Wer in den vergangenen vierzig, fünfzig Jahren links gewählt hat, konnte darauf zählen, dass er entweder verlor oder im Falle eines Sieges betrogen wurde. Im Deutschland von 2022 ist es umgekehrt. Der linke Sieg kam unverhofft, und der Betrug ist weniger wahrscheinlich, weil die linken Erwartungen knapp bemessen sind.
Ein wenig Erregung wird wohl sein, jedenfalls kündigten Freunde gestern Abend an, dass sie sich die Vereidigung der neuen deutschen Regierung im Fernsehen anschauen würden, doch für uns geht das nicht. Wir sind zwar in Berlin, Charlottenburg, Ecke Bismarckstrasse/Krumme Strasse, wo am 2. Juni 1967 der Student Benno Ohnesorg von der Polizei erschossen wurde, bei einer Demonstation gegen den Schah von Persien, das Denkmal steht vor der Deutschen Oper, aber in unserem Studio hat es weder Fernsehen noch Internet. Wir sind vom Geschehen auf der anderen Seite des Tierparks gleich weit weg wie mitten im Atlantik. Oder auf einer Alp.
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Geschenkt. Man muss nicht live dabei sein, um seinen Senf abzusondern. Nicht einmal die Journalisten sind es (ich kannte eine Korrespondentin, die in Florida wohnte und «aus Washington» berichtete).
Zum dritten Mal in der Geschichte der Bundesrepublik hat die Linke das christlich-bürgerliche Dauerregime gebrochen, zum vierten Mal wurde heute Mittwoch, 8. Dezember ein sozialdemokratischer Bundeskanzler vereidigt. Die erste linke Periode dauerte von dreizehn Jahre (1969-1982), die zweite sieben (1998-2005), die dritte hat soeben begonnen.
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Für unsere Generation, die Verblichenen und Verbleichenden, bedeutete links zu wählen immer Hoffnung auf Verbesserung für die vielen. Nie wieder Krieg. Das Huhn im Topf für alle. Macht für «unten» gegen «oben». Mitbestimmung. Zugang zur Elite. So war das 1969 und 1972 bei Willy Brandts Wahlsiegen in Deutschland. Seine Sozialdemokratie stand für «Aufbruch» und «Reform», beides zum Nutzen des «kleinen Mannes». Aufbruch der im Kalten Krieg verkrusteten deutsch-deutschen Beziehungen und Erweiterung der Bildungsmöglichkeiten. Dann kamen Margaret Thatcher in England und Ronald Reagan in den USA, beides Taktgeber der Politik für die nächsten vier Jahrzehnte. «Aufbruch» und «Reform» erhielten umgekehrte Bedeutungen. «Aufbruch» hiess Zerschlagung der Gewerkschaften. «Reform» die Beschneidung des Staats. Die Linke spielte Verteidigung und verlor reihenweise Wahlen. Links zu wählen, hiess verlieren – in Deutschland, in Grossbritannien, in den USA.
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Dann kamen die Konter. Bill Clinton (kein «Sozialdemokrat») in den USA, Tony Blair in Grossbritannien, Gerhard Schröder in Deutschland. Alles knappe und eher unerwartete Sieger gegen rechts. Und für die Wählerschaft links der Mitte eine einzige Enttäuschung. Clinton beendete das Fürsorgewesen auf Bundesebene, unterschrieb ein drakonisches Strafgesetz, deregulierte die Banken. Blair hielt an den Thatcher-«Reformen» fest und liess sich auf den Krieg gegen Irak ein. Schröder erfand den Hungerlohnsektor. Wohin man blickte, wurde linkes Wählerinteresse enttäuscht und rechte Macht belohnt. Links der Mitte hielt sich vor allem dort an der Macht, wo die rechts der Mitte noch aggressiver, noch räuberischer oder noch nationalistischer auftrat. Bis zu Donald Trump.
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Jetzt? Wird es den Nicht-rechten Regierungen gelingen, sich zu behaupten und einer immer stärkeren nationalistischen Rechten eine dauerhafte Alternative gegenüberzustellen? In den USA ist die Frage bereits weitgehend entschieden. Präsident Biden sind die Flügel gestutzt, nächstes Jahr sind schon wieder Parlamentswahlen, die knappe Mehrheit wackelt. Die Nagelprobe ist in Deutschland. Drei Dinge sind absehbar:
- Es wird weder «Reform» noch «Aufbruch» geben. Das wäre, unter heutigen Bedingungen, der green new deal – der radikale ökologische Umbau der Wirtschaft. Das geht nur mit staatlichem Zwang und massiven staatlicher Unterstützung in Form von Verboten, Finanzhilfen und Steuererhöhungen. Geht nicht. Es wird kleine Schritte geben, wohl in der richtigen Richtung. Hoffentlich keine Rückschritte.
- Vieles auf der politischen Tagesordnung ist auf der europäischen Ebene zu erledigen: Die Flüchtlingsströme, Cybersicherheit, wirtschaftliche Selbstbehauptung, das Verhältnis zu den USA etc. Es ist offen, wieweit Scholz-Deutschland seine europäische Führungsrolle einzunehmen bereit ist und in welche Richtung es lenken wird.
- Olaf Scholz ist keine Führerfigur. Das ist wichtig, weil die Politik der kommenden Ära von charismatischen Egomanen geprägt, die Demokratie von ihnen bedroht sein. Ein halbwegs erfolgreicher Scholz ist ein Gegenentwurf.
Kein «Reset». Kein «Aufbruch», keine «Reform». Kein Cäsarismus, aber eine Zäsur.