Vier Tage durch Pennsylvania getrödelt, der Nase nach, Witterung des midterm-Wahlkampfs aufgenommen. Im Oktoberlicht leuchteten die endlosen Laubwälder der Allegheny Mountains. Im Äther spien die Kandidaten Gift und Galle. In Braddock verschenkte Frau Fettermann Weggeworfenes und Abgetragenes.
Donnerstag, kurz nach 11 Uhr. Vor dem Free Store stehen die Frauen Schlange und warten auf Einlass. Die grauhaarige Phyllis, schlecht zu Fuss, steht am Gatter und lässt ein, sobald es Raum gibt. Hinter ihr die Laube mit Regalen voller Kleider, etwas Küchenzeug, Plastikbehältern voller Salat, innen auf engem Raum noch mehr Regale, Tablare mit Windeln, Kisten voller Schuhe. Auf dem Parkplatz nebenan fahren Autos vor und laden Ware ab: Alte Kleider, altes Küchenzeug, ein paar Möbel. Alles gratis. Auf der Tafel mit den Spielregeln steht:«Nimm nur, was Du brauchst».
Der Free Store, dreimal pro Woche zwei Stunden geöffnet, ist ein ausgemusterter blauer Container auf einem Parkplatz in Braddock/Pennsylvania. Und Braddock, Vorort von Pittsburgh am Monongahelafluss, ist seit der Schrumpfung der amerikanischen Stahlindustrie in den 1980er Jahren ein permanenter Sanierungsfall. Es gibt hier kein Restaurant, keine Tankstelle, keinen coffee shop. Der einzige Laden ist ein Dollar Store, in dem du süsse soda -Plörren, aber kein Fläschlein Trinkwasser kaufen kannst. Das Edgar-Thomson-Stahlwerk arbeitet noch, aber die Gebäude an der Braddock Avenue davor sind mehrheitlich Ruinen. Braddock ist arm. Deshalb ist der Free Store gratis. «Wir bedienen jede Stunde 100 Familien», sagt Gisele Barreto Fetterman, die Chefin des Ladens. «Seit 10 Jahren». Sie hat das Konzept erfunden. Mittlerweile ist es eine eingetragene Marke und an vierzehn weiteren Orten aktiv. Alle arbeiteten freiwillig, sagt Frau Fetterman. «Wir verdienen kein Geld».
Phyllis am Gatter hat sich hingesetzt, als ein kleiner Junge auf sie zurennt. My Boy! Der Bub schmiegt sich an. «Warum bist Du nicht in der Schule?». Der Bub flüstert ihr zu, er sei vor die Türe gestellt worden. Why did you say shut up to the other kid? That’s the teacher’s job. Von hinten ruft die Mutter:»Mir hat er gesagt, sie hätten Pause». Man lacht. Der kleine Fitzgerald rennt wieder davon. At least he was honest , ruft Phyllis in die Runde. At least he was honest. Sie ist mit dem kleinen Fitzgerald nicht verwandt. «Man lernt sich hier kennen», sagt sie. Der Free Store ist mehr als eine Suppenküche.
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Freitag, 17.30 Uhr steht Frau Fetterman im Frank J. Pasquerilla Conference Center in Johnstown und dreihundert Personen ihren Ehemann vor. John Fetterman war 13 Jahre Bürgermeister von Braddock, ist seit drei Jahren Vizegouverneur des Gliedstaats (was Frau Fettermann zur Second Lady of Pennsylvania macht, was sie zu SLOP abzukürzen pflegt) und Kandidat der Demokratischen Partei für den US-Senat. «Sprechen wir darüber”, sagt Fetterman. “Ich hatte einen Schlaganfall. Und sie hat mir das Leben gerettet». Aus dem Saal ruft eine Frau: «Sie ist es, die wir wirklich wollen».Aber Frau Fetterman kandidiert nicht. Der Kandidat ist Herr Fetterman.
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Im Mai, wenige Tage vor der Vorwahl, hatte Fetterman einen Schlaganfall, der nachwirkt. Er kann, wie eine Interviewerin öffentlich machte, nur mit Hilfe eines Computerprogramms alles verstehen, was ihm gesagt wird, und er hat gelegentlich Mühe, Worte zu finden. Sein Gegner, der TV-Arzt Dr. Mehmet Oz, dreht ihm daraus einen Strick. Seine Anhänger fragen, wie es um einen Volksvertreter bestellt sei, der nicht zu «kommunizieren» vermöge. Fetterman macht darüber einen Witz. Er höhnt über einen Propagandauftritt in einem Lebensmittelgeschäft, wo Oz sich vor laufender Kameras über die hohen Preise für «cruditës» aufhielt. Oz habe nicht einmal den Namen des Geschäfts richtig sagen können, sagt Fetterman «aber ich weiss, wo zum Teufel ich einkaufe». Und «crudités»? Ein gewöhnlicher Amerikaner nennt es Grünzeug – greens. «Ich wusste nicht einmal vor dem Schlaganfall, was das ist. Nascht Ihr crudités, wenn Ihr die Steelers schaut»? Der Griff zum football. In Philadelphia, wo die Eagles am Sonntag gegen den Erzfeind Dallas Cowbys antreten, hing die Fetterman-Kampagne grosse Strassenplakate: «Dr. Oz is a Cowboys fan».
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In Johnstown (Gründer: Josef Tschanz/«Johns» aus der alten Eidgenossenschaft), einst auch eine Stahlstadt, auch unten durch, zeigt John Fetterman keine Anzeichen kommunikativer Schwäche. Eine gute halbe Stunde spricht er frei und ohne zu stocken, immer und immer wieder auf seinen Gegner einhämmernd. «Was ist das für ein Arzt, der sich darauf freut, dass ein kranker Mann krank bleibt?».
Für einen wie John Fetterman ist Mehmet Oz ist der ideale Gegner. Fetterman, Sohn eines Versicherungsgewerblers aus York/Pennsylvania, fand über die Sozialarbeit im AmeriCorps zur Politik. Er liess sich in Braddock nieder, wurde dort Leiter der Jugendarbeit und Teilzeitbürgermeister und erregte durch unkonventionelle Initiativen nationales Aufsehen. Er lebt mit Frau und Familie auch nach der Wahl zum Vizegouverneur weiterhin im Ort. Das Engagement wurde durch finanzielle Zuwendungen seines Vaters unterstützt, und er war mit den Steuern im Rückstand, was ihm die Oz-Kampagne in der TV-Werbung unter die Nase reibt. Umgekehrt Dr. Oz (der Doktortitel ist Markenzeichen im Fernsehgeschäft und in der Politik): Geboren in Cleveland, Sohn eingewanderter Türken, Vater Arzt, türkisch-amerikanischer Doppelbürger (Oz diente in der türkischen Armee), Harvard-Absolvent, Herzchirurg, Professor, Dauergast bei der TV-Grösse Oprah Winfrey, seit 2009 eigene Dr. Oz Show über Medizinisches und Alternativmedizinisches, Impfskeptiker, Multimillionär. Oz ist Muslim (was im Wahlkampf kein Thema ist), und er wird von Donald Trump unt. Er wohnt im Nachbarstaat New Jersey und war bis 2020 politisch dort aktiv.. Dass er seinen Wohnsitz in Pennsylvania hat, entdeckte er erst mit der Senatskandidatur. Das ist sehr wohl Thema. John Fetterman führt die Kampagne gegen Oz sowohl als Klassenkampf wie auch als homeboy gegen den fremden Fötzel. «Ich lebe in einer Stahlgemeinde wie Johnstown», ruft er den Anhängern im Conference Center zu. «Da ziehe ich meine Familie auf. Glaubt Ihr, Dr. Oz würde so etwas tun? Ich habe Braddock gewählt, er wählte New Jersey». Fetterman verspricht Einsatz für das Recht auf Abtreibung, «medizinische Versorgung wie ich sie hatte» für alle, Kampf für höheren Mindestlohn («7.25 Dollar sind unamerikanisch»), Schutz der Gewerkschaftsrechte – union way of life: Leben aus gewerkschaftlich gesicherter Arbeit. Inflation? «Wir müssen die Gier der Konzerne bekämpfen. Wie kommt es, dass Ihr wegen der Inflation höhere Preise zahlen müsst, während die Konzernprofite auf Rekordhöhe stehen»? Kriminalität? Fetterman wird vorgeworfen, «weich gegen Verbrecher» zu sein (er wirbt für Dekriminalisierung von Marihuana und die Freilassung von ungefährlichen Sträflingen) hat er die eigene Erfahrung parat: «Was weiss Oz schon von der Kriminalität? Er benutzt die Kriminalität in Philadelphia für käsige Photo-Ops. Während meiner Amtszeit geschah in Braddock fünfeinhalb Jahre kein einziger Mord. Das hat es weder vorher noch nachher gegeben». Die Namen der Mordopfer, die es während seiner Amtszeit gegeben hat, liess Fetterman sich auf den rechten Arm tätowieren. Es sind neun. In Johnstown hat Fetterman ein Heimspiel. Gegen Oz zieht er auch die Karte Trump, der ja bekanntlich die Rebellen des Sturms auf das Capitol vom 6. Januar 2021 alle laufen lassen wolle. Hang’em, gellt eine Frau aus dem Publikum. Send’em to Russia, schreit ein anderer.
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Wahlkampf in den USA 2022. Midterms. Gewählt wird das ganze Repräsentantenhaus und ein Drittel des Senats. Die knappen Mehrheiten der Demokraten in beiden Häusern stehen auf der Kippe, wenn die Republikaner auch nur eine Mehrheit gewinnen, kann Präsident Biden weitere politische Vorhaben in den Kamin schreiben. Es wird blockiert werden.Normalerweise ist die Partei, die den Präsidenten stellt, im Nachteil. Besonders, wenn dieser unpopulär ist und die Wirtschaft schlecht läuft. So wie jetzt. Aber dieser Wahlkampf ist ein Kulturkampf. Es geht nicht um Programme oder «Politikentwürfe», wie die Deutschen sagen, sondern um den Krieg zwischen zwei Welten. «Wir» gegen «sie». Hyperpersonalisiert. Auf beiden Seiten ruhen die Hoffnungen weniger auf den «Inhalten» als auf Persönlichkeiten, welche die «Inhalte» im Parlament in Washington durchboxen sollen.
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Trügerische Hoffnungen nach der Wahl. Was als Heldin oder Held der Ungewöhnlichkeit gew;ahlt wird, fügt sich unter der Kuppel des Capitol gewöhnlich den vorgefundenen Gegebenheiten. Und trügerische Gewissheiten vor der Wahl: Der vermeintlich leicht besiegbare Idiot kann sich als schwieriger Gegner entpuppen. Letztes Beispiel ist der football-Spieler Herschel Walker, der als Kandidat der Republikaner bei der Senatswahl in Georgia antitt. Walker hat sich durch unglaublich dumme Aussagen lächerlich. aund als Abtreibungsgegner unglaubwürdig gemacht (eine Frau behauptet, er habe ihre Abtreibung finanziert und sie zu einer zweiten überreden wollen) gemacht. Aber in der TV-Debatte in dieser Woche zeigte er sich als schlagfertiger Sprücheklopfer, der seinen Gegner mehr als einmal ins Abseits laufen liess.
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Bis zur Wahl vergehen noch drei Wochen. Es ist noch längst nicht aller Tage Abend.