3 Nov 2022 Eine Mehrheit von Amerikanern sieht ihre Demokratie «in Gefahr», «bedroht» oder «vor dem Kollaps», aber sie sind sich nicht einig, warum das so ist. Die Republikaner dämonisieren die Demokraten, die Demokraten die Republikaner. Männiglich geht vor Gericht – den demokratischen Verfahren droht Lähmung.

 

Seit einigen Tagen können in den USA Wählerstimmen zu den midterm-Wahlen abgegeben werden, und bereits wird Zoff gemeldet. In Arizona hat die Organisation «Clean Elections USA» bei den öffentlichen Urnen (ballot boxes bei) bewaffnete Bürgerwehren postiert. Sie behauptet, sie müsse vermeiden, dass «Maulesel» der Demokraten ganze Packen ungültige Wahlzettel einwerfen würden, wie es bei der Präsidentschaftswahl vor zwei Jahren geschehen sei (Nachprüfungen fanden nichts). Natürlich wurde geklagt: Einschüchterung, Abschreckung, Beschneidung der Wahlfreiheit. Der Richter urteilte zunächst für die Pistoleros (Begründung: «freie Meinungsäusserung»), aber nachdem ein Kläger aussagte, wie er gefilmt und als «Maultier» online gestellt wurde, kehrte er sein Urteil Im Maricopa County ist das Filmen an der Urne nun untersagt, ebenfalls das offene Tragen der Feuerwaffe.

Der Fall ist eine Fortsetzung des Putschversuchs vom 6. Januar 2021, als Bewaffnete das US-Parlamentsgebäude stürmten, um die Übertragung der Macht vom unterlegenen Republikaner Donald Trump auf den Demokraten Biden mit Gewalt zu verhindern. Das Zentralkomitee der republikanischen Partei qualifizierte dies damals als «legitimen politischen Diskurs». Heute noch denken zwei Drittel der republikanischen Wählerschaft, dass Biden durch Betrug an der Macht ist – ein Glaube, der von Trump und seinen Anhängern intensiv propagiert wird. Organisationen wie «Clean Elections» betreiben Wahlbeobachtung in aggressivem Stil und suchen gezielt nach Fehlern im Wahlverfahren, die zum Gegensand von Gerichtsklagen gemacht werden können.

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Beide Seiten – Demokraten und Republikaner – haben im ganzen Land zehntausende von «Wahlbeobachtern» aufgeboten, die den Stimmenzählern über die Schulter schauen, um «Wahlintegrität» oder «Wählerschutz» zu garantieren. Vor allem rechts geht es weniger um die Überprüfung technischer Abläufe als um die Überführung von vorausgesetzten Unregelmässigkeiten. Die radikaleren Trumpisten organisieren sich, um die midterms auf breiter Front in Frage zu stellen. In den Vorwahlen der vergangenen Monate wurde über «Aktivisten» berichtet, die aufwendige Nachzählungen oder Suchen nach behaupteten Fehlern provozierten. Die New York Times schrieb vor kurzem, es sei ein «ausgedehntes Netzwerk von Organisatoren» am Werk, die bei Wahlhelfern und -beobachtern nach Anhaltspunkten für die Anfechtung von Wahlergebnissen fahnden. Als zentrale Figur gilt – oder stellt sich zumindest so dar – der ehemalige Trump-Berater Steve Bannon, der diese Anstrengungen aktiv unterstützt. “Wir sind jetzt viel besser vorbereitet”, erklärte er in seinem Podcast. «Wir werden mit jeder einzelnen Schlacht vor Gericht ziehen».

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Die Anfechtung knapper Wahlergebnisse hat in den USA Tradition und ist nicht auf eine Seite beschränkt. Ein Präzedenzfall ist die Präsidentschaftswahl im Jahr 2000, als das Ergebnis vom Entscheid in Florida abhing. Es ging um wenige hundert Stimmen, es gab Klage und Gegenklage, bis das Oberste Gericht nach 36 Tagen eine laufende Nachzählung stoppte. Der unterlegene Demokrat Albert Gore hätte weitere rechtliche Optionen verfolgen können und laut späteren  Recherchen möglicherweise gewonnen, aber er verzichtete im Interesse des Landes darauf und gestand seine Niederlage ein. «Was immer an parteilicher Feindschaft bleibt, muss nun beiseite gelegt werden», sagte er in seinem concession speech. Eine Handvoll demokratischer Kongressabgeordneter folgte ihm nicht und verweigerte im  Januar 2000 die Bestätigung (certification) des Resultats, ebenso vier Jahre danach. Die  Zahl gerichtlicher Anfechtungen von Wahlergebnissen schnellte empor.

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Neu an der heutigen Situation ist, dass der Verlierer Trump – anders als Gore – nicht nachgibt und das Ergebnis weiterhin auf allen Ebenen bekämpft. Neu ist auch, dass seine Partei diesen Kurs voll unterstützt. Bereits jetzt signalisieren republikanische KandidatInnen, dass sie eine knappe Niederlage nicht akzeptieren werden. Aber das ist nicht alles. Noch bevor überhaupt gewählt wird,  liegen Dutzende von Klagen gegen die gesetzlichen Wahlregeln vor den Gerichten der Gliedstaaten. Juristen der University of Madison haben vor einigen Tagen «eine bedeutende Zunahme» solcher Fälle registriert , die «jede Stufe im Wahlprozess» betreffen. Und kleinste Details: ob ein nur teilweise ausgefülltes Datum den Wahlzettel ungültig macht oder ob ein Wahlhelfer den Wähler auf einen solchen Fehler aufmerksam machen darf, etc.. Die Juristen Miriam Seifter und Adam Sopko sehen eine Infragestellung der «Wahlmechanik» und ein Risiko. «Wenn jeder Aspekt einer Wahl zur Gerichtsklage wird», werden Wahlen «destabilisiert».

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Und noch mehr: Organisatoren wie Steve Bannon werben für einen rechtsextremen Marsch durch die Institutionen. Sie verfechten eine «Bezirksstrategie» (precinct strategy), die auf der untersten Staatsebene ansetzt. Loyale Trumpisten sollen sich für lokale Ämter zur Verfügung stellen und die Republikanische Partei sozusagen von unten her in den Griff nehmen – «Dorf um Dorf, Bezirk um Bezirk». Erklärtes Ziel ist die Besetzung der Wahlbehörden mit eigenen Anhängern. . In der Sprache des Sports gesagt: Man will nicht nur den Schiedsrichterentscheid umstossen, sondern den eigenen Schiedsrichter bestimmen.

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Ein guter Teil der amerikanischen Nöte ist im Wahlsystem selbst angelegt. Im Vergleich beispielsweise zur Schweiz ist es kompliziert und anfällig für Betrügerei. Wer abstimmen darf und wer nicht, ist in der Schweiz ziemlich klar: der Bürger meldet sich-(Pflicht) bei der «Einwohnerkontrolle» der Gemeinde an, erhältt automatisch «Stimmausweis» und «Stimmmaterial» und stimmt ab, meist per Brief. In den USA gibt es keine Einwohnerkontrolle und keine Anmeldung. Wer wählen will. muss sich sich «registrieren» (mit Angabe von Parteizugehörigkeit und die «Rasse»), und er muss sich ausweisen, wenn er abstimmt, je nach Gliedstaat verschieden. Pennsylvania zum Beispiel akzeptiert einen Personalausweis mit Bild (Pass, Fahrausweis, Bahnabo, amtlicher Ausweis, Angestelltenausweis, Studentenkarte) oder die Vorlage eines Dokuments mit Namen und Adresse (Waffenschein, Stromrechnung, Bankauszug, Lohnausweis, Check aus der Staatskasse) Dass der Stimmende auch ein US-Bürger ist, wird bei der Registrierung lediglich mit Unterschrift unter Strafandrohung bezeugt. Ein harter Beweis der Staatsbürgerschaft ist – soweit aus den Formularen ersichtlich – nicht Pflicht.

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In dieser Spannweite werden die Wahlgesetze in den Gliedstaaten häufig abgeändert. Die republikanische Rechte argumentiert, angesichts der mannigfaltigen Zugangswege zum Wahlrecht, vom Pass bis zur Stromrechnung, sei es nicht unvernünftig, den Bestimmungen mehr Konturen zu geben. Die Linke sieht in solchen Bestrebungen eine Beschneidung der Volksrechte. Tatsächlich ist die politische Absicht oft unverkennbar. So wurde manchenorts die Zahl der Einwurfstellen für die Briefwahl beschränkt oder die Frist für die Briefwahl verkürzt. Den Vogel schoss Georgia ab. Dort ist es neu verboten, wartenden Wählern innerhalb von 50 Metern Entfernung Wasser zu verabreichen- eine Schikane . Das Brennan Center for Justice, beobachtet einen Trend nach «grösserer parteipolitischer Einmischung und mehr Erschwernis zu wählen».

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Das Unbehagen ist weit verbreitet. Eine Umfrage der «New York Times» Mitte Oktober ergab, dass über ein Viertel (28 Prozent) aller Wähler kein Vertrauen in die Ergebnisse der midterms vom kommenden Dienstag haben. Über zwei Drittel (71 Prozent) sahen die «Demokratie zurzeit bedroht». Dies vor allem, weil keine Seite der anderen über den Weg traut. Die republikanischen Befragten sahen die Demokraten als Landesbedrohung, die demokratischen die Republikaner – und 59 Prozent orteten die Gefahr bei den Medien.

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Solche Zahlen signalisieren politische Gebrechlichkeit. Demokratien leben vom Vertrauen in die Verfahren und von der Unantastbarkeit der schiedsrichterlichen Instanzen. Sie bestehen, weil citoyens sich mit kleinen Unwägbarkeiten abfinden. In den USA sind solche Dinge zum Gegenstand von Rechthabertum und Prozesshanselei geworden. Nur so zum Vergleich: In der Schweiz wurde vor zehn Jahren das Bundesgesetz über die politischen Rechte 2013 revidiert. Es ging unter anderem um die Einführung einer automatischen Nachzählung bei «sehr knappen» Ergebnissen. Die Regierung lehnte ab. Die Bundeskanzlerin Corina Casanova sagte damals im Nationalrat: «Wenn Sie noch einmal zählen, werden Sie noch einmal neue Resultate bekommen. Es sind oft ja nicht Fehler beim Zählen, sondern in der Bewertung gemacht worden. Hinzu kommt z. B. auch, dass vielleicht nicht klar «Nein» oder «Non» geschrieben wird oder nicht klar ist, ob «Ne» auch noch ein «Nein» ist. Solche Fragen sind Bewertungsfragen, die auch jedes Mal wieder neu gesehen werden können.». Das Parlament lehnte ab. Wer eine Nachzählung verlangt, muss begründen, warum ein knappes Ergebnis auch ein «unrechtmässiges» ist.