Sonntag, 1. Mai, Treptower Park, Berlin-Ost, sowjetisches Ehrenmal zum Sieg der Roten Armee über Hitler-Deutschland. Wenig Besuch. Ein Walliser Vater, mit Familie auf Velotour, erklärt den Kindern, was damals Sache war: «Där Hitler ischt su xi wi dr Putin, aber angerscht». Ratlosigkeit, Vater stösst nach. «Russland ischt denn kommunistisch xi. Dascht zwar ou nid aus guet xi, aber d Russe häbe mit den Amerikaner und den Ängländere dr Chrieg gäge Hitler gwunne. We das nid passiert wär, de wär Tütschland hittu angersch».
Der Vater am Ehrenmal fährt die historische Haarnadelkurve, in welcher sich die Weltkriegssieger nach 1945 befanden: Eben noch Hauptverbündeter im Krieg gegen Deutschland, war der Russe zur Gefahr für den europäischen Kontinent mutiert, ein gefrässiges Raubtier, das hinter dem «eisernen Vorhang» (Winston Churchill) alles riss, was sich selbständig entwickelte. Davor entbrannte der Konflikt zwischen rollback und containment – «Zurückschlagen» der sowjetischen Expansion in Osteuropa oder «Eindämmung» gegen ihre weitere Ausdehnung. Es siegten die Eindämmer, weil beide Seiten sehr bald über nukleare Waffen verfügten, deren Einsatz die «gegenseitige gesicherte Vernichtung» garantierte. Wo Moskau die Rebellionen in seiner «Einflussphäre» niederschlug, in Ungarn, Polen, der Tschechoslowakei, hielt «der Westen» still, aber an der Heimatfront rüstete er tous azimuts auf, militärisch, politisch, ideologisch. Der Antikommunismus wurde politisches Glaubensbekenntnis, was die Regierungen in seinem Namen anstellten, war sakrosankt, wer muckste, geriet unter Generalverdacht. In der neutralen Schweiz war das nicht anders als im rest of the west, die Armee übte den Vormarsch der Roten Armee, an unserer Schule hielt der Rektor Vorträge über die Notwendigkeit der atomaren Bewaffnung und der Griechischlehrer nutzte die Samstagvormittagsstunde als Exkursion zum Defilee des 16. Infanterieregiments. Jeder Primaner ein Spartaner. Der Prototyp des Akademikers wurde Artillerieoffizier und Mitglied der Freisinnigen Partei und nahm so Einsitz in die helvetische Version dessen, was im Sowjetsystem die «Nomenklatura» hiess.
***
Wird heute wie damals? Die russische Invasion der Ukraine (von einem «Überfall» zu sprechen, ist angesichts des langen Vorlaufs verfehlt) hat uns zurückkatapultiert. Erneut ist Moskau zu einem Ursprung von Angst und Schrecken geworden, zu Recht und mit jeder Verlautbarung aus dem Umkreis der Machthaber unmissverständlicher. Russland hat am 24. Februar 2022 nicht nur seinen Nachbarn angegriffen, sondern auch eine Gewissheit weiter westlich überrumpelt. Krieg, der «konventionelle» von Armee gegen Armee, mit allen dazugehörigen Greueln, Vergewaltigung, Raub, Brandstiftung, Folter, Quälerei, Hunger, Mord, Erniedrigung – der Krieg, der ausserhalb Europas nie verschwunden war, ist auch auf unserem Kontinent noch da. Die Reaktion ist eine grosse Verstörung, noch verstärkt durch einen ubiquitären Drang, sich in Szene zu setzen oder mindestens auf allen Kanälen mitzuteilen. Eine Sintflut von Experten und Expertinnen, standup-Artisten, Schreibtischstrategen, ergiesst sich über ein wehrloses, auf like und retweet reduziertes Publikum, 24/7, aber ohne nennenswerten Mehrwert: Wer sich am Stammtisch unterhält, kriegt ukrainemässig in etwa denselben Überblick wie nach dem Konsum der talk shows und der Zeitungskommentare.
***
Ist der Wust weggeblasen, treten dieselben Parameter wie Anfang der fünfziger Jahre zutage:
- Moskaus Akt ist völkerrechtswidrig, das Verhalten seiner Armee verbrecherisch. Die vorgebrachten Entschuldigungen (der Gangster wurde «provoziert», die Osterweiterungen waren überdehnt) sind nichtig. Empörung ist gerechtfertigt. Widerstand ist legitim.
- Intervention auf Seiten des Widerstands hat ihre Grenze an den waffentechnischen, nuklearen Realitäten. Nach dem Ende des Kalten Krieges (in den USA nennen sie es «Sieg») fand keine Abrüstung, geschweige denn weltweite Ächtung der Nukleararsenale statt, sondern eine Modernisierung und Miniaturisierung, die ihren Einsatz erleichtert. Das nukleare Kalkül bleibt bestehen: Wer schiesst, kann zurückbeschossen werden. So lange, bis keiner mehr steht.
- Wann dieses Eskalationsspiel beginnt, ist Definitionssache, heute noch mehr als gestern. Weil die Arsenale immer feiner auf das «Gefechtsfeld» ziseliert sind, wächst der Ermessensspielraum für die Definition von «Angriff», respektive «Angriff, der eine nukleare Erwiderung rechtfertigt». Das heisst: Putin kann entscheiden, wann – beispielsweise durch welche Waffenlieferung – er sich von der NATO angegriffen fühlt. Und umgekehrt.
- Die Folgen für die konkrete Politik sind Ambivalenz, ständige Risikoabwägung und erhöhter demokratischer Erklärungsbedarf – kurz: unbefriedigend.
Wie am Anfang des Kalten Krieges stehen rollback und containment gegeneinander. Rollback heisst: Die Ukraine so lange und so massiv unterstützen, dass der Krieg gegen Russland gewonnen wird – koste es, was es wolle. Containment heisst: Die Unterstützung der Ukraine so begrenzen, dass der Krieg nicht ins Unermessliche wächst, aber selbst so weit aufrüsten, dass Russland keinen weiteren Angriff wagt.
***
Im Augenblick haben die rollbacker die Oberhand. Die Medien triefen von Betroffenheitslyrik, die Politik von Entrüstungsrhetorik. Wer etwas auf sich hält reist ins zureichend befriedete Kiew, um «Solidarität» zu bekunden (und den ukrainischen Kämpfern wohl wertvolle Zeit abzustehlen). Es keimt eine Hysterie. Das Entsetzen über den von Russland begonnenen Krieg und die Abscheu vor der russischen Kriegführung schwappen auf alles Russische über: Russische Dirigenten werden entlassen, russische Sopranistinnen ausgeladen, russische Tennisspieler gesperrt (im Gegensatz zum ungeimpften Serben Djokovic). In der Schweiz hat die «Neue Zürcher Zeitung», das Intelligenzblatt der einheimischen Nomenklatura, hat einen Artillerieobersten auf der Lohnliste, um uns die Frontverläufe und Waffeneinsätze zu erklären.
***
Ich mag den Braten nicht, der da zu riechen ist. I smell a rat. Ich sehe nicht ein, wie den Ukrainern geholfen ist, wenn man russischen Dirigenten den Taktstock wegnimmt, und ich fände die Zeitung glaubwürdiger, wenn sie mir den Krieg durch einen Trompeter erklären liesse und nicht durch einen Artillerieobersten.
Auch Deutschland übt sich im Austarieren von rollback und containment. Auf seine eigene, komplizierte Art, belastet durch die schwere Vergangenheit als Weltkriegsfeind der Russen, durch die eigene Spaltung in Ost und West und durch den Umstand, stärkstes Mitglied in der Europäischen Union zu sein – nicht militärisch zwar, aber in allem anderen: Die Leitkuh in der Herde, aber nicht der Stier. Die Auseinandersetzung findet quer durch die Parteifronten statt, und auch unterhalb der politischen Wasserlinie. Neben denjenigen, die sich um das «Wie» der Gegenwehr auf die Invasion der Ukraine streiten, rollback gegen containment, steht eine murrende Masse verständnisvoller Freunde Russlands: Putin-Trolle, Ostnostalgiker, die Neue Rechte, ökonomische Bedenkenträger, die vor radikaler Kappung der russischen Energiezulieferungen warnen (Beispiel: der CDU-Abgeordnete Jens Koeppen, in dessen Wahlkreis Uckermark-Barnim die Stadt Schwedt liegt, wo der russische Rosneft-Konzern eine Ölraffinerie betreibt, die halb Ostdeutschland mit Benzin versorgt). Einiges zu reden gibt derzeit ein von weit über hunderttausend unterschriebener «offener Brief» der feministischen Journalistin Alice Schwarzer, der die Regierung zum Verzicht auf die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine auffordert. Solche Lieferungen sind mittlerweile von der sozial-grün-liberalen Regierung bewilligt, aber Schneid und Schärfe des deutschen Beitrags zur Unterstützung der Ukraine sind in der Koalition umstritten. Wohl hat der sozialdemokratische Kanzler Scholz gleich nach dem russischen Einmarsch die «Zeitenwende» verkündet und hundert Sondermilliarden für das Militär aufgelegt, das laut neueren Befunden unter seinen Vorgängern der Verlotterung anheimgegeben wurde. Aber Scholz ist ein containment—Verfechter, der in Interviews darauf beharrt, dass die Bewahrung des Landes vor einer nuklearen Vernichtung auch ein legitimes Staatsinteresse darstelle und er nicht nur der Ukraine helfen, sondern auch eine Ausweitung des Krieges verhindern wolle. Deswegen steht er doppelt im Wind, von der einen Seite geblasen von den non-interventionistischen Alice Schwarzers im Land, von der anderen von den Parteigängern der robusten Hilfe. Unter ihnen auch die Grünen, die sich als die wendigsten entpuppen. Eben noch pazifistisch bewegt, den Menschenrechten hoch verpflichtet und akzentuiert umweltbewusst, verfechten sie die härtere Linie. Ihre Minister forderten die rasche Lieferung schwerer Waffen, als Scholz noch zögerte, und der grüne Wirtschaftsminister bemüht sich um Oel und Gas bei arabischen Despoten, über die vor Tische noch grüne Nasen gerümpft worden sind. Die massive deutsche Abhängigkeit von Oel und Gas aus Sibirien, jahrzehntelang von Industrie und wechselnden Regierungskoalitionen befördert, wird nun ebenso massiv kritisiert.
Berlin, 25 April, «Ständige Vertretung», eine der Kneipen am Schiffbauerdamm, nach dem Hauptstadtumzug 1994 als Oase der Rheinländer ins Leben gerufen und seither ein gut laufender Treffpunkt von Touristen und Nostalgikern der «Bonner Republik». Es wird Gaffel-Kölsch ausgeschenkt. Die Wände sind von oben bis unten mit Fotos verblichener Grössen bepflastert, Adenauer, Schmidt, Kohl. In einer Ecke findet sich eine Aufnahme von Gerhard Schröder, Bundeskanzler von 1998 bis 2005. Die einzige, und vielleicht übersehen. Denn «StäV» streicht Schröder aus dem Palmares. Sein Bild wird aus der Menükarte entfernt, wo er in engen Bezug zu seiner angeblichen Vorliebe Currywurst gebracht wurde, die als «Altkanzler-Filet» angeboten war. Nicht mehr. Neu heisst sie wieder «Currywurst», bleibt aber auf dem Menu – leider. Sie ist bei weitem das grässlichste Erzeugnis der deutschen Küche und sollte mit Schröder aus dem Angebot verschwinden.
***
Schröder, Sozialdemokrat, persönlicher Freund von Putin und gut entlöhnter Chef-Honcho der russischen Gas-und Ölindustrie, steht im Fadenkreuz des aktuellen furor teutonicus. Im Gegensatz zu anderen Genossen (so sein Weggefährte Steinmeier, der heutige Bundespräsident), weigert er sich, irgendwelche Fehleinschätzungen bei der deutschen Abhängigkeit von russischem Gas einzugestehen, und er weigert sich auch, von seinen russischen Mandaten zurückzutreten oder seinen Freund Putin fallen zu lassen. Man empfiehlt ihm den Parteiaustritt und droht mit dem Ausschluss. In Gesprächen mit der New York Times hat Schröder vor kurzem eine Art Rechtfertigung von sich gegeben. Fragen nach dem persönlichen Verhältnis zu Putin blockte er durch Drohung mit Gesprächsabbruch ab, aber die Kritik an der deutschen Gaspolitik verteidigte er ohne Abstriche. Erstens hätten während der drei Jahrzehnte seit dem Kalten Krieg «alle» diese Politik mitgetragen, sagte er, und zweitens habe Russland sich durch alle Krisen hinweg an die Lieferverträge gehalten, was auch jetzt so bleiben werde. Schröder, der in die amerikanischen Interview-Regeln einwilligte («gesagt ist gesagt», die im deutschen Sprachraum gewohnte «Autorisierung» im Nachhinein ist tabu) bekräftigte gegenüber der Times seine Auffassung, dass Frieden und Wohlstand Europas immer mit «Dialog» mit Russland verknüpft bleiben: «Sie können ein Land wie Russland auf lange Frist nicht isolieren, weder politisch noch ökonomisch». Die Times zitiert ihn so: When this war is over we will have to go back to dealing with Russia. We always do. Es wäre hier interessant zu erfahren, was der Ex-Kanzler ganz genau gesagt hatte (das Interview wurde auf Deutsch geführt). Denn dealing with Russia kann vielerlei heissen: «Verkehren», «Handel treiben», «verhandeln». Die Spannweite ist so gross wie jene zwischen rollback und containment.
***
Im Bericht der New York Times kam auch ein angeblicher Vermittlungsversuch Schröders zur Sprache. Bekannt war, dass der Ex-Kanzler am 9. März in Moskau bei seinem Freund Putin vorsprach, aber ohne irgendwie bemerkbares Resultat heimkehrte. Im Times-Interview teilte Schröder nun mit, dass er zwei Tage zuvor in Istanbul einen ukrainischen Emissär getroffen habe, der ihm eröffnet habe, Präsident Zelensky unterstütze seine Vermittlungsmission. Dieser Kontakt sei «Anfang März» durch das Schweizer Verlagshaus Ringier zustande gekommen. Das ist plausibel, aber merkwürdig. Plausibel, weil Schröder nach seiner Abwahl als Bundeskanzler eine nie näher erklärte «Berater»-Funktion bei Ringier einnahm, wahrscheinlich eingefädelt durch den Ringier-Vertrauten Frank Meyer, der sich in Berlin als Talk-Master und Herausgeber eines Magazins in Szene setzt. Aber «Anfang März»? Am 1. März hatte Ringier mitgeteilt, Schröders Beratermandat sei «sistiert». Seither fällt der «Blick», das Haupterzeugnis des Unternehmens, durch pointiert solidarische Ukraine-Berichterstattung auf. Eine bedeutungslose Reise der Schweizer Parlamentspräsidentin nach Kiew erhielt im «Blick» mehr Raum als der kurz darauffolgende Kiew-Besuch der US-Parlamentspräsidentin Nancy Pelosi in der New York Times. (Kritik am journalistischen Overkill verhöhnte der Chefredaktor als «kleinkariert, miesepetrig, provinziell» – in sicherlich unbewusster Griff ins Vokabular des Propagandaministers Goebbels, der 1934 zum Feldzug «gegen Miesmacher und Kritikaster» geblasen hatte).
***
Überhaupt die Schweiz: Das Land mit der grössten privaten Vermögensverwaltung der Welt und damit wohl auch dem grössten Anteil russischer Oligarchenmillionen macht die von der Europäischen Union ergriffenen Sanktionen mit, aber ziemlich dezent. Vielleicht aus Angst vor den Nationalisten, die bereits über Verletzungen der «Neutralität» klagen und sich als «Kriegspartei» wähnen. Vielleicht auch, um die guten Kunden nicht allzu sehr zu verbiestern. Fachleute zur politischen Linken monieren, die Sanktionen gegen russische Guthaben seien mickrig und löchrig. Der ehemalige US-Arbeitsminister Robert Reich oder der französische Ökonom Thomas Piketty schlagen eine Verschärfung vor: Beschlagnahmung aller russischen Guthaben über 10 Millionen. Warum kein Swiss Finish im Sanktionsbereich? Nach dem Finanzkollaps von 2008, als die internationalen Regeln für das Mindeskapital von Banken verschärft wurde, hatte die Schweiz den Swiss Finish ins Spiel gebracht: Wir tun ein bisschen mehr als der Rest.
***
Zurück zum Krieg. Er ist eine europäische Sache. Die Vorstellung eines Friede-Freude-Eierkuchens «von Vancouver bis Wladiwostok» ist gestorben. Aber in einem hat Gerhard Schröder recht: Europa ist dazu verdammt, sich mit Russland in ein Verhältnis und ein Benehmen zu setzen. Die Vereinigten Staaten müssen es nicht, oder jedenfalls nicht auf die gleiche Weise. Ihr Ziel ist, Russland «zu schwächen», über die Bewahrung einer unabhängigen, souveränen (und neutralen) Ukraine hinaus. Europas Ziel muss nicht Russlands Schwächung, sondern die eigene Stärkung sein. Europa muss seine eigene Verteidigungsfähigkeit, die militärisch und auch die nukleare, so stärken, dass eine weitere Attacke nach ukrainischer Art vermieden wird. Europa muss sich rüsten, gemeinsam. Das könnte eine simple politische «Botschaft» sein. Aber davon ist zurzeit wenig zu sehen. Die Kanonen für die Ukraine werden national geliefert. In der Flut von news ist eine europäische, gesamteuropäische, Betrachtungsoptik so rar wie ein Lachs im Rhein. Eine Ausnahme lieferte dieser Tage der deutsche Philosoph Jürgen Habermas. Am Schluss einer langen, mit vielerlei unemein deutschen Befindlichkeitsanalysen gespickten Einlassung in der Süddeutschen Zeitung schrieb Habermas: «Immerhin nicht zufällig sind die Autoren der „Zeitenwende“ jene Linken und Liberalen, die angesichts einer drastisch veränderten Konstellation der Großmächte – und im Schatten transatlantischer Ungewissheiten – mit einer überfälligen Einsicht Ernst machen wollen: Eine Europäische Union, die ihre gesellschaftliche und politische Lebensform weder von außen destabilisieren noch von innen aushöhlen lassen will, wird nur dann politisch handlungsfähig werden, wenn sie auch militärisch auf eigenen Beinen stehen kann.».
Wie gesagt: Europa muss sich rüsten, gemeinsam.