Wintertage, Manhattan. Ein Blizzard am Wochenende, die Stadt schön verschneit, Schlittschuhläufer im Bryant Park, kalt. Immer noch COVID: Am Fernsehen mahnt ein Staatsarzt, die nicht die Stoffmasken zu tragen, sondern die medizinischen (die aber in keinem drugstore zu kaufen sind), am Sonntag gellt ein Lautsprecherwagen über die 6th Avenue: «Impft Euch, impft Euch». Immer noch Trump: Soeben hat der Caudillo a.D. seine Anhänger zu weiteren Protesten «wie wir sie noch nie gesehen haben» aufgerufen – diesmal nicht gegen seine Abwahl, sondern gegen die drohenden Gerichtsprozesse über seine Amtsführung und sein Geschäftsgebaren. Déjà vu.
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Déjà vus wohin man blickt. Die Medien zeigen Satellitenbilder vom russischen Truppenaufmarsch an den ukrainischen Grenzen, schwarzweisse Vierecklein im Schnee. Unweigerlich kommt die Erinnerung an den Februar 2003 auf, UN-Sicherheitsratssitzung, der Aussenminister Powell mit seinen Photos von irakischen Chemiewaffenfabriken als dem «rauchenden Revolver», der den Schlag gegen Saddam Hussein legitimieren sollte. Der Revolver war eine Plastikattrappe, wie sich im nachhinein herausstellte. Sind es auch die Bilder aus der Ukraine? Soweit ersichtlich, gibt Russland sich nicht einmal mehr die Mühe, sie anzuzweifeln. Es geht um die Frage, was der Aufmarsch soll. Die amerikanische Regierung – Herrin über das Satellitenbild – gibt auf allen Kanälen durch, dass ein russischer Militärschlag gegen die Ukraine unmittelbar bevorsteht. Oder bevorstehen könnte. Der ukrainische Präsident sagt, man solle nicht in Panik verfallen. So redet jeder, der einem bedrohlichen Gassengangster gegenübersteht und nicht sicher ist, dass ihm jemand zu Hilfe eilt.
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Was dann? Die Frage stellt sich in erster Linie den Europäern, weil es um Europa geht – die Ordnung, die Sicherheit, die Zusammenarbeit die Verfasstheit von Europa. Aber angestimmt wird das Lied in Amerika.
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Militärisch wird niemand einen eigenen Finger für die Ukraine rühren. Rüstungsmaterial und «Berater» liefern ja, aber es werden keine NATO-Soldaten zu Hilfe eilen, wenn die Ukraine von Russland angegriffen wird. Es geht nicht darum, den potentiellen Täter zurückzuschlagen, sondern ihn zu bestrafen. Das geschieht mit Sanktionen, und hier zeigen sich die normalerweise bis aufs Blut zerstrittenen Politiker im US-Kongress überraschend einig. Im foreign relations committee des US-Senats steht ein Sanktionspaket vor der Verabschiedung, «wie wir es noch nie gesehen haben». Wie Präsident Biden es angekündigt hat. Am Sonntag haben die Senatoren Menendez und Risch, Mehrheits- und Minderheitsvorsitzende des Ausschusses sich in einem gemeinsamen TV-Auftritt minutenlang gegenseitig bestätigt: Mehr Waffenlieferungen an die Ukraine und «die Mutter aller Sanktionen» werden binnen kurzem beschlossen, Einzelpersonen in der russischen Elite mitsamt ihren Familien im Visier, Blockierung von Banken, bis hin zum Ausschluss Russlands vom nahezu universalen SWIFT-Bankentransfersystem. Das werde «Russlands Wirtschaft verkrüppeln», sagte Menendez.
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Déjà vu. Der Widerstand gegen einen Feind, egal ob real oder imaginär, vereint die Parteien in Washington, Demokraten und Republikaner. Das heisst Bipartisanship und war im vergangenen Jahrhundert mehr oder weniger die Norm, wenn es um Ost gegen West ging. Der harte Kurs von Präsident Biden gegen Russland wirft zu Hause eine politische Dividende ab.
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Doch gemach: Die Trumpisten sind nicht an Bord. Tucker Carlson, der mächtige Fürsprecher der extremen Rechten beim Fox-Fernsehen, wettert Zeter und Mordio gegen die «Einmischung» in die Ukraine-Situation. Sein Argument: Kein «strategisches Interesse» der USA. Stattdessen gibt Carlson seinem Steckenpferd der illegalen Einwanderung die Sporen. Abend für Abend werden Aufnahmen junger Männer gezeigt, welche die Südgrenze überschritten haben und von den US-Behörden angeblich freigelassen werden sollen. Warum, fragt Carlson, stellt Biden die amerikanischen Soldaten nicht an die eigene Grenze?
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Noch hat die «Mutter aller Sanktionen» keine Abstimmung im amerikanischen Parlament überstanden. Die gröberen Auseinandersetzungen stehen bevor, vor allem diejenigen im Repräsentantenhaus, wo neben der grossen Zahl von Trumpisten auch die Linke vertreten ist. Diese hat sich bisher nicht vernehmen lassen. Und auf einem anderen Blatt steht, ob und wieweit die europäischen Staaten mitziehen werden.
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Gut zu wissen: Die Schweiz ist nicht gefordert. Sie gehört ja nicht zu Europa. Und sie hat hervorragende Beziehungen zu Russland, insbesondere dort, wo Geld fliesst, und Geld aus irgendeinem Grund an den Schermen gebracht werden will. Erst wenn die Europäische Union ihre Russland-Sanktionen erlassen sollte, stünde die Schweiz vor einem Entscheid über ihr eigenes Verhalten.