Berlin, 27 Jun 2022,
Lieber J,
Ich komme spät – aber ich komme immerhin. Es hat mich wahnsinnig gefreut, dass Du meinen Berliner Beitrag zum Ukraine-Krieg gelesen hast. Mit noch grösserer Freude sehe ich, dass Du vernünftig fandest, was ich zum Krieg zu sagen hatte. Die Ausnahme ist der Schweiz-Bezug – aber das ist ja klar. Da werden wir uns nie finden, auch wenn wir hundert Jahre alt würden. Ich bleibe dabei: Die Anpassung an die europäischen Sanktionen gegen Russland und einige wenige Russen ist Augenwischerei. Die Schweiz, grösste Verwalterin von Dreckgeld in der Welt, müsste und könnte mehr tun. Swiss Finish eben (soeben lesen wir, dass russisches Gold in der Schweiz gelandet ist).
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Ich will versuchen, Dir hier ein wenig zu antworten oder den Faden weiter zu spinnen. Du vermutest, dass ich mich dem Gegenwind des mainstream aussetze. Ich weiss es nicht, aber es wäre mir wurst. Und ich kenne das. Ob Du es glaubst oder nicht, Du bist in diesem Spittel nicht allein. Auch ich habe meine Erfahrungen mit dem mainstream gemacht, während meiner Journalistenzeit. Ich bin oft angeeckt, wenn ich den linken group think ritzte (als ich das Vorgehen der Ortega-Regierung gegen die Gewerkschaften in Nicaragua thematisierte, setzte ein Kollege einmal meinen ganzen Artikel kurzerhand in den Konjunktiv, weil er «subjektiv» sei). Da war ich sozusagen der Abweichler nach rechts. Ironischerweise war es gerade umgekehrt, als ich in den Nullerjahren auf einem Seelenverkäufer in Zürich gelandet war. Er wurde von einer Kuppel Esel kommandiert, welche einem neuen, an den Weltwöchnern orientierten mainstream verschrieben waren. Dort lernte ich, dass «guter Mensch» ein Schimpfwort geworden war und sah mich als abgehakten Linksträger im Bierverschiss.
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Ich will damit nicht etwa sagen, dass automatisch richtig liege, wer von mehreren Seiten angegriffen werde, geschweige denn eine rechte Mitte beanspruchen. Die Mitte war nie mein gesuchter Ort. Ich weiss auch nicht, ob ich mit meinen Überlegungen zum Krieg in der Ukraine einen mainstream gestört habe. Um das zu ermessen, ist mein Bekanntenkreis weder gross noch engagiert genug. Was mich umtreibt, und auch aufregt – und da könnte es sein, dass wir uns treffen: wir sollten einmal reden – ist eine gewisse Naivität, vielleicht auch Überheblichkeit, sowohl im Publikum als auch in der veröffentlichten Meinung. Zum einen die Naivität des Erstaunens und Erschreckens über die Realität von Krieg, Tod, Verstümmelung etcetera. Sie stiess mir schon in den ersten Kriegstagen auf, als ich in den USA unterwegs war und National Public Radio hörte: Die Berichterstatterinnen (es waren wirklich meistens Frauen) vor Ort und in Washington überschlugen sich in Empathie und Gefühligkeit, man fühlte sozusagen durch den Lautsprecher, wie die Tränen aufwallten und die Stimmen sich belegten, wenn sie die Bombardierten in Kiew oder die Flüchtlinge in Polen interviewten. Das mögen reale Empfindungen gewesen sein oder nicht (eines der 10 Gebote des Medienkonsumenten: Trau keiner veröffentlichten Empfindung), aber sie sind nichtsdestotrotz ein Signal von Realitätsverlust. Es gab in den Jahrzehnten seit dem Ende des Kalten Kriegs weiss Gott genug Kriege, aus denen sich erfahren liess, was vor Ort und «im Feld» geschieht. Ich kann mich – beispielsweise – nicht erinnern, dass den Opfern der israelischen Vergeltungsakte in Gaza so viel Anteilnahme widerfahren wäre, von den Greueln im Kongo ganz zu schweigen.
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Die andere Naivität-cum-Überheblichkeit ist jene, die ich in meinem Treptow-Stücklein ansprechen wollte. Ich denke, mehrere Kohorten von Beobachtern und Berichterstattern sind sich nicht mehr bewusst, wie gefährlich und wie anders die Ausweitung kriegerischer Konflikte ins Nukleare ist und sein kann. Ich habe mich früher viel mit diesen Sachen befasst und weiss, dass die Arsenale präziser und kleinteiliger gemacht worden sind. Es ist heute möglich, nukleare Gefechtsfeldwaffen so einzusetzen, dass die physische Kontamination begrenzt ist. Wer sagt uns, dass die Russen nicht zu diesem Mittel greifen, wenn die Verluste zu hoch werden oder die Erfolge zu langwierig? Der Einsatz von Nuklearwaffen durch eine Nuklearmacht wäre mit Bestimmtheit ein gefährlicher Quantensprung. Ich bin in den vergangenen Wochen auf ein relativ neues Buch eines ukrainischen Harvard-Professors gestossen: Serhii Plokhy, Nuclear Folly – A history of the Cuban Missile Crisis. Er verwirft die mainstream-Darstellung (ich vermeide das Modewort «Narrativ» – Du auch?) der Kennedy-Heldengeschichte, sondern konzentriert sich auf die vielen Irrtümer, denen beide Seiten in den entscheidenden Tagen unterlagen, und auf die Menge Glück, mit der die Entscheidungsträger die in Kauf genommene Katastrophe vermieden. Ein Beispiel: Bis ganz zuletzt sah die amerikanische Eventualplanung eine militärische Invasion Kubas vor. Die Leute um Kennedy wussten jedoch nicht, dass die Zahl der sowjetischen Truppen auf der Insel weit höher war als angenommen, und dass die sowjetischen Kommandanten vor Ort autorisiert waren, auf eigene Faust nukleare Waffen gegen einen Invasor einzusetzen. Das kam erst viel später heraus, ich glaube in den neunziger Jahren. Gottlob waren sich Kennedy und Chrustschow der Gefahr und den Implikationen einer nuklearen Eskalation bewusst, und wollten beide sie auf jeden Fall vermeiden. Ich zweifle, dass das heute auch der Fall ist. Putin und vor allem das Putin-Umfeld wird mit beängstigenden Äusserungen zitiert, und auf der amerikanischen Seite scheint eine grosse Lücke im strategischen Denken zu klaffen. Im «Atlantic Magazine» hat einer vor kurzem dargestellt, dass die heutige US-Generalität weder von der Kuba-Krise noch von den strategischen Kalkülen in der nuklearen Dimension von Krieg eine grosse Ahnung hat. Wenn du siehst, wie die Amerikaner in ihrer Alltagssprache mit der nuklearen Gewalt umgehen (nuclear option im Kongress, nuke den kalten Kaffee in der Mikrowelle) und dich erinnerst, wie Donald Trump bramarbasierte (Einsatz von Atombomben gegen Orkane) kann dir schwindlig werden.
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Ich denke, Biden hatte recht, als er der Ukraine weitere militärische Unterstützung zusagte (hoffentlich auch die Früchte der intelligence und die Fähigkeiten im cyber war), aber eine ganz scharfe Linie zog: Keine amerikanischen Soldaten (und damit wohl auch keine der NATO insgesamt) an die Front, keine Hilfe für Angriffe auf Russland. Ich zweifle aber, dass die Trennlinie klar gezogen werden kann (soeben tun die Russen uns zu wissen, sie hätten Kämpfer aus Polen gefangengenommen), und bin sicher, dass Entscheide auf grosse Schnelle (noch schneller als eine Berner «Konsultation» zu einer Abstimmung im Sicherheitsrat) zu treffen sein werden. Deshalb denke ich auch, dass der deutsche Kanzler Scholz recht hat, wenn er die Notwendigkeit offener Kommunikationskanäle nach Russland unterstreicht.
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Welchen mainstream verletze ich da? Ich weiss es nicht. Wer Aggressor ist und wer nicht, ist aus meiner Sicht klar. Es ist Russland. Das Argument, der «Westen» (was ist das noch?) habe den Russen mit dem Angebot einer NATO-Mitgliedschaft der Ukraine übermässig gereizt, ist bullcrap. Nicht bloss Unsinn, sondern grobe Hetze. Wieso sollte ein europäisches Land sich nicht um NATO-Anschluss bemühen, wenn es das will? Gerade ein osteuropäisches, das ja weiss, wie es sich unter russischer Hegemonie lebt? Und wieso sollte die Ukraine kein europäisches Land sein dürfen, wenn sie es will? Putin und die Russen (die meisten, liest man) sehen es anders und sprechen der Ukraine die eigene Staatlichkeit und Souveränität ab, weil sie «immer» russisch gewesen sei, etcetera. Das ist ebenfalls Mumpitz. Historischer Habakuk. Es erinnert mich an die Israel-Trolle, welche die Besetzung der Westbank von einem «historischen», aus der Bibel abgeleiteten Anspruch ableiten. Wer so anfängt, kann nahezu jeden Krieg erklären, und wer damit in Europa anfängt, soll Widerstand gewärtigen. Hat unser Kontinent nicht gelernt, derartige «historische» Rechtfertigungen von Krieg und Gewalt zu relativieren, abzulegen und in einer grösseren Zusammengehörigkeit im Hegelschen Sinne «aufzuheben»?
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Hier geht der Überfall auf die Ukraine uns als Europäer an, anders und stärker als die Kriege im Kongo oder im Mittleren und Nahen Osten. Auch wir müssen uns wehren. Die ukrainischen Soldaten sterben nicht nur für den Fortbestand ihres Landes, sondern auch für die europäische Idee, dass Länder nicht einfach ausradiert werden dürfen, weil ein grösserer Nachbar sie aus «historischen» Gründen sein Eigen nennt. Gerade die europäischen Staaten müssen sich wehren, möglichst gemeinsam. Die Attacke auf die Ukraine ist für das gemeinsame Europa so etwas wie der 9. September für die USA – Europas nine eleven. Ich finde es richtig, dass Waffen geliefert werden – und zwar diejenigen Waffen, die die Ukraine jetzt braucht: Kanonen, Raketen, Panzer. Ich finde es richtig, dass sie so lange geliefert werden, als die Ukraine zu kämpfen bereit ist. Und ich finde es nicht richtig, dass die Schweiz sich weigert, die Munition für diese Waffen zu liefern. Wenn wir Waffen ins kriegführende Saudi-Arabien liefern können, weil irgendwelche Hechte im SECO einen Dreh gefunden haben, den Handel zu genehmigen, dann sollten wir auch imstande sein, Waffen an einen attackierten europäischen Staat zu liefern. Der Punkt ist hier nicht die Neutralität, sondern die Vorstellung, alles was einen Meter ausserhalb der Schweizer Grenze liegt, als «Ausland» zu betrachten. Es gibt da eine Zwischenzone, sie heisst «Europa». Wir gehören dazu. Europa ist nicht «Ausland». Ich weiss, J, dass wir uns da nie treffen. Aber ein wenig zu streiten könnte sich lohnen.
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Ich vermute, an einem anderen Ort könnten wir uns aber sehr wohl treffen. Mir geht die Herdenmentalität in der Ukraine-Frage auf den Wecker. Klar sind viele Leute aufgebracht. Sie wollen den Angriff nicht einfach hinnehmen und «etwas tun». Ich auch. Aber die Ausschliesslichkeit und die Ausschliessungsbereitschaft stören mich, und auch die billige Radikalität gegen alles, was anders denkt. Ich finde es ja nicht gut, aus Angst vor dem Atomkrieg einfach die Beine zu strecken. Man muss sich wehren – auch gegen Angstmache. Vor vierzig Jahren hat man uns mit der Angst vor dem Russen davon abhalten wollen, gegen die Stationierung von Pershing-II-Atomraketen in Europa zu protestieren. Millionen haben es dennoch getan und die Regierungen zum Verzicht gezwungen. Auf diesen Erfolg, glaube ich, bezieht sich der grüne Teil der forscheren Fraktion im politischen Spektrum. Das ist gut und recht. Aber der militärische Widerstand gegen die Invasion ist Sache der Ukrainer selbst. Es liegt nicht an uns, die Ukraine wie eine Fussballmannschaft zum Widerstand anzustacheln. (wenn schon, läge es an uns, den ach so neutralen Schweizern, die Goldkäufer und die Winkeladvokaten der russischen Oligarchen an den Pranger zu stellen und wenn möglich zu bestrafen). Es gibt keinen Grund, russische Sportler von Wettkämpfen auszuladen und russische Künstler am Auftritt zu hindern. Kann es nicht gut genug sein, nüchtern für das Nötige einzustehen und die Risiken abzuwägen? Das allerdings ist nicht gerade en vogue. Wenn schon, finden sich im veröffentlichten Meinungsgeröll zwei mainstreams. Der eine sind die Putin-Trolle und die Schwurbelartisten, die den Krieg auf irgendeine Geissart den Amerikanern in die Schuhe schieben und seine europäische Bedeutung ausklammern. Im andern schwimmen die Durchhaltefritzen, die den uneingeschränkten Kampf bis zum letzten Ukrainer sozusagen zum Litmustest für die korrekte Lageeinschätzung machen – angeführt ausgerechnet vom schlüpfrigen Doktor Johnson in London, der eben noch alles schlecht machte, was nach gemeinsamer europäischer Anstrengung aussah. Abklatsche finden sich allenorten, auch in Zürich. Anzumerken wäre, dass es sehr oft die Ungedienten unter den Politikern und Kommentatoren sind, welche die militärischen Interventionen am ehesten fordern.
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Was in dieser Hinsicht geschieht, erinnert mich ein ganz klein wenig an die Erzählungen der Älteren aus den fünfziger Jahren, als der antikommunistische Hetzer McCarthy in den USA sein Unwesen trieb (es war übrigens ein Vertreter des Militärdepartements, der ihm den Kammen stutzte). In der Schweiz gab es das ja auch – die NZZ und Konrad Farner, Du weisst. Und jetzt spriessen sie wieder, die toxischen Blüten der «geistigen Landesverteidigung». Bereits fordert der Artillerieoberst der NZZ (ich erlebte ihn als ungemein bedeutenden Schweizer Fernsehreporter, der auch im Zivil die dicken Nudeln auf der Achsel trug) die Stärkung des «Wehrwillens», möglicherweise weil er sich als Autor einer Neuauflage des Zivilverteidigungsbüchleins empfehlen möchte. Vor einiger Zeit las ich ein Interview mit einem Herrn Zogg, seines Zeichens ETH-«Experte» für Kriegsstrategien, der Deutschland im ukrainischen Fall «einen Kriegswiderwillen» attestierte. Dem Interviewer fiel der Begriff nicht weiter auf, und er versäumte es, den ETH-Mann darauf hinzuweisen, dass er sich im Wörterbuch der Weltkriegsmilitaristen bediene.
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Ich nehme solcherlei als Zeichen der Zeit und fühle mich unwohl.
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Als der Sechstagekrieg ausbrach, 1967, war ich im Gymnasium, Klasse Tertia. Unter Anleitung des freisinnigen Turnlehrers wurde ein Aktionsmoment zur Unterstützung Israels veranstaltet, mit Fähnchen, wohl auch einer Rede und reichlich Häme über die ägyptische Infanterie, die angeblich barfuss durch die Wüste floh. Alle machten mit, die ganze Schule. Ich gehörte zu den ganz wenigen, die sich weigerten. Ich verstand das israelische Dilemma und das Existenzrecht des Staates Israel war mir klar. Aber das Kriegshurra widerstrebte mir. Es war wie Klatschen im Rhythmus – das mag ich auch nicht.
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Ich fühle mich heute an jenen Moment erinnert.