Eine Handvoll Eindrücke eines Ausflugs in den amerikanischen Süden: Die ukrainische Front ist dort ganz, ganz weit weg. Joe Biden ist kein Kriegsheld. Was die Leute umtreibt, ist der galoppierende Benzinpreis.
Im Mai ist der Süden Amerikas noch erträglich: Die Landplage der springbreak-Studenten hat sich verzogen, Hitze und Feuchtigkeit liegen diesseits der Schmerzgrenze, die hurricane season steht erst bevor. Der Moment für einen road trip ist der richtige, also los. Wir starten in Hollywood/Florida nahe Miami, mein Berliner Kollege Thomas und ich. Fahren hinüber an den Golf von Mexiko und der Küste entlang bis New Orleans, mit einem Abstecher nach Montgomery/Alabama. Um der räuberischen drop off charge zu entgehen, bringe ich den gemieteten Nissan Rogue anschliessend zurück nach Washington, D.C., via Great Smoky Mountains und Virginia. Zum Abschluss eine Woche Segeln auf der Chesapeake Bay mit Captain B auf seiner «Windspeel».
Was lernst du unterwegs? Was ist mitteilenswert? Du reist mit einem Rucksack aus Erlebtem und Vorgefasstem, hältst ein wenig die Augen offen, quatschst mit zufälligen Bekanntschaften, verdaust das Ganze mit dem Enzym des Vergleichs und der Säure der Überlegung und sonderst am Ende ab, was der gewöhnliche Mann eine «Meinung» und der heutige Journalist gerne eine «Einschätzung» nennt. Ein Fazit. Meines lautet so: a) die Ära des billigen Hotelzimmers in Amerika ist vorbei. Unter siebzig Dollar ist auch das schäbigste fleabag-Etablissement nicht mehr zu finden. b) Benzin ist so teuer, dass der Betrieb der V-8-Panzer langsam weh tut (Captain B: «Ich habe gestern meinen Truck vollgetankt und 104 Dollar bezahlt»). c) Florida produziert – Überraschung – phantastische Austern, die Besten gab es in panhandle, dem schmalen westlichen Fortsatz, der als Spielwiese der rednecks (die Landeier) bekannt ist. d) die Autovermietungen scheinen neuerdings irgendeine Sperre ins Radiosystem einzubauen – der Nissan hatte nur christlichen bullcrap und Ödrock auf dem Durchlauf. e) dort, wo wir waren, ist der Krieg in der Ukraine kein einschneidendes Ereignis und beschäftigt die grosse Masse nicht allzusehr. f) der Klimawandel ist weiterhin kein showstopper, selbst an der meistgefährdeten Ufergebiet Amerikas, drücken Anwohner die Augen zu.
Florida Panhandle
Was du liest, stimmt. Ja, die Strände der panhandle (und in Alabama und Mississippi bis New Orleans) sind weiss wie der Schnee, dünn gekörnt, das Wasser sauber – «traumhaft», wie es im Reisewerbespeak heisst. Und im Mai sind sie nahezu menschenleer, das Wasser erfrischende 20 und nicht laue 30 Grad wie im Sommer. Die Touristensilos sind weniger dicht gestreut als an der Westküste, nicht alles Ältere ist ersetzt, an einigen Orten ist ein Hauch von main street, erhalten. Grosse Flächen von Sumpf- und Marschland sind Schutzgebiete. Im steten Bemühen, einem lebenden Alligator zu begegnen, fahren wir in die «Tate’s Hell Wildlife Management Area». Ein nettes Paar bietet an, auf dem Weg voran zu fahren, auf immer holprigeren Feldwegen in den Wald hinein, entlang stiller Wasserläufe bis zu einem Wendeplatz, wo es nicht mehr weitergeht. Ein Steg führt in das mit Pflanzen bedeckte Wasser hinaus, Mangrovenlandschaft so weit das Auge reicht. Nur ein Alligator ist nirgendwo zu erspähen. Wir seien zu spät, sagt das nette Paar, der Alligator pflege sich im Morgengrauen zu zeigen, und nachts sehe man die Äuglein im Wasser leuchten, je nach Grösse des Exemplars enger oder weiter auseinander. Weil die Stechfliegen arg zusetzen, verschwindet das nette Paar sehr rasch vom Steg, und wir fahren auch weiter.
In Cedar Key besuchen wir den kleinen State Park. Ein kurzer Rundgang führt durch die Marsch, ein kleines Museum erzählt aus der Geschichte des Fleckens: 1860 für die paar Monate bis zum Beginn des Bürgerkriegs ein wichtiger Brückenkopf der Eisenbahn und eine Holzschlagmetropole, bis Ende des 19. Jahrhunderts alles abgeholzt war. Heute lebt man von der Muschelzucht und vom Tourismus. Das Museum beschreibt ziemlich ausführlich die Lebensart der Seminole-Indianer, verliert aber kein Wort über die schwarze Bevölkerung. Das ist nicht Zufall. Unweit von Cedar Key lag vor hundert Jahren der Weiler Rosewood, wo der Rassenkonflikt vor hundert Jahren derartigen Massaker endete, dass schwarz und weiss den Ort für immer verliessen.
***
Wir sprechen mit dem Aufseher, der sich als moderner Nomade entpuppt. Seit zehn Jahren ziehe er mit Truck und Wohnwagen durch die Lande, erzählt er uns. Er verweile ein paar Monate hier, ein paar Monate dort. Jetzt eben in Cedar Key, als Parkwächter.
- Was denken Sie über den Krieg in der Ukraine? Sollen die USA den Ukrainern helfen?
- Ich hoffe, dass wir uns da heraushalten und nicht hineingezogen werden. Wir haben andere Sorgen. Zum Beispiel der Benzinpreis.
- Also tut Präsident Biden nicht das Richtige. Hätte Trump es besser gemacht?
- Oh yeah. Sicher
- Denken Sie, Trump wird in zwei Jahren nochmals antreten?
- Ich hoffe es.
Montgomery/Alabama
Das National Museum for Peace and Justice und das dazugehörige Legacy Museum in Montgomery, der Hauptstadt des Gliedstaats Alabama, sind die Trouvaille des Trips (merci für den Tip, Paul!). Sie dokumentieren die Lynchjustiz gegenüber den Nachfahren der schwarzen Sklavenbevölkerung und ehren die Opfer. In einer monumentalen Freilichthalle auf einem Hügel am Stadtrand hängen 800 Stahlplatten von der Decke, eine für jedes county, in welchem Vorfälle dokumentiert sind. Auf der Platte sind Ort und Datum der Tat und der Name des Opfers eingraviert, 4400 an der Zahl. Jede dieser Platten hat ein Doppel, welches das county abholen und als lokales Monument aufstellen kann. Die nicht abgeholten Stücke sind draussen aufgestapelt. Es sind viele.
In einem alten Lagerhaus unten in der Stadt präsentiert das Museum die Geschichte der amerikanischen Schwarzen von den Anfängen der Sklaverei bis zu den Black Lives Matter-Umzügen – nicht (oder nicht nur) als Fortschritt auf dem Weg zur Gleichberechtigung, sondern auch als nicht endende Einschüchterung und Unterdrückung. Neben den Kämpfen der Bürgerrechtler in den sechziger Jahren, Aufhebung der Rassentrennung in Bussen und Restaurants, Zugang zu höheren Schulen und – vor allem – zu den Wahllokalen, liegt ein zweiter Akzent auf dem Terror nach der Abschaffung der Sklaverei in den geschlagenen Staaten des Südens: lynching – die Lynchjustiz. Im Sprachgebrauch heutiger UNO-Resolutionen wäre von extrajudicial killings die Rede. Der Ursprung des Worts ist ungewiss (eine Version führt es auf einen aussergerichtlich operierenden Richter Lynch aus der amerikanischen Revolutionszeit zurück), und der Akt selbst nicht auf die Vereinigten Staaten beschränkt. Aber in den hundert Jahren nach der Niederlage des Südens im US-Bürgerkrieg wurde lynching dort zum Herrschaftswerkzeug. Geduldet und in Kauf genommen, oft unter Teilnahme feixender Mitläufer, die sich zu Dutzenden photographieren liessen und die Überbleibsel des Opfers als Souvenir heimbrachten, in aller Öffentlichkeit. Von den Aufnahmen wurden Postkarten verkauft, die Presse berichtete nicht bloss im Nachhinein sondern in Vorschauen auf das zu Gewärtigende. «John Hartfield wird heute Nachmittag um 5 Uhr von einem Mob in Ellisville gelyncht»., meldeten die Jackson Daily News am 26. Juni 1919, der Zeitungsausschnitt ist ausgestellt. Im Artikel steht, der Gouverneur erkläre, es sei nichts zu machen. Am gleichen Tag berichtete ein Blatt aus New Orleans aus Ellisville: Negro sulky and sullen as burning hour nears – «Neger mürrisch und betrübt mit anrückender Stunde seiner Verbrennung».
Nach unserem Besuch gehen wir ins Regierungsviertel, wo neben dem Staatsarchiv und dem Kapitol von Alabama auch das «erste Weisse Haus der Konföderation» steht, der erste Amtssitz von Südstaatenpräsident Jefferson Davis. Es wird mit dem Geld der Steuerzahler schmuck unterhalten. Wir fragen den freundlichen Aufseher, ob auch Schwarze zu den Besuchern gehörten. «Wenige», gibt er zurück. Wir sagen ihm, dass wir zuvor das lynching-Monument besucht haben. «Da war ich auch», sagt der Mann. «Eindrücklich».
New Orleans
Die Stadt brummt wieder. Das Corona-Virus war gestern, kein Mensch trägt Maske, niemand hält Abstand. Bourbon Street ist gut belebt, in der Frenchmen Street wummt Musik aus jedem Lokal. The Big Easy – du trittst ein, ohne Gesichtskontrolle oder doorman, holst dir etwas Dünnes, hörst ein wenig zu, gehst zur nächsten Tür. Oft mässig, manchmal gut, meistens laut, gelegentlich toll, immer bescheiden. Populaire. Wir treffen auf einen sehr passablen Tenormann.
***
Zum zweiten Mal im episch ausgelegten World War II Museum. Mich interessiert, ob die auf der Hand liegende Parallele zur Situation in der Ukraine in irgendeiner Weise thematisiert wird: «Neutralität» vs. Engagement, Verteidigung der «westlichen Werte» vs. imperialistische Grossmachtaggression, europäische Selbstverteidigung vs. amerikanische Intervention. Das Museum beschreibt das innenpolitische Dilemma von Präsident Roosevelt, die Isolationisten und Hitlerversteher um den Flieger Charles Lindbergh, damals was heute celebrity heisst, die Meinungsumfragen mit Mehrheiten für Amerikas Stillehalten (America First), dann der Angriff auf Pearl Harbor, der Meinungsumschwung und die gigantische Aufrüstung des arsenal of democracy. Schlacht um Schlacht geht es von Saal zu Saal, bis wir beim Segment über die Ardennenschlacht auf ein altes Ehepaar stossen. «Da warst Du also?», fragt die Frau vor einer Landkarte des amerikanischen Vormarsches nach Deutschland. «Jawohl», antwortet der Mann. Nach der battle of the bulge, wie die Amerikaner die Ardennenschlacht nennen (der verlustreichste Kampf der US-Militärgeschichte, 88 000 Tote), sei es nach Aachen gegangen, dann nach Köln und weiter nach Süden. In Salzburg seien sie auch gewesen. Der Mann heisst Bob Bokey. Er ist 97 Jahre alt. Vor drei Jahren hat er seine Partnerin, auch sie gegen 90, geheiratet.
- Sie haben die Ardennenschlacht mitgemacht?
- Jawohl, ich war bei Patton, bis zum Ende.
- Und dann?
- Dann musste ich weiter in den Pazifik. Ich hätte nochmals kämpfen müssen, wenn die Bomben auf Nagasaki und Hiroshima nicht gefallen wären.
- Nie in Gefahr?
- Doch, in Köln. Ich stieg auf den Dom, wegen der Aussicht und wurde von einem Scharfschützen aufs Korn genommen. Ich machte mich schnell davon.
Von einer Bezugnahme auf die Ukraine fehlt im Museum jede Spur. Nirgendwo eine ukrainische Flagge, niemand, der ein Flugblatt verteilte oder ein Banner hochhielte, nichts: Das World War II Museum ist von der Gegenwart abgeschnitten, eine Zeitkapsel für die Konservierung einer heldischen Epoche. The good war, wie der Oralhistoriker Studs Terkel sie nannte. Warum die Isolierung? Ich vermute, es hat mit der Gespaltenheit der Gesellschaft zu tun, die auch die Haltung zum Krieg ergreift. Gewiss finden sich Umfragen, welche die Politik der Regierung Biden – massive Unterstützung der Ukraine mit Kriegsmaterial, diplomatische Führung bei den wirtschaftlichen Zwangsmassnahmen gegen Russland –unterstützen, und im Kongress haben Bidens Finanzierungsvorlagen Mehrheiten auch mit den Stimmen seiner republikanischen Gegner gefunden. Aber im Senat stimmten 11 Republikaner und im Repräsentantenhaus 57 gegen Bidens zweites Ukraine-Paket, und in den Umfragen werden die Mehrheiten für seinen Kurs dünner. Präsidenten, die Krieg führen, stehen oft innenpolitisch gestärkt da, weil sie sich als «Führer der freien Welt» und dergleichen inszenieren – Clinton auf dem Balkan, die Bushs am Golf und in Afghanistan. Aber die Ukraine löst den Reflex nicht aus. Joe Biden ist nicht ein Kriegsheld. Bisher haben wir auf unserer Fahrt nur zwei Ukraine-Fahnen entdeckt, beide in New Orleans.
Gatlinburg/Tennessee
Auf der Interstate hinauf nach Tennessee. Da kriegst Du ausser Landschaft nicht viel mit, rote Böden in Mississippi, viel Wald und Landwirtschaft in Alabama, die schöne Flussbiegung von Chattanooga. Bis Gatlinburg/Tennessee am Fuss der Appalachen. Ich komme nachts an, als nur noch die Neonwerbung zu sehen ist, Meile um Meile Fast-Food und Rummelplatz von Pigeon Fork unten im Tal bis Gatlinburg oben am Eingang zum Smoky Mountain National Park, dazu ein endloser Stau. Gatlinburg ist eine erste Destination für amusement und fun für solche, die sich die Küste nicht unbedingt leisten können, rednecks, hicks, Hinterwäldler, die Leute, welche Hillary Clinton einst als deplorables verhöhnte. Las Vegas kann schrecklicher nicht sein. Ein zweiter Augenschein bei Tageslicht bestätigt den Befund. Hier gibt es offensichtlich weder irgendeine «Ortsplanung» noch eine Rücksicht auf die Schönheiten des Nationalparks nebenan. Wer Bedarf nach einem weiteren Pizzaschuppen oder einer Achterbahn hat, kann sie hinklotzen.
Dollywood ist auch hier angesiedelt, der Park von Country-Sängerin Dolly Parton (das Geburtshaus ist unweit). Wider besseres Wissen fahre ich zum Eingang, ein bisschen lockt der Besuch, Dolly gehört ja zum Allerbesten der amerikanischen Musik. Aber der Parkplatz ist so gross wie ein Flugfeld und schon halbvoll, ich fliehe. Den Trump Store muss ich allerdings mitnehmen: Ein Geschäft in einer Ladenzeile, zwischen einem Papa John’s und dem Chocolate Monkey. Zur Begrüssung aussen eine Flagge: Buck Fiden. Ich trete ein. Innen das Übliche. T-Shirts, Hüte, Teddybären, viele mit Let’s go Brandon angeschrieben. Und ein neuer Schriftzug ist im Angebot: Jo and the Ho gotta go. Das heisst so viel wie «Joe und die Hure müssen weg». Ist das noch freie Rede, oder sollte der Träger dieses Leibleins wegen Verleumdung angezeigt werden? Let’s go Brandon stammt aus einem TV-Interview mit dem Nascar-Autorennfahrer Brandon Brown, das von Fuck Joe Biden-Geschrei aus dem Publikum übertönt wurde. Die Interviewerin wollte ihrem Publikum glauben machen, die Menge meine den Rennfahrer und rufe Let’s go Brandon. Seither steht der Spruch für die gemeinte andere Bedeutung. Ich frage den jungen Mann an der Kasse, was es damit auf sich hat. Er hat keine Ahnung, weil er offensichtlich kein Englisch kann. Ich frage auf Spanisch.
- Weisst du, was das heisst, Let’s go Brandon?
- Nicht wirklich. Die Leute mögen es.
- Magst du Trump?
- Ja, sehr.
- Hast du ihn gewählt?
- Wie lange bist du schon hier?
- Ich bin vor sechs Monaten aus Mexiko gekommen.
- Wie kannst du dann wählen?
- Ich habe nicht gewählt. Ich meine nur, ich würde ihn wählen, wenn ich könnte.
Auf der Weiterfahrt in den Nationalpark halten die Autos plötzlich still. Wieder Stau: Gegenüber trottet ein Bär am Strassenrand, man photographiert. Die Strasse führt auf die Kimme des Gebirgszugs, den Morton Overlook. atemberaubende Ausblicke, Kette um Kette von Bergzügen, jeder in seinem eigenen Blau. Dann hinunter nach Cherokee, dem einzigen Überbleibsel des Indianervolks, das – ethnic cleansing – in den 1830er Jahren aus ihren Heimaten eskortiert und in den Wilden Westen hinausgetrieben wurde. In den Geschichtsbüchern wird der Vorgang als trail of tears verbucht. Die Tränenstrecken. Schliesslich hinunter nach Asheville/North Carolina. Eine radikal andere Welt als auf der anderen Seite des Gebirges. Die älteren Leute auf der Strasse sehen schicker aus, die jüngeren hipper. Die Restaurants oft vegan. Nicht selten eine Regenbogenfahne an einer Fassade. In Asheville ist man woke.
Chesapeake Bay
Die Chesapeake Bay östlich von Washington, D.C. ist das grösste Mündungsgebiet der Vereinigten Staaten. Viermal so gross wie die Schweiz. Ein nicht sehr tiefes, in unzähligen Buchten, kleineren Zuflüssen und Bächen verästeltes Gewässer. An den flachen Ufern liegen einige der ältesten europäischen Siedlungen Amerikas, ergänzt durch eine zunehmende Anzahl Zweit-Villen und Zweit-Appartements. Die bedeutende Hochseewassertrasse in den Hafen von Baltimore führt durch die Bay, Austern- und Krabbenfischerei gehören zu ihren traditionellen Wirtschaftszweigen, der blue crab ist die Delikatesse der Gegend. Die Chesapeake Bay gehört zu den am stärksten gefährdeten amerikanischen Küsten, und die Effekte sind längst zu messen. Die steigenden Wassertemperaturen haben einige Fischarten in kühlere Gebiete nordwärts vertrieben, das prekäre Gleichgewicht zwischen Süss- und Salzwasser ist gestört. Klima-Szenarien für das bevorstehende Jahrhundert projizieren Anstiege der Wasserspiegel zwischen 1 bis 6 Fuss (30-180 cm). Auf Zukunftslandkarten sind beträchtliche, nahe am Wasser liegende Wohnflächen schraffiert eingezeichnet: Sie werden in den kommenden Jahrzehnten überschwemmt.
Wir hatten im Sinn, bis Smith Island zu segeln, Captain B und ich auf dem 28-Füssler «Windspeel». Smith Island ist eine Insel auf der Grenze zu Virginia, 200 Einwohner, crab-Fischerei, das Überleben durch von Erosion und den Anstieg der Wasserspiegel akut bedroht. In wenigen Jahrzehnten wird von der Insel nichts Bewohnbares mehr übrig sein. Nach den Verwüstungen des Orkans Sandy 2013 bot die Regierung von Maryland den Einheimischen an, ihre Liegenschaften aufzukaufen und ihnen einen Neubeginn auf dem Festland zu ermöglichen, aber sie lehnten ab. Sie fordern adaptation, den Bau von Wällen und Dämmen mit Geld vom Staat. Wir wollten schauen, wie der Widerstand gegen die Natur sich anlässt.
***
Bis Smith Island haben wir es nicht geschafft. Aber einen Hauch von Eindruck vom Effekt des Klimawandels auf die Menschen an der Bay erhielten wir weiter nördlich. Zum Beispiel im Characters Bridge Restaurant in Knapps Narrows auf Tilghman Island. Wir versuchten, die Serviertochter in ein Gespräch zu verwickeln.
- Sie sind direkt am Wasser. Ist man besorgt über den Anstieg des Wasserspiegels?
- Nein überhaupt nicht.
- Aber die Häuser hier könnten doch überschwemmt werden?
- Das kümmert niemanden hier. Es spielt keine Rolle.
Characters hat keine crabs auf der Karte, wir seien zu früh in der Saison, heisst es. Und die Austern gibt es nur frittiert. Hinter uns liegen die Boote der watermen am Dock, die morgens um drei Uhr unter grossem Lautsprecherlärm ausfahren und nach fünf Stunden zurück sind, gelbe Netze gefüllt mit clams. Ich schwatze ein wenig mit einer Besatzung, ein Alter und ein Junger, wahrscheinlich Vater und Sohn. Der Fang sei ordentlich, sagt der Alte, 8 Dollars das bushel für Köderkrabben. Auch die Austern, die in den achtziger Jahren beinahe eingegangen waren, seien zurück. Der Kreislauf der Natur: «Die Austern verschwinden und kommen wieder, ich habe das in meinem Leben schon dreimal erlebt.» Das Problem von heute sei der Sprit, die gewaltig steigenden Treibstoffpreise. Das Schild bei der Marina zeigt 6 Dollar für die Gallone Diesel an – weit mehr als an der Strassentankstelle. Und dann fragt der Alte:
- Hast Du Biden gewählt?
- Was?
- Ob Du Biden gewählt hast
- Ich bin Ausländer, ich wähle nicht.
***
Womit ich mich verdächtig machte, bleibt im Dunkeln. Die Frisur ist es sicher nicht. Aber im Amerika von 2022 scheint sich hüben und drüben das Gespür für die Parteizugehörigkeiten des Gegenübers zu entwickeln. Captain B, ein eingefleischter Demokrat, hat klare Vorstellungen, wer als Republikaner daherkommt, wir spielen, tongue in cheek, “rot”oder “blau”. Segler sind tendenziell blau, also demokratisch, es sei denn die Yacht wäre deutlich über 48 Fuss lang. Motorbootfahrer tendenziell rot, also republikanisch, vor allem die mit über 500 PS Antrieb am Hintern. Schwieriger wurde es in Oxford, einer betulichen und noblen Ortschaft am Choptank River, Gebäude aus vorrevolutionärer Zeit, die älteste Fähre Amerikas (in Betrieb seit 1683), Liegenschaftspreise 1-Million-plus. Im Dorfpark spricht uns eine Dame an, die ihren Hund spazieren führt. “Ist es nicht schrecklich?”, sagt sie und meint den Krieg in der Ukraine. “Wie in den dreissiger Jahren, und erneut in Europa”. Amerika müsse wieder helfen, sagt sie. Die freie Welt retten. “Die Frau hat Geld”, sagt Captain B, als sie verschwunden ist. Rot oder Blau? Ich tendiere zu blau. Captain B ist unschlüssig.
***
Am Dock in Knapps Narrows ist der Fall klar. Der Kahn meiner beiden watermen zeigt Flagge: Jo and the Ho gotta go.
Publiziert bei watson.ch