Lieber T.,
Merci vielmals für Deine ausführliche Antwort auf meine Bemerkung, dass wir bei unserem Nachtessen auch über die Ukraine hätten sprechen sollen. Du schreibst über eine Auseinandersetzung mit dem Kollegen Z., der für ein Moratorium des NATO-Beitritts der Ukraine argumentiert, was Russland die Türe zu einer gesichtswahrenden Entspannung eröffnen werde. Du hältst das für eine Appeasement-Strategie und sagst, das sprichwörtliche Europäische Haus brauche «nicht nur stabile Mauern, sondern auch eine Innenausstattung, wo man sich wohlfühlt und wo nicht ein Labrador Putins für Ordnung sorgt». Du sagst auch, die heutige Krise könne sehr wohl noch sehr lange dauern, und würden wir im Mai beim nächsten Wiedersehen noch darüber reden können.
Da hast Du Recht. Wir werden im Mai über die neu entstandene Lage sprechen, nicht nur im Mai dieses, sondern auch der kommenden Jahre. Was jetzt rund um die Ukraine geschieht, prägt das Jahrzehnt.
***
Was ist die Lage? Sie ist soweit ich sehe, ziemlich eindeutig: Russland zieht rund um die Ukraine die grösste Armee seit dem Irak-Krieg von 2003 zusammen und hält dem Land die gespreizte Hand an die Gurgel. Bezweckt wird damit dreierlei. Erstens die Grenzbereinigung im Osten, sprich der Sieg der russischen Separatisten und anschliessend vielleicht die Einverleibung des Gebiets in Russland nach dem Modell Krim (2014). Das läuft schon lange, wird in diesen Tagen massiv intensiviert und dürfte so geschehen. Zweitens die Installation einer russlandfreundlichen Regierung in Kiev, welche jede Annäherung an die Europäische Union stoppt und den Anschluss an die NATO – beides kompatible, in der politischen Absicht identische Ziele – stoppt. Und drittens eine neue «Sicherheitsordnung» — will heissen ein neues militärisches Gerüst – in Europa. So wie ein guter Quarterback seine football-Mannschaft das Spielfeld hinunter in die end zone treibt, first down um first down, setzt der rote Zar seinen Plan um, Zug um Zug, und bleibt den Gegnern nichts übrig als die Beanspruchung des diplomatischen timeout.
***
Die Ukrainer –die ukrainische Regierung – spielt auf cool und Nichtprovozierenlassen. Das ist verständlich. Wenn der Nachbar den Rottweiler laufen lässt, machst Du Dich klein und unauffällig.
***
Der Rest der betroffenen Welt reagiert ungefähr wie zu erwarten: Die Vereinigten Staaten spielen Welt- und Führungsmacht, die Europäer laufen im Windschatten. Die USA liefern Waffen, stationieren Soldaten, bereiten Sanktionen vor. Die Europäer folgen dem rhetorischen «Narrativ» und halten sich an die offensichtlich wasserdichte «Sprachregelung» (ein Begriff aus dem Wörterbuch von Joseph Goebbels): Wenn Russland einmarschiert, wird «der Westen» nicht «zur Tagesordnung übergehen», sondern schrecklichste Sanktionen auf längste Dauer aussprechen: Bankensperren, Ausschluss vom Zahlungsverkehr etcetera.
***
Aber den «Westen» gibt es seit Donald Trump nicht mehr. Zwar tritt die US-Regierung von Präsident Biden betont als Leitmacht auf und knüpfen die Medien hierzulande gerne an die alte Vorstellung von Mir-nach-Amerika und den «Alliierten» auf der anderen Seite des Atlantiks an. Doch die Front ist brüchig. Die extreme Rechte übt offene Kritik an Bidens Engagement (interessant: Der Caudillo a.D. hat sich mit keinem Wort zur Sache geäussert). Und in Europa wird mit jedem Tag weniger klar, wie viel Tat der Einigkeitsrhetorik folgen wird. Der britische Regierungschef – ein Gernegrösser auf der Weltszene – malt den ganz grossen Krieg aus. Der französische Präsident versucht auf der obersten Etage zu vermitteln, aber es ist nicht ganz klar, auf welcher Grundlage und worüber. Die deutsche Regierung weigert sich, der Ukraine benötigte Waffen zu liefern und schielt auf das Schicksal der Schrödergasleitung. Mal sehen, wie viel von der Bestrafung übrig bleibt, wenn es ernst gelten sollte (Wette unter Schweizern: Die Eidgenossenschaft wird die gute Kundschaft aus Oligarchenrussland nicht aufs Spiel setzen und den alten courant normal reanimieren, wie einst gegenüber Apartheid-Südafrika).
***
Hier in Amerika erleben wir ein gigantisches Geschraube der Medien, Du siehst es vielleicht auch. Ich nehme an, das läuft in Europa ungefähr ähnlich. Und ich bin sicher, dass die von Russland kontrollierten Medien gleichziehen, wahrscheinlich indem sie den Aufmarsch klein schreiben und den Vorwurf westlicher Propaganda gross). Unter dem Strich ergibt sich gegenüber Russland diese Konfliktlage: Kein Mensch wird für die Ukraine das Leben auch nur eines Soldaten riskieren. Biden hat es sehr klar gesagt – die amerikanischen Truppen im Baltikum und in Polen werden nicht in der Ukraine eingesetzt. Dass irgendein europäischer Kampfstiefel ukrainischen Boden betreten wird, ist noch unwahrscheinlicher. Mourir pour Danzig? Ebenso wenig wahrscheinlich ist, dass Putins Russland den militärischen Status Quo über die Ukraine hinaus herausfordert. Denn wenn Russland einen baltischen Staat (Teil der Sowjetunion) oder Polen (russisch unter den Zaren) attackiert, wird der NATO-Vertrag aktiviert, Artikel 5, ein Angriff auf einen ist ein Angriff auf alle. Das war die Staatsräson auf dem Kontinent im Kalten Krieg und der Grund für die «Stabilität» dies- und jenseits des Eisernen Vorhangs: Wenn einer angreift, schlägt der andere zurück, Eskalationsstufe um Eskalationsstufe bis zur gegenseitigen «gesicherten Vernichtung», auf westlicher Seite garantiert durch die amerikanischen Atomraketen.
***
Putin will in diese Situation zurück. Er will Russlands Einfluss in Osteuropa wiederherstellen, beginnend mit der Ukraine und weiter in den Staaten des ehemaligen Warschauer Pakts, in denen seinem Vorschlag zufolge keine amerikanischen Soldaten mehr stationiert werden sollen. Das heisst: Das «Europäische Haus», von dem Gorbatschow sprach und der Kollege Z offenbar weiterhin schwärmt, ist nicht nur nicht gebaut, sondern kann nicht mehr gebaut werden. Russland gehört nicht zu Europa, sondern ist, was es zur Zarenzeit gewesen ist. Eine fremde, autokratische Macht, mit der Europa umgehen muss.
***
Die Frage, welche die Ukrainekrise aufwirft, betrifft nicht die NATO-Mitgliedschaft. Ich kenne die Hintergründe um die Mitgliedschaft oder Nichtmitgliedschaft der Ukraine nicht. Ich weiss, dass der NATO-Vertrag viel weiter reicht als ein blosses Militärbündnis und die Grundprinzipien einer auf Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheitlichkeit beruhenden amerikanisch-europäischen Ordnung umfasst. Aber in der heutigen Situation ist es ein Militärbündnis – umso mehr, als wir in der Europäischen Union ein enger mit dem Kontinent verbundenes System von Demokratie, Selbstbestimmung und Freiheitlichkeit haben. Wenn eine Art Neutralisierung der Ukraine die Russen von Angriff und Krieg abhält – warum nicht? Warum sollte dies weniger vorteilhaft sein als eine Invasion, möglicherweise gefolgt von einem grässlichen Stellvertreterkrieg? Sicher das übelste Szenario ist ein russischer Einmarsch, gefolgt von Auf- und Widerstand. Es ist übrigens paradox: Putin tut so, als ob er keineswegs einen Krieg wolle, bereitet aber sehr offensichtlich einen vor. Der «Westen» tut so, als ob er zu einem kriegerischen Konflikt – mindestens in Stellvertreterform – entschlossen sei, ist aber offensichtlich nicht bereit, eigenes Blut zu vergiessen.
***
In jedem Fall – ob Kapitulation, Konzilianz oder Krieg – muss Europa seine Verteidigung besser organisieren. In einem Satz gesagt: Die Europäische Union (sie ist, was als «Europa» zählt) muss ein militärischer Akteur werden. Warum bestimmt jeder Mitgliedsstaat für sich, ob der Ukraine Waffen zur Verfügung gestellt werden oder nicht? Warum braucht es amerikanische Soldaten, wenn die «Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» gefährdet sind? Und gibt es eigentlich eine einheitliche europäische Auffassung über «nukleare Abschreckung» und ihre Eskalationsstufen, oder fahren die europäischen Nuklearmächte Frankreich und Grossbritannien nach ihrem eigenen Kompass?
***
Die NATO-Mitgliedschaft der Ukraine ist eine Rauchpetarde, fog of war. Ebenso das ewige Gedöns der Putin-Trolle über die Versprechungen, das Bündnis nicht über Ostdeutschland hinaus zu erweitern. Das ist Schnee von gestern und trägt zur offenen Frage der europäischen Selbstbehauptung nichts bei. Die neuen NATO-Mitglieder wollten die Mitgliedschaft. Sie wurden von niemandem gezwungen und mussten nicht – nicht mehr – in Moskau um Erlaubnis fragen. Sie könnten die Mitgliedschaft auflösen. Ich nehme an, das Gebaren des Zaren in Moskau macht die Lust dazu sehr klein.
***
Entschuldigung für die Länge. Wer umhertappt, kann sich nicht kurz fassen.