Die Schweizer stimmen über alles ab, es sei denn, es gehe um ganz wichtige Dinge wie die Rettung einer Grossbank mit Steuergeld oder den Kauf eines teuren amerikanischen Fliegers für das Militär. Und nicht alle Abstimmungen sind folgenreich, einige sogar folgenlos. Die Verfassungsartikel zur staatlichen Altersversorgung oder zum Umweltschutz lagen jahre-, jahrzehntelang brach, bis ein Gesetz festlegte, wie der Staat dem Volkswillen Folge zu leisten habe. Die Sommerzeit haben die Schweizer irgendeinmal abgelehnt, aber sie wurde dennoch eingeführt.

In jene zweite Kategorie gehört die Abstimmung über das COVID-Gesetz. Zu entscheiden ist im Wesentlichen, ob das elektronische Zertifikat für COVID-Geimpfte weiter bestehen, oder ob es – Notrecht – in einem Jahr auslaufen soll.

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Je nun. Fällt das Zertifikat, so wird es bei einem neuerlichen Aufflammen eines Virus, ob Corona oder etwas anderes, halt wieder eingeführt werden. Werden müssen. Wie die Sommerzeit. Sicher, ein Nein zum Gesetz macht alles etwas komplizierter und für eine Reihe von Bürgern auch schwerer – diejenigen nämlich, deren Staatsunterstützung mit dem Zertifikat ebenfalls in den Orkus geschickt wird. Das wird von den Gegnern als Kollateralschaden akzeptiert. Für sie geht es um «Diskriminierung» derjenigen, die sich nicht impfen lassen wollen, deshalb kein COVID-Zertifikat kriegen und ohne COVID-Zertifikat nicht mehr in die Wirtschaft können. Oder in den Klub.

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Das ist Mumpitz. Von «Diskriminierung» redet man gemeinhin, wenn es um Ungleichbehandlungen aufgrund unveränderlicher Eigenschaften geht. Die Hautfarbe, das Geschlecht, in unappetitlicheren Zusammenhängen auch die sogenannte «Rasse». Nicht geimpft zu sein ist kein Kriterium für «Diskriminierung», weil leicht zu beheben. Ein Ungeimpfter ist ebensowenig «diskriminiert» wie ein Autofahrer, der sich weigert, den Sicherheitsgurt anzuschnallen (wenn richtig erinnerlich, war die Einführung der Gurtenpflicht in den 80er Jahren ebenfalls von einigem Freiheitsgedöns begleitet).

Auf der politischen Ebene sieht die Sache anders aus. Denn in der Politik geht es nicht nur um Rationalitäten, Sachlichkeiten und Fachleutewissen. Es geht dort auch um Gespür, Misstrauen, Verdacht, Gefühl, Begeisterung. Auf dieser Ebene entfacht die COVID-Gesetzesvorlage eine Kraft wie sonst nur, wenn es gegen «Europa» oder «die Ausländer» geht. Sichtbar ist das an den Nein-Plakaten. Bei uns im Dorf sind sie allgegenwärtig. Der Dorfarzt musste eines Morgens sogar feststellen, dass der Patientenparkplatz – ohne sein Wissen – für die Propaganda benutzt wurde, welche das Gesetz als «gefährliche Covid-Verschärfung» denunziert. Das ist nicht nur eine glatte Lüge, sondern im vorliegenden Fall auch eine Rufschädigung.  Das Gesetz mag sein, was es wolle, aber es führt mit Sicherheit nicht zu einer «Verschärfung» der Pandemie. Im Gegenteil. Den Gesetzesgegnern ist das offensichtlich egal. Sie sind zu erbittert, um auf den Ruf eines Dorfarztes (wir sind froh, dass wir noch einen haben) Rücksicht zu nehmen. Je tiefer Du von meinem Dorf ins Emmental hineinfährst, desto intensiver die Plakatierung. Aussagekräftigstes Indiz sind nicht die Vorgefertigten, sondern – sehr ähnlich wie bei der Trump-Bewegung – die Selbstgemachten an Gartenzäunen und Scheunen.  Ein Freund erzählt von einem Skitouristenort im Luzernischen, wo man am Stammtisch das Thema besser nicht anschneide, wenn man vom Nein nicht durchdrungen sei. Es könne sein, dass es nicht beim verbalen Schlagabtausch ende.

Woher der Furor? Warum bringt das COVID-Gesetz – ein Gesetzlein – so viele Leute auf die politische Palme? Wer sind sie? Ein Flugblatt, hier herum in alle Haushaltungen verschickt, gibt ersten Aufschluss. Gefühlte hundert Regionalgrössen traten darauf mit Namen und Bild «gegen unmenschliche Zertifizierung» an. Der Reigen ist bedeutend breiter als der Anhang der Schweizerischen Volkspartei, die sich als Sammelbecken der Gegner anbietet. Das Nationale paart sich hier mit dem Esoterischen, dem Schafwollenen und dem Halbseidenen zu einem politischen Eingericht, dem vor allem anderen gemeinsam ist, sich «nichts vorschreiben zu lassen». Und sei es der Umstand, dass 2 plus 2 gleich 5 sind.

Die Befürworter in meinem Gesichtsfeld nehmen das auf die leichte Schulter. Am Stammtisch erklärte ein Freund, die Penetranz der Gegner gehe den meisten langsam auf den Nerv. In Basel meinte ein anderer, die Kräfteverhältnisse seien klar, weil die Mehrheit der Bevölkerung ja geimpft sei und somit auf Seiten der Vernunft stehe. Und die Städter, ebenfalls auf der Seite der Vernunft, seien gegenüber «dem Land» in der Mehrheit. Und die Umfragen seien ja klar.

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Von hier aus gesehen, könnten die Umfragen daneben liegen.