Am 2. Februar, 07.23, haben zwei Dutzend Männer in Gehrock und Zylinder in Punxsutawney, US-Bundesstaat Pennsylvania, festgestellt, dass ein Murmeltier namens Phil einen Schatten geworfen hat, woraus sie den Schluss ziehen, dass mit weiteren sechs Wochen Winter zu rechnen sei: Groundhog Day. Die Veranstaltung, global bekanntgemacht durch den gleichnamigen Film, hat in den vergangenen Jahren immer mehr Publikum angezogen (2020 angeblich 40 000). Ich wollte herausfinden, was so viel Aufmerksamkeit mit einem lokalen Folkloreereignis anstellt.

Solothurn hat die Chesslete, Luzern den Urknall und Basel den «Morgeschdraich». Punxsutawney (6000 Einwohner) im westlichen Pennsylvania, 90 Meilen nördlich von Pittsburgh, hat Groundhog Day. Allesamt jährlich wiederkehrende Ereignisse aus alter lokaler Tradition mit der Gemeinsamkeit, dass sie zwischen Mitternacht und Herrgottsfrühe stattfinden.

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Zum «Morgeschdraich» (Martinsglöcklein, 0400 Uhr) fährt man im Extrazug, aber Punxsutawney zu erreichen, ist leicht schwieriger. Es gibt – wir sind in Amerika – kein öffentliches Verkehrsmittel. Von New York aus fuhr ich mit dem Auto 300 Meilen westlich, durch das Delaware Gap, durch welliges Farmland und majestätische Wälder, ein paarmal am gefrorenen Susquehanna vorbei (ein bereuter Abstecher führte nach Helvetia. einem traurigen Kaff in einer Senke – schlagender Beweis, dass die Auswanderung nach Amerika nicht immer zu Glück, Ruhm und Wohlstand führt). Die Hotels am Ort waren alle belegt, ich übernachtete in Brookville, was bedeutete, dass ich die letzten 20 Meilen zum Ziel am nächsten Morgen um 0300 unter die Räder nahm. You want to be there early, hatte die Frau am Empfang empfohlen. Die Groundhog Day Zeremonie auf Gobbler’s Knob beginnt bei Sonnenaufgang. Das ist 0720 Uhr.

Wie vor dem “Morgeschdraich” stehst Du also kurz nach 2 Uhr auf, fährst – wie andere Hotelgäste – nach “Punxy” hinüber, parkierst vor dem Aldi und steigst in einen der Schulbusse, die Dich zum Knob hinauffahren, wo die Party seit 0300 im Gang ist. Der Bus ist voll, das Lokalradio WPXZ berichtet live, eine Gruppe unternehmungslustiger Damen mittleren Alters stösst “juhus” und “wuhus” aus, gierig harrend der kommenden Dinge. Sie tragen Hüte mit Ohren und Masken mit Murmeltiermotiv. Wir sind übrigens die einzigen, die Masken tragen, was völlig in Ordnung ist, weil COVID hier kein Thema ist. Die Kontrolle auf der Webseite der Organisatoren ergab die Antwort your search for ‘pandemic’ did not return any documents. Ich frage die Damen, ob sie aus der Gegend seien und sie antworten: «Nein, wir kommen aus Massachusetts». Nicht die einzigen out-of-staters, wie sich später herausstellt. Ein Frauenbuchklub aus Texas war schon vor uns da, und irgendwann wurde ein Mann aus Frankreich eingeladen, ein paar Worte zur Menge zu sagen.

Als wir um 0400 Uhr auf dem Knob ankommen, stehen mindestens tausend Personen vor der Bühne, wo der Betrieb bereits in vollem Schwange ist. Eine Herde Showgirls zeigen ihre Routinen, zwei Einpeitscher, Thunder Conductor und Moonshine, halten die Schau am Laufen. Die Juvenile Characteristics, eine lokale Lehrerband (sie müssen nach der Zeremonie zur Arbeit) spielen einen Song über die Vorteile von Punxsutawney gegenüber Las Vegas und Hollywood: Punxy makes me drunk and it is close.

Denkste. Auf Gobbler’s Knob wird kein Alkohol ausgeschenkt, auch BYO (Bring Your Own) ist untersagt. Das sind die Regeln des Punxsutawney Groundhog Club. Ein Mandat, das vollständig befolgt wird. Ich sehe niemanden mit einer Büchse Bier, und – ebenso erstaunlich – niemanden rauchen, weder Tabak noch etwas anderes. Nicht ein Dünstlein. Es ist auch niemand laut. Die unverdaulichen Charaktere, wie sie an Strassenfasnachten und anderen helvetischen Volksbelustigungen zu finden sind, fehlen hier. Es gibt keine jungen Kerle, die wie die unzeitigen Kälber durch die Gegend brüllen, keine Rangeleien, keine Anmachereien. Irgendwo im Park steht ziemlich verloren ein Schild «VIP», aber eine Exklusivzone für Prominenzen ist nicht auszumachen. Eine kleine Tribüne ist für Rollstühle reserviert. An zwei verwitterten Bretterhäuschen kann man Coupons für Wasser, Kaffee und heisse Schokolade kaufen, für zwei Dollar den Becher. Es gibt auch Bar, keine “Essensstrasse”, keine Abfallberge. Der Club weiss, wie man die Sache sauber hält.

Der Punxsutawney Groundhog Club wurde 1887 gegründet, ein Jahr nachdem der Ort sich zum ersten Mal von einem Murmeltier den Frühling weissagen liess. Ein anscheinend nur männliches Vereinsgebilde von etwa zwei Dutzend Lokalfürsten (local dignitaries), denen als inner circle die Organisation der Veranstaltung und die Pflege von Phil, dem seer of all seers und weather predictor extraordinaire obliegt, der in einem Bau in der Stadt gehalten wird. Wie Studentenverbindungen haben die Clubmitglieder Titel und Übernamen. Jeff Lundy ist Präsident und heisst Fair Weatherman sein Vize Tom Dunkel ist Shingle Shaker. A.J. Dereume alias Rainmaker ist His Handler – der Mann, der den Nager in die Finger nimmt. Es gibt Iceman, Downpour und Daybreaker und einen Mann, der aus unerfindlichem Grund als O-Zone firmiert. Es heisst, die Veranstaltung gehe auf einen deutschen Brauch zu Lichtmess (40 Tage nach Weihnachten, deshalb der 2. Februar) zurück, bei dem zur Mittagszeit ein Dachs aus seinem Bau gelockt und geprüft worden sei, ob er einen Schatten werfe oder nicht. Ein Schatten sei als Zeichen für mehr Winterwetter, kein Schatten als Frühlingsbeginn verstanden worden. Vertiefte journalistische Recherche bei Google fördert eine deutsche Bauernregel zutage: „Wenn der Dachs zu Maria Lichtmeßen, mittags zwischen 11 und 12 Uhr seinen Schatten sieht, so muß er noch vier Wochen in seinem Baue bleiben.”

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Vielleicht. Auf jeden Fall haben deutsche Einwanderer den Brauch nach Punxsutawney (gegründet 1818) gebracht und auf dem Weg über den Atlantik ziemlich gehärtet. Die Mittagszeit wurde auf Sonnenaufgang verschoben, die Vorhersage von vier auf sechs Wochen verlängert und der Dachs mit dem wohl leichter auffindbaren groundhog (das Murmeltier) vertauscht. 1886 fand der erste Pilgerzug auf Gobbler’s Knob statt, ein Jahr später wurde der Punxsutawney Groundhog Club gegründet. Groundhog Day wird als Anlass zelebriert, Unannehmlichkeiten des Lebens wie Frost und Kälte nicht ganz ernst zu nehmen. Der Punxsutawney Groundhog Club behauptet, Phil sei «unsterblich» und er habe «immer recht» (Gemäss dem Nationalen Wetterdienst waren Phil’s Prognosen in den vergangenen zehn Jahren nur zu 40 Prozent richtig). Groundhog Day enthält eine Prise Fasnacht. Kamen die Deutschen, die den Brauch mitbrachten, aus einer Gegend, wo der Karneval die zweite Religion ist?

Vor dem Akt musst Du nahezu vier Stunden totschlagen, stehend in der Kälte (im Park auf Gobbler’s Knob sind keine Bänke). Ich gerate mit einem jungen Mann ins Gespräch, der wie ein Club-Mitglied gekleidet ist. Er nennt sich “Wootan” und behauptet, den Secret Order of the Butterfly zu vertreten, den Erzfeind des Groundhog Club mit eigenem Ritual, das einen Monarch-Schmetterling und eine Spanische Fliege auf unsägliche Weise paart und entweder «kein Hanukka» oder «zwei Kwanzaa» prognostiziert. Während das Gelände sich mehr und mehr füllt, tanzen sich vorne auf der Bühne Thunder Conductor und Moonshine die Lunge aus dem Leib, im steten Bemühen, die Menge bei Laune zu halten. Der Appetit aufs Tanzen hält sich in engen Grenzen, aber immer, wenn Moonshine “wie kalt ist es” schreit, gellt es zurück:“Lordy, Lordy it’s almost forty. 40 Fahrenheit. In Wirklichkeit sind es zirka 25, etwa vier Grad Celsius unter null, und wenn der Wind auffrischt ekelhaft kalt. Um 0515 Uhr findet auf der Bühne eine echte Hochzeit statt. Nathan und Tyra versprechen sich das Übliche und auch, “unser Haus mit Lachen zu erfüllen», bevor der Offizielle (in den USA kannst Du für etwa zwanzig Dollar die Vollmacht zur offiziellen Trauung eines Paars erwerben) zu Mann und Frau erklärt: without a shadow of a doubt man and wife. Ein Band-Wettbewerb bringt uns gegen 0600, dann kommen nochmals die Juvenile Characteristics, mit einer Eigenkomposition Wake up Phil, gefolgt vom unvermeidlichen Gruss and die Streitkräfte und der Nationalhymne. Um 0630 steigt ein Feuerwerk in den Himmel, direkt über unseren Köpfen, weit näher als die gewohnten Nationalfeiertagsfeuerwerke.

Um 0715 marschiert der inner circle auf die Bühne, alle in schwarzen Fräcken und Zylindern. Jeder wird vorgestellt, zuerst der 95jährige Veteran Rusty Johnson, seit 49 Jahren dabei. Der Präsident nennt uns “die grösste Werktagsschar der Geschichte» und zitiert Woodstock: You show the world that 10 000 or more people can come together at 3 a.m. and have fun and music and nothing but fun and music.

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Jetzt ist es 0723 Uhr. Die Männer stehen an einem grossen Holzstumpf mit einer Türe am Boden. Dort wartet Phil, der Murmel, auf seinen Moment. His Handler öffnet den Verschlag, zerrt den Nager heraus und hält ihn hoch über seinen Kopf. Phil ist etwas grösser als ein Alpenmurmeltier, das Fell etwas dunkler mit einem schönen Schimmer, und er ist bemerkenswert ruhig. Kein Zappeln oder anderweitiger Versuch, sich freizumachen. His Handler legt ihn auf den Stumpf für das Allerheiligste des Ritus. Phil muss nun anzeigen, welchen von zwei vorbereiteten Schriftrollen er den Vorzug gibt. Die Männer beugen sich über ihn, und nach einem kurzen Moment ruft der Präsident: «Wir haben eine Vorhersage». Tom Shingle Shaker öffnet eine der Rollen und beginnt zu lesen: Hear ye, hear ye, hear ye, Punxsatawney Phil, the seer of seers, the prognosticator of all prognosticators…… Undsoweiter. Phil hat sich für die 6-Wochen-Winter-Rolle entschieden. Die Leute rufen six more weeks, six more weeks. Für einen Augenblick wähntest Du dich an einem Trump-Auftritt (four more years, four more years). Die Morgennachrichten berichten in ganz Amerika.

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Fürs Protokoll: 1. praktisch alles auf Gobbler’s Hill war weiss. 2. Ich habe keinen einzigen MAGA-Hut oder irgendein anderes Trump-Signal gesehen.

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Nach der Zeremonie darf man auf die Bühne, für die Photos mit Phil. Tom Shingle Shaker steht zu Diensten. Phil ist nun in einem durchsichtigen Plastikzylinder untergebracht und ein wenig ungeduldig. Er steht auf und versucht, herauszukrabbeln (vergeblich), und er rast im Kreis wie ein unkontrolliertes Spielzeugauto (unermüdlich). Gut, dass er keine Autogramme geben muss.

Gott, es muss gesagt sein, hatte nicht seinen besten Tag, als er die Murmeltiere erschuf. Wie der Mensch gehört der Groundhog nicht zu den gelungensten Kreaturen. Rattenartig, und  ein Schädling zudem. Während wir für den Bus anstehen, der uns zurück auf den Aldiparkplatz bringt, entspinnt sich ein Gespräch in der Warteschlange.

Frau aus Fayetteville/North Carolina: Wir gingen gestern zu Phil’s Bau im Dorf. Er war nicht da, aber er hat eine Frau, Phyllis.

Ich: Dann ist die Nachfolge ja wohl gesichert.

Frau aus Fayetteville: Wie alt ein Groundhog wohl werden kann?

Bauer aus der Gegend: Nicht sehr alt auf meinem Land, das kann ich Ihnen sagen.

Mann aus Columbus/OH: Die haben sicher mehrere Tiere gehabt in den 136 Jahren.

Mann aus Newcastle/Pennsylvania: Ich habe mit einem vom Club gesprochen. Der sagte, sie könnten Phil nicht beliebig lange draussen lassen für die Photos. Er werde wirklich ungeduldig.

Ich: Vielleicht haben sie mehrere Phils, die sich ablösen.

Mann aus Newcastle/Pennsylvania: Die Bauern mögen die groundhogs nicht, weil sie grosse Löcher im Boden machen, in denen die Kühe sich ein Bein brechen können, wenn sie hineintreten. Bauern schiessen die groundhogs.

Ich: Weiss jemand, ob sie essbar sind?

Mann aus Columbos/Ohio: Ich bin nicht sicher. Man isst Eichhörnchen und Opossums, aber ich habe noch nie gehört, dass jemand groundhog isst.

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Auf der Rückfahrt bin ich der Einzige im Bus, der Maske trägt. Beim Ausstieg gibt es Kommentare. Ein Mann ruft mir nach say hi to Sarah. Ich habe keine Ahnung, was er meinte.

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Nachtrag: Wo sich etwas festsetzt, spriesst der Abklatsch. Wie beim Oktoberfest. Im Zoo auf Staten Island gibt am Ground Day ein Nager namens Staten Island Chuck seine Vorhersage ab, in Marion/Ohio ist es Buckeye Chuck. Es gibt Essex Ed und Woodstock Willie und Dunkirk Dave. Aber nur Punxsutawney hat es geschafft, in der nationalen Folklore Fuss zu hassen, irgendwie. «Wie viele von Euch werden hierher zurückkehren?», rief Präsident Fair zum Abschluss in die Menge. «Wir sind das ganze Jahr da».

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Frommer Wunsch.