Viele, vielleicht die meisten Kampagnen der diesjährigen Wahlsaison in den USA beschränken sich darauf, die eigene Anhängerschaft anzusprechen. Sie finden intra muros statt und lassen die res publica ausser Acht. Ganz strenggenommen, sind sie unöffentlich.
Herauszufinden, wo ein amerikanischer Kongresskandidat sich dem Stimmvolk zeigt, ist schwieriger als auch schon. Alle haben ihre Webseite und sind in den sozialen Medien präsent. Doch der erste Klick führt unweigerlich zur Aufforderung, Geld zu spenden und Fussvolkdienste zu leisten (join the team). Der Klick auf contact resultiert in einer Postfachanschrift oder einer anonymen Mailadresse («info@…»), nie in einer Telefonnummer. Das E-Mail wird entweder gar nicht beantwortet oder zieht eine Flut von Betteleien nach sich. Die meisten malen den Teufel der Niederlage an die Wand – am krassesten die Kameraden von Donald Trump. Er steht zwar nirgendwo zur Wahl, aber via die Kontakte zu den Kongresskandidaten landet sein Geldsauger auf irgendeine Geissart in meiner Inbox. Trumps Leute sprechen mich als friend an, mehrmals täglich.
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Kaum zu finden sind Angaben über campaign events -Auftritte der Kandidaten in der Öffentlichkeit. Mitte Monat hatte ich Glück in Pittsburgh/Pennsylvania. Auf der Webseite des Demokraten Chris Deluzio, Kandidat für das «offene», das heisst von keinem Bisherigen besetzte, Mandat des 17. Kongressdistrikts im Gliedstaat Pennsylvania, war ein meet and greet angekündigt. Nur mit Anmeldeformular, aber ohne genaue Orts- und Zeitangabe. Erst wenige Stunden vor Beginn erhielten die Angemeldeten die Details – ein Privathaus in der Vorortsgemeinde Mount Lebanon. Ich erklärte der Gastgeberin, wer ich bin, und erhielt ohne weiteres Einlass in den Garten, wo drei Dutzend Personen warteten. Alles eingeschworene Demokraten, bereit für das Klein-Klein der Wahlkampfendphase: Vorgartenplakate (lawn signs) aufpflanzen, von Tür zu Tür hausieren (canvassing). Zwei Kandidaten traten auf, der altgediente State Senator Dan Miller und Deluzio, ein drahtiger Mittdreissiger, Anwalt, Navy-Offizier, Irak-Veteran, gemäss Webseitenbio verheiratet, drei Kinder, mit Hund namens «Yankee-Doodle». Nach einer kurzen Runde small talk kamen beide zur Sache. Deluzio begann mit dem Militärdienst. Auf dem Kriegsschiff habe man während der einsamen Nachtwachen mit allen über alles geredet, aber stets mit Respekt. Nie, nie sei der «Patriotismus» des anderen in Frage gestellt worden. Doch jetzt sei es anders. Die Republikaner wollten das Land verändern. Es müsse verteidigt werden. Die Minderheitsrechte, die Sozialversicherung, die Krankenversicherungen seien in Gefahr. Nun komme es auf jede Stimme an: knock on every door.
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Elaine, aktiv in der lokalen Parteiorganisation (Democratic committee), machte mich auf eine Veranstaltung des demokratischen Senatskandidaten John Fetterman am folgenden Tag aufmerksam. Sie wusste davon, weil sie auf der richtigen mailing list steht. Auch ich bin jetzt auf der Liste und erhalte Ankündigungen weiterer Veranstaltungen, meist mit sehr kurzem Vorlauf. Ein Beispiel: Eines Nachmittags schlägt in der Inbox eine Einladung der Fetterman-Kampagne auf: intimate and conversational discussion des Kandidaten mit der ebenfalls demokratischen Senatorin Amy Klobuchar aus Iowa am nächsten Tag. Irgendwo im Chester County. Auf Anmeldung.
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Haben die kurzen Bekanntmachungsfristen mit Sicherheitsbedenken zu tun? Elaine wies die Vermutung zurück. Die Firma, die mit der Kommunikation beauftragt sei, funktioniere eben so, sagte sie: Wahlkampf wird so auf eine Sache für die Eingeweihten reduziert. Flash mob in der bubble. Die Vorstellung der Republik als öffentlicher Ort und Arena der rationalen politischen Auseinandersetzung unter Gegnern bleibt damit auf der Strecke, und der Eindruck ist nicht nur subjektiv. Vor kurzem hat die Brookings Institution vorgerechnet, dass Kandidaten sich dem direkten Dialog mit dem Gegner zunehmend verweigern und die Zahl der TV-Debatten abnimmt. Der Erkenntniswert solcher Veranstaltungen ist ohnehin gering, da es nicht um die Detaillierung politischer Vorschläge und schon gar nicht um Rede und Gegenrede auf einem «Marktplatz der Ideen» geht. Das sind Schulbuchmetaphern, längst überholt. Wo TV-Debatten stattfinden, sind sie Schaulaufen für die eigene Galerie. Die einzig verbleibende Variable ist die «Persönlichkeit», die der Kandidat (oder die Kandidatin – die weiblichen sind immer eingeschlossen, das Geschlecht macht keinen Unterschied) auf den Bildschirm projiziert. Der einzelne Fehltritt spielt dabei keine grosse Rolle mehr. Früher wurde den Akteuren jede gaffe unter die Nase gerieben, aber diesmal sind die Toleranzen gross: Die Meinungen sind hüben und drüben gemacht. Beim meet and greet im Hintergarten von Mt. Lebanon machte Kandidat Chris Deluzio auf einen wichtigen Unterschied aufmerksam. Die als «unabhängig» registrierten Wähler (in den USA muss man sich zur Wahl anmelden und kann die Parteizugehörigkeit angeben) seien zwar die am schnellsten wachsende Gruppe, aber das täusche: «Die meisten von diesen haben sich schon lange entschieden. Die Zahl der wirklich Unentschiedenen ist nur ein ganz kleiner Prozentsatz». Es geht in erster Linie um Mobilisierung des eigenen Anhangs. Mobilisierung ist alles. Knock on every door.
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Die Toleranzen sind gross. In der TV-Debatte zwischen den Senatskandidaten in Georgia redete der republikanische Kandidat Herschel Walker in nur gelegentlich nachvollziehbaren Wendungen. (Beispiel: I am worked with police –«ich bin mit der Polizei gearbeitet»). Das trug ihm den Spott in der Satiresendung Saturday Night Live ein, aber sonst keinerlei Schaden. Im Gegenteil. Walker plazierte ein paar einstudierte Einzeiler und wies seinen Gegner mehrfach darauf hin, einer Frage auszuweichen. Seine Chancen sind intakt. Doch die Toleranzen sind nicht grenzenlos. Beispiel Fetterman in Pennsylvania. Der demokratische Kandidat für den Senat erlitt im vergangenen Mai einen Hirnschlag, von dem er sich langsam erholt. Wohl zu langsam. Er braucht einen Computer, um zu verstehen, was ihm gesagt wird, und er hat nach eigenem Eingeständnis manchmal Mühe, Worte zu finden. In den Auftritten vor dem eigenen Publikum ist davon nichts zu merken. Aber in der TV-Debatte von gestern Abend offenbarte sich die Behinderung auf brutale Weise. Während sein Gegner, der TV-Arzt Mehmet Oz, polierte Eloquenz zelebrierte, war Fetterman auf kurze, mühselig zusammengeklaubte Sätze zurückgestutzt, die manchmal in hilfloses Gestammel mündeten. Zwar vermochte er seine Positionen zu artikulieren: Ja zur Abtreibung, Nein zum Abbau der Sozialwerke, Kampf gegen «Gier der Konzerne», Einsatz «für alle, die zu Boden geschlagen wurden und sich wieder aufrappeln». Aber mehr nicht. Gegen die Angriffe seines Widersachers blieb Fetterman wehrlos. Am Morgen danach fragen sich Stimmen aus dem eigenen Lager, ob es nicht gescheiter gewesen wäre, der Debatte auszuweichen.