Lieber M.
Du hast recht. Ich habe in meinem Neujahrsgruss nur aufgezählt, was man bei der Kursbestimmung zum Ukrainekrieg vermeiden soll ( «grüne Falken», «braune Tauben», «rote Wiesel» und die «Straussenvögel in Bern»), aber nicht gesagt, was denn zu tun wäre. Der Einwand ist triftig, obwohl er oft auch dazu benutzt wird, unangenehme Argumente abzuwiegeln: Wenn einer kritisiert, es werde zu viel Fleisch konsumiert, wird ihm «du isst es ja auch» entgegengehalten. Wenn einer das Elend der Mittelmeerflüchtlinge beklagt, wird er gefragt, ob er denn selber einen von denen aufgenommen habe. Wenn einer den russischen Angriff auf die Ukraine verurteilt, werden ihm – Spezialität der roten Wiesel – die amerikanischen Aggressionen in Lateinamerika oder dem Nahen Osten unter die Nase gerieben. Kurzum: Die Argumentation in Deinem Einwand kann auch dazu benutzt werden, «und was ist denn mit XXX» zu fragen oder dem Gegenüber zu bescheiden, er möge vor der eigenen Türe wischen.
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Was heisst das in Bezug auf den Krieg? «Was zu tun ist» richtet sich an zwei Adressen –die allgemeinere, auf das politische Gemeinwesen, also die Eidgenossenschaft, und die individuelle, auf mich selbst bezogene.
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Beginnen wir mit der allgemeinen Adresse. Also Bern, oder «Bundesbern», wie es in der Schweiz heisst. Ein Bürger darf von seiner Regierung Haltung erwarten, wenn die UNO-Charta auf dem eigenen Kontinent verletzt und der Kontinent in seiner Ordnung und seinen Grundwerten in Frage gestellt werden. Ich gehe davon aus, dass wir in dieser Beurteilung übereinstimmen (sie wird – «braune Tauben» , «rote Wiesel» – nicht überall geteilt). Von dieser Warte aus, würde ich mir von unserer Regierung nicht nur eine Anpassung der Neutralitätsdoktrin oder eine klare – klarere – Linie bei ökonomischen Zwangsmassnahmen wünschen, sondern zuallererst Eindeutigkeit bei der Zugehörigkeit zur europäischen Identität. Also eine Art Bekenntnis dazu, dass die Schweiz Europa nicht nur als geographisches oder wirtschaftliches, sondern auch als politisches Gebilde versteht, dem sie sich zugehörig fühlt. Das fehlt. Die offizielle Schweiz, mit «Pressemitteilungen» zu vielen Missständen in aller Welt ziemlich rasch zur Hand, hat zu den wichtigen Entwicklungen auf dem eigenen Kontinent meist geschwiegen. Ein Beispiel ist die Osterweiterung der Europäischen Union, mit Sicherheit ein historisches Schlüsselereignis. Dazu gab es kein Kommünikee aus Bern. (Ein paar Tage später wurde im April 2004 angekündigt, die Bundesrätin Calmy-Rey und der deutsche Aussenminister würden anlässlich einer Preisverleihung in Rüschlikon « wiederum Europafragen und die Entwicklung der bilateralen Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland besprechen». Courant normal. Über die Reaktion auf den russischen Überfall vom 24. Februar 2022 und das seitherige Verhalten wissen wir Bescheid.
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Mein Wunschbundespräsident würde im Namen meines Wunschbundesrats etwa folgende kleine TV-Ansprache an uns Bürger richten: «Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Einwohnerinnen und Einwohner der Schweiz ohne Bürgerrecht! Wir sind seit geraumer Zeit Zeugen einer kriegerischen Aggression auf unserem Kontinent. Sie ist durch nichts zu rechtfertigen. Täter und Opfer sind klar erkennbar, Russland hat die Ukraine überfallen. Das ist ein Bruch mit der Charta der Vereinten Nationen, die den Prinzipien unserer Bundesverfassung entspricht. Der militärische Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf die Unverletzlichkeit der Grenzen und das Selbstbestimmungsrecht der Völker in Europa und damit auf die politische Ordnung und die Werte auf unserem Kontinent. Als Ganzes attackiert, muss Europa sich als Ganzes wehren. Der Bundesrat stellt fest, dass die Schweiz sich als Teil der bedrohten europäischen Gemeinschaft versteht. Sie wird sich aktiv an allen Anstrengungen zur Stärkung einer gemeinsamen europäischen Verteidigungsfähigkeit beteiligen. Die Genfer Zentren können dabei eine wichtige Rolle übernehmen. Die Schweiz wird ihre Neutralität modifizieren, wo es um die gemeinsame europäische Verteidigung und Selbstbehauptung geht. Der Bundesrat wird vorschlagen, die Gesetzgebung zur Waffenausfuhr entsprechend anzupassen. Er wird sich an Massnahmen zur Stärkung einer gemeinsamen europäischen Rüstungsindustrie beteiligen und als ersten Schritt auf den Kauf US-amerikanischer Kampfflugzeuge zurückkommen. Europa mag politisch ein unfertiges, für viele von uns wenig verständliches Gebilde sein. Aber die Bedrohung betrifft uns alle. Europa ist für die Schweiz seit dem 24. Februar 2022 nicht mehr Ausland.»
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Wie Du siehst, verleitet das neue Jahr mich nicht nur zu guten Wünschen, sondern auch zu frommen.
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Was mich selbst – die zweite Adresse – betrifft, so gebe ich ein Versagen zu. Ich muss mir diese Frage gefallen lassen: Wenn du den russischen Angriff auf die Ukraine als Angriff auf die europäische politische Ordnung, auf das demokratische Selbstbestimmungsrecht und auf die Prinzipien der UNO-Charta betrachtest – warum hilfst Du dann nicht im Kampf dagegen? Ich glaube, diesseits vom Pazifismus (und ich bin kein Pazifist) ist das eine berechtigte Frage. Ich könnte jetzt antworten, ich sei alt, oder ich könne im Moment schlecht weg, oder es sei doch auch eine Art Mitkämpfen, wenn man eindeutig Position beziehe. Das sind Ausflüchte. Wem es ernst ist mit der Bedrohtheit, der muss etwas tun. Wie weiland die Spanienkämpfer. Nun weiss ich nicht um meine Eignung fürs Kämpfen. Im Militär konnte ich die Herumkommandiererei und die stupiden Regeln nicht verputzen (ich kam wegen Nichtaufsetzens der Mütze mehrfach in den Arrest). Zudem war ich beim Regimentsspiel. Das mag seine dissuasive Wirkung haben, aber ich bezweifle, dass der «General Guisan Marsch» den Russen von seinem Tun abzuhalten vermöchte.
Best
J