Lieber Peter,

 

Ich habe mich lange nicht gemeldet. Das schlechte Gewissen wird langsam so stark, dass es die Schreibbereitschaft zu hemmen droht, so sie denn einmal da ist. Aber noch ist es nicht soweit. Ich berichte Dir von Deutschland, wo ich in diesem Herbst zweimal war. Berlin.

Das erste Mal Ende September, gleich vor der Wahl, mit dem Rad von Bonn bis Göttingen (Geheimtip: Das Lahntal) , das zweite Mal Ende Mitte Oktober, gleich nach der Wahl, mit dem Zug. Das ist nicht nur wegen dem «Klimaschutz» gut (ich schreibe das in Anführungszeichen, weil es ein Blödmannwort ist, wenn es im Zusammenhang mit Fernreisen verwendet wird: Wer das Klima schützen will, bleibt zuhause – ich mache es nicht), sondern auch wegen der Berliner Flugbedingungen. Der neue Flugplatz ist zu weit weg von der Stadt, und die Abfertigung klappt offensichtlich nicht. An einem etwas belebteren Ferienwochenende mussten Passagiere stundenlang auf ihr Gepäck oder die Abflugkontrollen warten, was die Verantwortlichen mit dem gewohnten Hin- und Herschieben der Verantwortungen kommentierten. Einer wurde in der Berliner Zeitung mit der Bemerkung zitiert, es komme schliesslich jeden Tag vor, dass ein Passagier einen Flug verpasse und sei also nichts Besonderes. War das nicht die Tonart im alten Osten? Die Lufthansa empfahl Mitte Oktober, vier Stunden vor Abflug beim «Willy Brandt» einzutreffen. Von Olten her kommend, bist Du nach vier Stunden schon etwa in Frankfurt.

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Im Bus, ich war auf dem Weg zur Hodler-Ausstellung in der Berlinischen Galerie (erstaunlicherweise ohne den Holzfäller – vielleicht wurde Blocher nicht angefragt, ob seinen leihen würde, vielleicht hat er ihn nicht herausgerückt), im Bus also überhörte ich am Landwehrkanal ein Gespräch zwischen einem älteren Ehepaar.

Was hältst Du vom Berliner Bürgermeister?

Müller? Der macht das ganz gut. Unaufgeregt.

Finde ich auch. Ziemlich solide Arbeit.

Er ist unprätentiös, weisst Du. Unprätentiös.

 Wie gesagt, war das bereits nach der Wahl, wo Müller nicht mehr angetreten war und seine Sozialdemokraten knapp gewonnen haben, «im Bund» ebenso wie in Berlin.

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«Unprätentiös» und «solide», die Positivetiketten des Paars im Bus oben, treffen auf den neuen Bundeskanzler Scholz zu, der nun dabei ist, die Ampelkoalition zusammenzustellen, Sozis, Grüne und Liberale. Wenn einer unprätentiös und solide daherkommt, dann dieser durchkontrollierte Olaf. An ihm bleibt nichts hängen, nicht die eigenartige steuerliche Behandlung der sogenannten «cum-ex»-Aktiengeschäfte (steuerfrei kaufen, kurz vor der Steuerfälligkeit wiederverkaufen), die er als Finanzminister beaufsichtigte, nicht die nicht noch eigenartigere, aber gängige Nähe zur Bank in seinem heimischen Hamburg und nicht die offen plakatierte Nachfolge der Ewigkanzlerin Merkel, die jetzt, zum Abgang, doch in erheblicher Kritik steht. Merkel wird links und rechts angelastet, manches verschleppt und ausgesessen zu haben, von der Digitalisierung der Verwaltung über die Sanierung der Rentenkasse (ein alter politischer Ladenhüter) bis zur zögerlichen Umsetzung des grünen Wirtschaftsumstiegs. Scholz, der männliche Merkel, soll das nun alles richten – ein Widerspruch, der stehen gelassen wird.

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Die Ampel ist bis jetzt verhüllt. Was wir als Zeitgenossen wissen, ist ziemlich banal, und was das Nachrichtengeschäft im Angebot hat, ist auch nicht mehr wert. Die Ampelschlosser halten dicht, zum Leidwesen «der Medien». Sicher ist – anders als vergangenes Jahr in den USA – kein grösserer Wurf zu erwarten. Die signifikant stärkere steuerliche Belastung der höchsten Einkommen, dringlich notwendig,  bleibt aus, weil die FDP (die Partei der «Besserverdienenden») sich durchsetzt. Aus demselben Grund  wird der Staat sich auch nicht weiter verschulden können, um einen ökologischen Umbau der Wirtschaft anzutreiben. Offen und sehr bedeutsam ist, wie die Scholz-Ampel sich in der Europäischen Union verhalten wird. Härte gegen den Süden, wie unter Merkel/Schäuble? Konsequenz gegen die Unterwanderer im Osten? Welche Migrationspolitik? Wieviel politische (und militärische) Eigenständigkeit? Und dahinter die Frage, wie lange die Parteibasen der Koalitionäre still halten, alle drei.

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In Berlin, dem Bundesland, ist bereits ein Kontrastprogramm angelaufen. Dort kann nun Franziska Giffey eine Regierung bilden, an der Stelle des unprätentiösen Müller. Du erinnerst Dich? Giffey war die Nachfolgerin des Neuköllner Bürgermeisters Heinz Buschkowsky, der die Schwierigkeiten mit Türken und Arabern in seinem Bezirk offen benannt hatte und dafür im Fegefeuer des linken Anstands gelandet war. Sie wurde dann Bundesministerin, aber nur kurz, als herauskam, dass sie ihre Doktorarbeit zu sehr abgeschrieben hatte, musste sie zurücktreten. In Berlin hat ihr das offensichtlich nicht geschadet. Wer sagt, die Sozialdemokratie sei eine Akademikerpartei? Giffey strebte im Wahlkampf offen den Umstieg von der rot-rot-grünen Regierungskoalition zu einer Ampel nach Scholzens Muster an, wurde aber von der eigenen Partei zurückgepfiffen. Die Berliner SPD will nicht mit den Liberalen. Giffey muss mit den Grünen und der postkommunistischen Linken weiter regieren. Die Erwartungen sind klein.

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Auch auf Bundesebene ist der sozialdemokratische Regierungsanfang nicht von einem Drang nach Neuanfang und Reform beseelt, anders als 1969 (Brandt) oder 1998 (Schröder), wo die Reform und die Modernisierung die Rhetorik beherrschten (die Schröder-Kampagne hauchte damals der «Willy wählen» Kampagne neues Leben ein). Mit Ausnahme der Freien Demokraten, welche den uralten liberalen Ex-Innenminister Gerhart Baum (70er/80er Jahre, «Terrorismus») in die Fernsehsendungen schicken, bleiben die Reminiszenzen an frühere «sozialliberale» Ansätze aus. Die Führer streichen die grossen Worte aus der Rhetorik und markieren Entschlossenheit, das wenige, das machbar ist, auch wirklich durchzuziehen.  Alle Seiten versichern, die eigenen Ziele würden in der Regierung nicht voll umgesetzt werden können, es gehe um «Kompromiss» und Verlässlichkeit, Abgemachtes zu realisieren. Von «Reform» ist selten die Rede. Das ist gut so. «Reform» ist in den vergangenen drei Jahrzehnten zu einem Schlagwort der liberalen Rechten geworfen – denjenigen, welche die sozialdemokratischen Errungenschaften abbauen, den Ansprüchen der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer die Türe weisen und den rücksichtslosen Selbstverwirklichern freiere Bahn schaffen wollen. Wo «Reform» auf der Flasche stand, war Essig drin. Linke Wähler, die für «Reform» stimmten, wurden regelmässig betrogen.

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Es ist ein wenig Verschweizerung, was Deutschland politisch erlebt. Die gewohnte Polarisierung – hie «rot», da «schwarz» – wird durch eine Vielfalt an Optionen ersetzt. Das Führungspersonal zeichnet sich durch Blässe und Vorsicht aus. Es regieren die Anti-Charismatiker, gestützt von einem Heer mehr oder weniger fähiger Medienmasseure und «Kommunikations»-Experten. Ob das Deutschland hilft? Ob Deutschland das kann? In der Schweiz, wo der ungeschriebene Kompromiss und die ungefragte Rücksichtnahme auf die anderen während Jahrzehnten eingeschliffen sind,  ist dieses System am Zerbröckeln. Es findet keine taugliche politische Antwort auf eine um sich greifende Unbefriedigtheit – ein «Malaise», wie es Anfang der sechziger Jahre hiess. Die Halbschuhe der «Freiheitstreichler» sind nur der Anfang. Dahinter werden Stiefel kommen. Auf die deutsche Lage übersetzt: Der grosse Test der Ampel wird darin bestehen, welchen Weg sie der Massenbasis der neuen Rechten weist – in die Marginalität, woher sie gekommen ist, oder in die Dauerhaftigkeit, wohin sich strebt.

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Genug von Politik. Das Beste an meinem Berliner Aufenthalt war ein Besuch im Deutschen Historischen Museum. Ausstellung über den Nachkriegswerdegang der Maler und Bildhauer auf Adolf Hitlers Liste der «Gottbegnadeten». Ich wusste von Arno Breker, dem in den achtziger Jahren eine Ausstellung in Berlin gewidmet war, welche damals scharfen Protest von Demonstranten hervorrief. Aber Breker war beileibe nicht der einzige, der sich in der Nachkriegszeit behauptete. Die Ausstellung zeigt anhand einiger Beispiele, wie «Gottbegnadete» Professorenstellen belegten, öffentliche Aufträge erhielten, eine private Klientel bedienten und ihr Wirken im Dritten Reich öffentlich verteidigten. Der Bildhauer Willy Meller schuf in den fünfziger und sechziger Jahren im öffentlichen Auftrag Mahnmale für die Kriegsopfer. Richard Scheibe lieferte die Plastik für die Gedenkstätte an den Putsch vom 20. Juli 1944 im Bendler-Block in Berlin.  Paul Mathias Padua porträtierte die konservative bayerische Schickeria , inklusive Franz Josef Strauss. Hans van Breek, Arnos Bruder, lieferte eine Karl-Marx-Büste nach Moskau. Viele dieser Künstler stellten sich bewusst gegen die Moderne, oft im Namen eines vermeintlich zeitlos gültigen Rasters dessen, was Kunst ist und was nicht. Einige führten das Argument auch in der Nachkriegszeit weiter, gelegentlich öffentlich, wie Ausschnitte aus Fernsehsendungen zeigen.  Das eindrücklichste Exponat ist ein TV-Interview des Malers Werner Peine, in welchem er seinen Nationalsozialismus in den Kontext der Ablehnung der Moderne stellt, ohne grösseren Widerstand des Interviewers.

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Das Deutsche Historische Museum setzt einen willkommenen Kontrapunkt zur Auffassung vom Nationalsozialismus einer abgeschlossenen, von der Gegenwart hermetisch abgetrennten Epoche. So war es nicht. Nicht in der Kunst, und nicht im Politischen, wo wir heute sehen, wie einige der abgestorben geglaubten Triebe wieder ausschlagen. Die Ausstellung läuft noch bis 5. Dezember – wenn Du dort bist, gehe hin.