Meine Ärztin sagt, das Übel liege in den «sozialen Medien». Seitdem jeder alles überall in die Welt posaunen könne, habe die wissenschaftlich abgestützte, nachprüfbare Kenntnis einen schweren Stand in der Gesellschaft. Deshalb sei der Widerstand gegen die COVID-Impfung in der Schweiz (tiefste Impfquote Europas) so gross. Ein Schweizer Diplomat sagt, die Corona-Dauerkrise habe bewirkt, dass die Politiker vermehrt auf die Erkenntnisse der Wissenschaft hören müssten, was sehr positiv zu bewerten sei. In der Warteschlange zur Boosterimpfung im Spital unterhalten sich der ehemalige Regierungsrat und ein Anhänger über das schwere Los der Regierungen, und der Regierungsrat sagt, das Problem seien eben die cheibe Referenden, welche die ausgehandelten Gesetze wieder in Frage stellten.

Ich schreibe, nachdem die wenigen noch bestehenden Wahllokale (hier im Dort Sonntagvormittag 1 Stunde) geschlossen und die Stimmzettel noch nicht ausgezählt sind, also in Unkenntnis des Abstimmungsergebnisses über das COVID-Gesetz und ausser Gefahr, als Monday morning quarterback dazustehen. Aber ich muss etwas loswerden: Das politische Vertrauen in die Wissenschaft ist unzureichend und der Zweifel an den Volksrechten falsch. Lätz. Eine Ablehnung des COVID-Gesetzes – ein Gesetzlein – ist nicht bedeutend genug, um den eigenen politischen Verstand an irgendwelche Wissenschaftler zu delegieren oder das Recht auf Volksreferenden auszusetzen.

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Die Wissenschaft. Als Singular gibt es sie nicht, und wo sie als Singular auftritt, macht sie sich verdächtig. Was hat «die Wissenschaft» uns nicht alles für Unsinn aufgetischt? Die Phantasien von der Privatisierung. Das Hohelied der Steuersenkungen um jeden Preis. Die Atomkraft: In den sechziger Jahren sagte die Wissenschaft, verkörpert von einem ETH-Professor Kneschaurek, dass die Schweiz ohne 10 Atomkraftwerke lull und lall dastehe, und es bedurfte des energischen ausserparlamentarischen Einsatzes zehntausender von Bürgerinnen und Bürger, um den Kurs zu korrigieren.

 

Die cheibe Referenden. Nur wenn sie sie gegen den Strich bürsten, sind sie der Regierung lästig. Werden die Abstimmungen über die zweite Gotthardröhre oder das COVID-Gesetz (das erste, Juni dieses Jahres) oder die «Ehe für alle» oder die Strassenbaufinanzierung angenommen, pfeift kein selbternannter Schiedsrichter offside. Dann ist das Referendum cheibe guet  und preist männiglich die grossartige politische Organisation der Eidgenossenschaft, besonders gern im Ausland.

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Der Widerstand gegen das COVID-Gesetz kommt von rechts, aus der «Mitte der Gesellschaft», wo man in Deutschland gerne den fruchtbaren Boden der Diktatur verortet. Die Parallelen zur Trump-Bewegung in den USA sind augenscheinlich, mit dem lehrreichen Unterschied, dass in der Schweiz kein Führer an der Spitze steht – es wäre denn, dass der Heiland von Herrliberg die offensichtlich gut bestückte Kampagne finanziert. Wie in den USA oder in Deutschland findet dieser Widerstand in der radikaleren Linken und im Milieu der alt-68er einen Widerhall, denn er nimmt auf, was dort und damals bewegt hat: Das Misstrauen gegen die grossen multilateralen Konzerne (Oel, dann Pharma, natürlich die Banken). Der Verdacht von Absprachen unter den Eliten gegen das Volk («Machtnetze» – in den billigeren Enthüllungsmedien gerne verwendet). Der Widerstand gegen alles, was vom Staat kommt («Bullen», «Bullenschweine»), gelegentlich gepaart mit der «klammheimlichen Freude» über entsprechende Aktionen. Das alles kommt in der Ablehnung des zweiten COVID-Gesetzes zum Schwingen und wird von der Kampagne aufgenommen: «Gegen Diskriminierung».

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Die Kampagne allein sollte genügend Motiv sein, das Gesetz anzunehmen. Die graphische Handschrift ist dieselbe, welche die Kampagnen für das Burka-Verbot und «Kriminelle Ausländer raus» beflügelt hat. Die Macher sind beidhändig. Sie können Anti-Diskriminierung und Diskriminierung.  (Klammerbemerkung: Als das Parliament die Überwachungsmöglichkeiten von verdächtigen Kriminellen ausweitete, kam kein Referendum zustande: Rechts war das recht, weil es gegen «Terroristen», Moslems vor allem aus dem Ausland geht).

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Das Volk verdient etwas mehr Vertrauen in den cheibe Referenden. Nimm meine Tante L, mitte 80, im Emmental. Ihr Hausarzt hatte ihr dringend ans Herz gelegt, sich ja nie impfen zu lassen. L sagt, der Arzt habe allen Patienten abgeraten, er nehme auch an den Demonstrationen teil und sei auch schon gemassregelt worden. Es gebe halt unterschiedliche Meinungen. Aber der Hausarzt ist eine feste Grösse im Leben jener Generation, die Autorität, und Tante L hielt sich an die Anweisung. Bis sie im September an den Altershöck der Kirchgemeinde wollte und – weil ungeimpft – nicht zugelassen wurde. Da nahm sie die Güterabwägung zwischen den Altersnachmittagen hier und heute und den behaupteten Langzeitschäden in späteren Jahren noch einmal vor und liess sich impfen.

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Cheibe Züg. Es gibt mehr Tante Ls in der Schweiz als Landärzte.