Freund Hans machte grosse Augen, als ich ihm erzählte, dass ich Ende August. dem Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest beiwohnte. Beide Tage, freiwillig und mit Gusto. Hans kommt aus der Stadt. Er kann nicht ermessen, dass das Eidgenössische nicht nur die grösste, sondern die grossartigste Sportveranstaltung der Schweiz darstellt. Ein wahrhaftiges Abbild des Landes, wie es ist und funktioniert: Deutschschweizer Dominanz. Regionaler Chauvinismus. Interessenausgleich, gepaart mit Bauernschläue und einer Prise Mauschelei. Hohles Pathos, vereinbar mit unheimlich wenig Scheu vor dem kommerziellen Vorteil.
Klar fahndete ich nach einem Billet (schwierig), weil ich verfolgen wollte, wie Stucki abschnitt (sah man am Fernsehen) und unser Nachbar Florian sich schlug (sah man am Fernsehen nicht). Doch Sport beiseite: Ich ging vor allem aus ethno- oder soziologischer Neugierde hin. Ich wollte erfahren, wie weit das Eidgenössische Schwing- und Älplerfest (neuerdings zu «ESAF» verkürzt) seine Vermarktung treibt, und wie stark es sich der Verunterhaltungsindustrialisierung unterzieht. Der Befund, in einem Wort: Sehr. Das ESAF ist auf dem Weg, eine Massenveranstaltung wie jede andere zu werden. Innen Zirkus, mit einem Hauch Rodeo. Aussen Open Air. Was als Tradition auf eine Sonderzone der Gesellschaft beschränkt war, wird Teil des mainstream –vereinnahmt, monetarisiert, als Logo einer bestimmten Weltsicht genutzt. Wie die amerikanische country music oder reggae in der Karibik. Heute heisst das Phänomen cultural appropriation.
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Für die 400 000 auf dem «Festgelände» gibt es Skihüttenmusik, Faustverpflegung (non-vegan), Einheitsbier, «Murailles»-Weisswein. Und Sponsorenzelte. Und VIP-Bereiche. Und zu wenig Toiletten Und das welke Grünzeug in den Blumenkisten der Firma Syngenta («Die Schweiz blüht auf»). Und Holzschnitzelpfade, die im Regen zur glitschigen Eisbahn wurde***n. Sagte ich schon, dass es zu wenig Toiletten hatte? .
In die «Arena» gelangst du mit einem der begehrten 50 000 Billette. Es wird relativ locker kontrolliert, und der Rest ist frei. Es gibt keine Gesichts- oder Gepäckkontrolle. Kein Rauchverbot. Keinen Kaufzwang. Keinen Krawall und keine Gewalt. Mitgebrachtes wird toleriert, vom Sackmesser bis zur Zungenwurst und dem eigenen Weisswein. Kurz nach neun Uhr (die sportliche «Arbeit» beginnt vor 8, wie im richtigen Leben) werden Asersäcklein geöffnet, der Speck aufgeschnitten, die Flachmänner gezückt. Mehrfach trotten die Lebendpreise durch die Arena. Jodelchöre und Alphornbläser garnieren das Kampfgeschehen. Das Publikum aus den fünf Regionalverbänden sitzt nach Sektoren, die Fachsimpelei findet zwischen Gleichgesinnten statt. «Uberträje manerne nid, aber e chli uf e Gring chnöile sött er im», empfiehlt der Banknachbar vom Sangernboden, als ein Berner einen 130-Kilöner am Boden hat.
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Alles mehr oder weniger wie immer. Doch auch in der «Arena» wird das Geschehen mit Massensportspektakelementen angereichert. Die Jodel- und Alphornvorträge allein tun es nicht mehr, sie werden mit Lautsprecherdudel ergänzt. Auch ein einzelner Platzsprecher genügt nicht. Es braucht zwei Einpauker, die es zwar nicht fertigbringen, zuverlässig auf jeden Gang in den sieben Ringen hinzuweisen, aber die Aufmerksamkeit des Publikums mit «La Ola»-Aufrufen ablenken und mit «Wo sind die Berner? Wo sind die Innerschweizer?»-Befehlen zum Gemeinschaftsbrüll drängen.
Natürlich war ein «Festakt»zu ertragen, am Sonntagvormittag. So etwas wie eine halftime show, aber mit Reden. Diese wie üblich mit reichlich heimatlicher Sülze angerichtet. Der basellandschäftler Regierungsrat klopfte sich auf die Schweizerschulter: «…die beste, freiheitlichste, sicherste und friedlichste Gesellschaft, in der Menschen je leben durften». Der Zuger Regierungsrat Tännler (der Mann, dem zu den russischen Oligarchenmilliarden «kein Handlungsbedarf» einfiel) pries die «Schollenverbundenheit» des Publikums im gleichen Atemzug mit der «tollen Wertschöpfung» beim letzten Eidgenössischen in seinem Kanton. Den Vogel schoss der Aussenminister ab. Ignazio Cassis offenbarte Unkenntnis : «… verstehen alle Schweizer, aber sonst niemand auf der ganzen Welt, was eine Nuss ist». Der Magistrat meinte den «Nouss», den die Hornusser ins Feld schlagen. Der ist allerdings ein Hartgummikörper und beileibe keine Nuss. Dass er das nicht weiss, ist dem Tessiner nicht zu verargen, schliesslich ist das Hornussen weitgehend eine regionale Berner Sache (1. Rang Wäseli/Vechigen, 2. Rang Thörigen). Schon eher, dass Cassis es fertigbrachte, das Schwingen als Ausdruck von «Diversität» hinzustellen: «Schwingen, Hornussen und Steinstossen sind für mich primär der sportliche Beweis dafür, wie weit es anzahlmässige Minderheiten in der Schweiz bringen können.» Im Ernst? Schwingen als Minderheitssport? Eine Sottise. Denn Schwingen ist Sache der deutschschweizerischen Mehrheit in der Schweiz, mit einigen Ablegern in Fribourg, Waadt und Wallis. Noch nie ist ein Welscher auch nur in die Nähe des Königslorbeers gelangt. Von den heute aktuellen Minderheiten ganz zu schweigen. Es gibt keine Schwinger mit Nachnamen auf -ic, keine Muslime, keine Dunkelhäutigen. Übrigens auch keine Frauen. Sie schwingen zwar auch, aber nicht am Eidgenössischen und nicht in der «Arena».
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Cassis lag phänomenal falsch. Gewiss sind der Schwingsport und das Eidgenössische ein Abbild der Schweiz, wie sie leibt und lebt, aber eben nicht so, wie es der Aussenminister und seine Umgebung zurechtbiegen. Das Regelwerk und seine Auslegung liegen millimeternah an der gelebten politischen Kultur der Schweiz. Anders als andere Sportarten, in denen gemessen, verglichen, videogeprüft und rekurriert wird, geht es im Schwingen erklärtermassen ungenau zu. Es gibt keine Gewichtsklassen wie im Ringen oder Boxen. Es wird nicht alles gemessen, weil nicht alles messbar ist, nicht alles kontrolliert, weil nicht alles kontrollierbar ist. Und es menschelt. Denn sehr viel ist Verhandlungssache. Die Einteilung der Gegner wird im ersten Gang vom «Obmann» im Alleingang vorgenommen und danach zwischen ihm und den Vertretern der fünf Regionalverbände (Westschweiz, Bern, Nordwestschweiz, Ostschweiz, Innerschweiz) ausgemacht. Denn im Wettbewerb stehen nicht nur die 278 Kämpfer, die den König ausmachen, sondern die Teilverbände. Sie treten als Mannschaft auf. Ihre Vertreter im «Einteilungskampfgericht» wirken nicht nur darauf hin, dass ihre Athleten schwache oder besiegbare Gegner erhalten, sondern auch, dass die schärfsten Rivalen mit einem Kontrahenten gepaart werden, der ihnen ein Unentschieden («Gestellten») abringen und sie so zurückbinden kann. Die Einteilung ist eine sozusagen politische Sache, hinter verschlossenen Türen ausgeknobelt. Ob es wirklich fair zuging, ob wirklich die beiden Besten zusammengeführt wurden, ob nicht ein ebenso Starker zu kurz kam, ist im Publikum oft umstritten und Gegenstand intensiver Auseinandersetzungen. Desgleichen die Notengebung. Ein klarer Sieg («Plattwurf») gibt eine 10,0, ein nicht ganz klarer 9,75. Ein «Gestellter» gibt im Normalfall 8,75, aber bei ausserordentlichem Einsatz 9,0. Die Viertelpunkte sind Ermessenssache des Schiedsgerichts, oft heiss diskutiert. Nicht zu reden vom Ermessensentscheid, ob einer wirklich zu drei Vierteln auf dem Rücken lag oder eben nicht. Derartige Diskussionen gibt es in allen nicht ganz messbaren Sportarten. Die Eigenheit beim Schwingen liegt darin, dass ein einmal getroffener Entscheid nach gewalteter Debatte anerkannt und der Fall ad acta gelegt wird. Als der Aargauer Alpiger den Berner Stucki mit Griffverweigerungen provoziert, verwarnt wird, weiter provoziert und am Schluss auf den Rücken legt, waschelt es gewaltig unter denen vom Sangernboden in meinem Sektor. Bis einer der Diskussion ein Ende setzt: «Er het ne uf e Rügge gleit, fertig».
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Hier, in der eigenartigen Entscheidfindung, liegt die Parallele zwischen dem Schwingen und der Schweiz. In der politischen Kultur der Schweiz ist nicht alles von oben planbar. Es gibt Mitsprache, Aushandlung, Kungelei, Mauschelei, Interessenausgleich. Es gibt kein Regierungsprogramm, das «fadengrad» durchgesetzt wird. Es gibt oben ein Allparteiengremium und unten ein Parlament, in dem die Parteidisziplin manchmal, aber eben nicht immer obsiegt. Es gibt die Berücksichtigung aller Interessen und die Rückweisung der Extreme. Und es gibt auch omertá – gewisse Dinge, über die man nicht mehr spricht.
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Mit «Diversität» hat das nichts zu tun. Wer im Eidgenössischen Schwing- und Älplerfest «Diversität» sieht, vermag die Parallele zur politischen Eigenart der Schweiz nicht zu erkennen. Herr Cassis, respektive sein Redeschreiber, liest die real existierende Tradition durch die Brille der eigenen Befindlichkeit. Er vereinnahmt und eignet an. Damit ist er beileibe nicht allein, sondern liegt gut im Trend. Schwingen ist hip, der Massenandrang in Pratteln belegt es ebenso wie die TV-Einschaltzahlen. Als wir vom Bahnhof (das einzige, was der Besucher von Pratteln zu sehen bekam) mit tausend weiteren Frühaufstehern zum «Festgelände» strömten, fragte ich meinen Freund Bruno, wieviele davon wohl grün wählten. Ich tippte auf zwei Prozent. Er auf mindestens zehn: Es het äbe vüu Cheibe wo gchehrt hei. Wohl wahr. Wer seine Schweizerei signalisieren und sich als «Land» von der «Stadt» unterscheiden will, ist heute ein Anhänger des Schwingsports. Er trägt das geblümte Hemd so wie der Reggae-Musiker die Rastafrisur. Er betreibt cultural appropriation – kulturelle Aneignung.
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Geht es um Rastafrisuren von weissen Musikern, ergelstert das neuerdings die Gralshüter des Echten, Reinen und Unverfälschten. Besonders in weitab von der Karibik gelegenen globalen Weilern wie Bern oder Zürich. Im vorliegenden Falle nicht. In Pratteln hat sich niemand gegen die kulturelle Expropriation gestellt, von etwas Häme gegen das dünne Stimmlein einer Frau Jordi beim «Festakt» abgesehen. Mag sein, dass dereinst in Japan oder Schwarzafrika die Empörung gegen die kulturelle Expropriation von alpiner Tradition durch die Unterhaltungsindustrie ausbricht, aber so weit sind wir nicht. Noch bleibt die Schwing- und Älplerei vom Fremden unbeleckt. Das ist auch gut so. Wie sagte der Aussenminister? «…verstehen alle Schweizer, aber sonst niemand auf der ganzen Welt».