In den Debatten stellt er sich unmissverständlich hinter die Flüchtlingspolitik der Regierung Merkel, die 2015 eine Million Syrer im Land aufnahm. Er spricht sich für starke Gewerkschaften aus, und er versichert, mit der AfD nicht einmal sprechen zu wollen. Möglich, dass die rechte Stichelei gegen Laschet ihm auch Wähler zutreibt. «Ich wähl’ extra CDU, wegen Laschet», sagt mein Tischnachbar in einem Biergarten in Nassau, der sich als «Wechselwähler zwischen CDU und FDP» bezeichnet. «Mit Söder kann ich nichts anfangen».

Fünftens die Aussenpolitik. Sie komme zu kurz, lautete das Lamento der letzten Wochen vor der Wahl. Zu wenig werde Deutschlands Rolle auf dem Kontinent und in der Welt debattiert. Das stimmt, aber was denn zu debattieren wäre, wird nie so deutlich ausgesprochen. Die AfD möchte mehr nationales Deutschland und weniger Europa, die Linke mehr internationales Deutschland und keine Nato. Beides ist für die anderen Parteien kein Thema. Deutsche Aussenpolitik wird im Wesentlichen in Brüssel gemacht, und sowohl die Europäische Union wie Deutschlands Führungsrolle darin sind unbestritten. Differenzen ergäben sich allenfalls im Punkt «europäische Eigenständigkeit» – will heissen, wie viel Europa, das ist die Europäische Union, sich zuzumuten bereit ist, um nicht mehr als sicherheitspolitischer Lehensmann der Vereinigten Staaten da zu stehen. Wie das geht, hat der sozialdemokratische Kanzler Schröder Anfang des Jahrtausends vorgeführt: Nein zu dummen amerikanischen Kriegen (Irak) – Ja zu Interventionen der Allianz (Afghanistan).

Sechstens Scholz. Der Sozialdemokrat gilt weitherum als am besten geeignet für das Kanzleramt. Nicht, weil er grosse neue Taten verspricht, sondern als Kandidat des «weiter so» – weiter wie mit den grossen Koalitionen unter der Christdemokratin Merkel, aber diesmal mit rotem Vorzeichen. Moderat sozialdemokratisch, ohne linke Experimente, unspektakulär. Völlig überraschend hat der Kandidat, weder ein Blender noch ein Charismatiker, die Partei hinter diesem Szenario geeint und aus einem historischen Tief zur Führung in den Umfragen gehievt. Die Christdemokraten stellen ihn als Wolf im Schafspelz dar und malen den kommunistischen Teufel «Rot-Rot-Grün» an die Wand. In seinen Debattenauftritten erklärt Scholz den Linken den Tarif: Ja zur Nato, Ja zu deutschen Militäreinsätzen im Ausland, Nein gegen Enteignungen von Wohnbaugenossenschaften. Auf dieser Basis dürfen sie mitregieren, sonst nicht. Sagt Scholz. Er scheint den Mitterrand machen zu wollen: Der französische Sozialist hatte die Kommunisten Anfang der achtziger Jahre in die Regierung eingebunden und in der Regierungsarbeit zerrieben.

Siebtens die Schleimerin. Zurück in der Schweiz, letzte Wahlsendung mit den Kandidaten aller grösseren Parteien. Erste Frage: Was sagen Sie zum Verbrechen in Idar-Oberstein (Rheinland-Pfalz), wo ein Corona-Querdenker den zwanzigjährigen Kassierer einer Tankstelle erschossen hat, weil dieser ihn auf die Maskenpflicht im Laden hinwies? Fünf Spitzenkandidaten sagen ungefähr dasselbe: Schärfere Verfolgung von Hasspropaganda im Internet, schärferes Waffenrecht, früheres Vorgehen gegen Aufrufe zur Gewalt. Die Spitzenkandidatin der AfD, eine Frau Weidel, antwortet, sie sei «gegen die Stigmatisierung» von Impfgegnern, Maskenverweigerern und Corona-«Skeptikern». Kein Wort zur Tat, keine Sicherheitslinie zwischen Querdenkerei und Mord. Alles vorgetragen aus einem spöttisch gekräuselten Mund. Man kennt das von früher. So antworteten «Bewegungen», wenn ihnen Gewalt aus ihrem Dunstkreis vorgehalten wurde.  Ist der einen billig, was den anderen recht war? Der Bayer Söder gab Frau Weidel eine Antwort. Es gehe nicht um «Stigmatisierung», sondern um «Stimulierung». Die Stimulierung von Gewalt bis hin zu Mordaufruf und Totschlag im Habitat der «Querdenker» durch die Weidels dieser Welt.

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Ob Bundesrat Maurer jenen Söder kennt? Wäre ja denkbar, weil die bayerische CSU von der schweizerischen SVP nicht allzu weit entfernt agiert. Mit Ausnahme vielleicht des Randes ganz rechts. Es wäre interessant, Maurer und Söder zum Thema «Stigmatisierung und Stimulierung» zuzuhören. Könnte ein talk sein.