Die Schweiz tritt im UNO-Sicherheitsrat an wie die Eishockey-Nationalmannschaft: Perfekt vorbereitet, das Zusammenspiel geölt, die Spielzüge blind verstanden. Und wenn es darauf ankommt, ohne Schuss aufs Tor. Das liegt nicht an den diplomatischen Spielern, sondern an der politischen Verbandsführung in Bern. Sie weiss nicht, was sie will – sicher nicht im Wahljahr. Die Schweiz hat in New York viel zu bieten, aber wenig zu sagen.
Auf dem Kaffeetisch kleine Holzkühe mit dem QR-Code für die Webseite «a plus for peace» auf den Bäuchen. An der Wand zwei Kuckucksuhren in Ordonnanzrot, daneben ein Schriftzug what came first: the Swiss watch or puncuality? Wandfüllend hinter dem Pult der Grosse Aletschgletscher, gegenüber ein Zürcher Flussschwimmbad. Schokolade liegt auch da. Im Mai gehört das Präsidentenzimmer hinter dem UNO-Sicherheitsratssaal der Schweiz, und die Landespropaganda hat alles gegeben, um den Raum einzuschweizern. Présence Suisse. Hier empfängt Botschafterin Pascale Baeriswyl die UNO-Presse zum monatlichen Austausch, off the record. Die Berichterstatter dürfen nicht schreiben, was ihnen gesagt wird. Einige Tage später gibt es ein kurzes Interview. A la Suisse, die Fragen mussten vorgängig eingereicht werden. Der Tessiner Radiokollege möchte «spontane Antworten», aber Baeriswyl zückt ein Blatt und beginnt abzulesen. Der Mann hat keine Chance, eine Frage zu stellen. Er kriegt Ton, aber kein Gespräch. Wie alles andere, überlässt die Schweiz auch in der Kommunikation rund um ihr Sicherheitsmandat nichts dem Zufall. Baeriswyl sagt, der Rat laufe gut.
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Times Square, Freitag, 26.Mai. In einem abgesperrten Geviert spricht Bundesrätin Viola Amherd Dank und Salut an die UNO-Friedenstruppen («Blauhelme») zum 75-Jahr-Jubiläum aus. Vor ihr eine Polizistin aus Sierra Leone, nach ihr eine Offizierin aus Ghana. Es werden überlebensgrosse Porträts auf das Pflaster geklebt. Warum gerade Frau Amherd? Die Schweiz ist das einzige Land, das die Bereitstellung eines «Blauhelm»-Kontingents in einer Volksabstimmung abgelehnt hat, und sie tut sich bei den militärischen UNO-Aktionen nicht gerade hervor. Die Präsenz am UNO-Werbeauftritt hat mit dem Schweizer Divisionär Patrick Gauchat zu tun, der als Major General das UNTSO-Kontingent kommandiert – die Blauhelmtruppe im Nahen Osten, die vor 75 Jahren den ersten UNO-Einsatz leistete. Auch Bundespräsident Alain Berset kam nach New York. Er präsidierte die jährliche Sicherheitsratsdebatte über den «Schutz der Zivilbevölkerung», der die Schweiz das Schwerpunktthema «Hunger» gesetzt hatte. Berset wurde vom UNO-Generalsekretär empfangen, der seinen Bericht im Rat persönlich vorstellte. Und Aussenminister Cassis weilte in der Stadt, gleich zweimal. Am Anfang des Präsidialmonats leitete er eine grosse Sicherheitsratssitzung über «Friedensförderung» (Thema: «Vertrauen») und eine über «Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa», und am Ende die Beratungen über gefährliche Lage des ukrainischen Atomkraftwerks in Saporischia. Das Mandat im UNO-Sicherheitsrat verleiht der Schweiz «Visibilität» – will heissen Sichtbarkeit, Aufmerksamkeit, Zugang, Gewicht. Unter Diplomaten ist dies harte Währung und für die Landespropaganda Gold. Je höher der Rang der Schweizer Vertreter, desto wertvoller. Deshalb kamen die Regierungsmitglieder in New York.
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Vor Ort ist von der eidgenössischen Visibilität nicht viel zu bemerken. Im Mai finden an der UNO keine Massenzusammenkünfte statt. Die Gänge sind weitgehend leer, in den fensterlosen Sitzungsräumen geht diplomatisches Fussvolk den Geschäften nach. Die Schautafeln vor dem Vienna Café werben für die Kandidaturen der nächsten UNO-Wahlen im Juni. Ein Hauch Schweiz ist hinter dem Postbüro zu registrieren.Dort erinnert eine kleine Schautafel an «Sport für Frieden und Entwicklung», ehedem der Beritt von Adolf Ogi. Am Diplomateneingang zeigt die Schweiz eine IKRK-Ausstellung über die Effekte der Digitalisierung in Krisensituationen, aber da kommt der Berichterstatter nicht hin. Am stakeout vor dem Eingang zum Sicherheitsratssaal, wo Mikrophon und Kamera für Verlautbarungen an die Presse stehen, kann er durch eine Glasscheiber beobachten, wie das diplomatische Personal hinter der Wand hervor- und wieder dahinter huscht; Die Schweizer sind an roten Halsbändern erkennbar.
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Die «Visibilität» ist eines. Aber wie sagte Helmut Kohl? «Wichtig ist, was hinten rauskommt». Zu beurteilen ist die Wirkung der Schweizer Beiträge auf das Geschehen in New York. Das lässt sich durch zwei Linsen betrachten. In der einen erscheint die Schweiz als Gemeindeschreiber, der den Laden in Schwung halten muss. In der anderen als Mannschaft, die Tore schiessen soll.
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Wie unterschiedlich diese Rollen interpretiert werden können, haben die Bundesräte Berset und Cassis vor der Schweizer Presse offenbart. Berset äusserte sich weit über sein Redethema «Hunger» hinaus, zog die Zahlen wie spielerisch aus dem Ärmel, signalisierte Afrika-Erfahrung, unterstrich den Zusammenhang zur Weltgesundheits- und Welt-Wetterorganisation (totalement sousestimés). Er sprach wie einer, der sich für das internationale Parkett empfiehlt. Ignazio Cassis betonte die Schwere der Aufgabe: Mehrere Sitzungen pro Tage, Koordinationsbedarf in Bern, Zeitdruck, jetzt noch das Ratspräsidium. «Ziemlich sportlich» sei das, aber dank der «gut geölten Zusammenarbeit» auch zu meistern. Die Schweiz gehe das Mandat mit «Bescheidenheit und Verantwortungsbewusstsein» an, «wie es für unser Land charakteristisch ist». Das ist nicht nur Eigenlob. Die Schweiz erhält Glanznoten. . «Wenn ich die Schweizer anrufe, erhalte ich immer eine Antwort, obwohl wir nicht im Rat sind», sagt ein Botschafter. Dafür ist auch vorgesorgt. Der Personalbestand der Mission New York wurde auf rund das Doppelte aufgestockt (allein das Militärdepartement erhöhte von einem auf drei Personen). Kleinere, vor allem ärmere Länder vermögen das nicht, was sich in unbeantworteten E-Mails, gestrandeten Telefonanrufen und entsprechender Gereiztheit der Mitgliedsstaaten niederschlägt.
Die Gemeindeschreiber
Donnerstagmorgen, 18. Mai, 0815 Uhr. Der Auffahrtstag ist kein Feiertag. Zwei interessierte Berichterstatter dürfen vor UNO-Sitzungsbeginn in der Schweizer Mission hineinschauen. Auf dem Korridor vor dem Botschafterinnenbüro trifft sich die zuständige Mannschaft zur Morgenbesprechung: Baeriswyl, ihr Stellvertreter, die die «politische Koordinatorin» (Ansprechperson für die anderen Sicherheitsratsmitglieder), die Dossierverantwortlichen. Alles jüngere Leute, mehrheitlich Frauen, ein etwas angejahrter Militärattaché ist die Ausnahme. Es geht um Irak, zuerst in öffentlicher Sitzung, dann hinter geschlossenen Türen. Die Referentin referiert. Die Botschafterin fragt. Sind die briefer (aussenstehende Experten) in der geschlossenen Sitzung dabei? Die USA wollen im kleinen Kreis reden. «Dann muss ich sie verabschieden». Details zählen.
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Der Sicherheitsrat trägt laut UNO-Charta «die Hauptverantwortung für die Wahrung des Weltfriedens und der internationalen Sicherheit». Deshalb macht er nie Pause. Das meiste der Geschäfte folgt jedoch einer immer gleichen Routine: Entscheid – Auftrag an die UNO-Verwaltung zur Berichterstattung – Bericht und Debatte – Entscheid… In den Debatten können neben der UNO-Verwaltung aussenstehende briefers auftreten. Danach geben die Mitgliedsstaaten Erklärungen (statements) ab. Wie ein Schweizer Entscheid oder statement zustandekommt, erklären der Chef der Presseabteilung und ein Attaché. Das EDA hat dazu bereits vor Jahren ein kommodes Werkzeug entwickelt: CH@World, eine elektronische Austauschplattform für alle. Jedes Geschäft erhält dort seinen eigenen Platz, auf dem die interne Diskussion um die Schweizer Positionierung geführt wird. Alle Angehörigen der Bundesverwaltung aus jedem Departement können sich «abonnieren» und je nach Stufe mitlesen oder sich einbringen. Am Ende entscheidet die UNO-Abteilung des EDA, was gesagt und wie abgestimmt wird. Heiklere Fälle gehen weiter nach oben, bis hinauf zum Bundesrat – aber das sei bisher nicht nötig gewesen, heisst es. Der fertige Redetext – Französisch, Landessprache – wird auf CH@World als instruction aufgeschaltet und so verlesen. Mehrfach wird betont, dass die Botschafterin – sie ist eine ehrgeizige Sozialdemokratin und wird von der Schweizer Rechten entsprechend scheel beäugt – nicht sagen darf, was sie will: Pas de place pour l’improvisation. Pascale Baeriswyl liest genauso ab wie sie dem Tessiner Kollegen das Blatt Papier vorgelesen hat. Mit der Ausnahme, dass reagiert werden kann, wenn die Schweiz im Rat direkt angegriffen wird. Für solche Fälle halte man «Sprachregelungen» bereit, sagt der Pressechef. So sei es im Februar gewesen, als der Russe Nebenzia die in Bern erwogenen Waffenexporte an die Ukraine mit den Rüstungslieferungen an das Dritte Reich verglich und die Neutralität verspottete («welch eine pragmatische Neutralität!»). Da sei die «Sprachregelung» zur Anwendung gekommen. Pascale Baeriswyl sagte: «Die Neutralität der Schweiz steht ausser Zweifel, allerdings gibt es keine Neutralität im Fall einer Verletzung des Völkerrechts oder der UNO-Charta». Es ist bislang das einzige Mal, dass die Schweiz das Wort «Neutralität» in den Mund nahm – ganz im Gegensatz zur IKRK-Präsidentin Mirjana Spoljaric. Sie forderte in der von Alain Berset präsidierten Sicherheitsratssitzung Respektierung des «neutralen humanitären Zugangs» zu Kriegszonen und wehrte sich wenige später in der New York Times gegen die Geringschätzung des Neutralitätskonzepts: «Die Welt braucht Neutrale».
Die Mannschaft …
Durch die andere Linse, als Mannschaft, betrachtet, ähnelt die Schweiz ein wenig der Hockey-Nationalmannschaft. Perfekt vorbereitet, gut eingespielt, aber in den ganz grossen Spielen mit Mühe vor dem Tor. Der Vergleich stimmt, weil der Sicherheitsrat in den grossen, dringlichen Fragen – Ukraine, Sudan, Haiti, Israel-Palästina, Myanmar – gelähmt ist, also sozusagen keine Tore zustande bringt. Aber er stimmt nur, wenn man von der Schweiz dasselbe erwartet wie von der Nati. Was unfair ist. «Für ein gewähltes Ratsmitglied ist es sehr schwierig, bei den politischen Kernthemen etwas zu bewegen», sagt ein Sicherheitsratsbeobachter in New York. Der Prüfstein steht im Juli an. Da geht es um den «humanitären Zugang» nach Nord-Syrien, konkret um die Verlängerung der vom Sicherheitsrat angeordneten Öffnung des türkisch-syrischen Grenzübergangs Bab al-Hawa. Zusammen mit Brasilien ist die Schweiz federführender penholder im Dossier. Sie leiten die Verhandlungen und müssen sich um einen mehrheitsfähigen Text bemühen. Ob die Syrer, im Rat vertreten durch die Russen, mitmachen, ist offen. «Da wird man genau hinschauen», sagt Richard Gowan, UNO-Direktor bei der Beratungs- und Analyseorganisation International Crisis Group.
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Zu erwarten, dass die Schweiz in New York den grossen Wurf hinlegt, ist vermessen. Für die Brückenbauer-Rolle, die gern als eidgenössische atout gepriesen wird, gebe es in der jetzigen politischen Wetterlage keinen Bedarf, sagt ein EU-Diplomat. «There is no market». Zwar hat die Schweiz als neutrales, nicht zur EU gehöriges Land etwas mehr Spielraum als die EU-Mitglieder, die sich gegenüber Russland einen Maulkorb verordnet haben. Ohne formelle Tagesordnung reden sie nicht mit den Russen. «Wenn ich an einem Empfang mit einem russischen Kollegen spreche, kommt ein baltischer Kollege und fragt, was da los war», sagt ein Diplomat eines EU-Landes. Die Schweiz tut das nicht. Aber sie betreibt eine Art autonomen Nachvollzug. “Wir unterscheiden zwischen Personen und Inhalten», sagt Botschafterin Baeriswyl. «Wenn es um Positionen geht, sind wir sehr klar, im Umgang mit Personen sind wir höflich. Bei sozialen Kontakten sind wir sehr zurückhaltend”.
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Unterhalb der ganz hohen Latte kann die Schweiz jedoch eine Menge tun. Als Ratspräsidentin konnte sie Akzente setzen, indem sie Themen vorgab («Hunger», «Vertrauen») und Experten ( briefers) aus der Zivilgesellschaft auslas. Zum Beispiel Tania Hary, Direktorin des Gisa Legal Centre for Freedom of Movement in Israel, die dem Rat die Kontrollschikanen und Blockaden beschrieb, welchen die palästinensische Bevölkerung ausgesetzt ist. So etwas tun nicht alle. Vor allem ist die Schweiz im Rat Mannschaftsspielerin. Sie bohrt an den dicken Brettern weiter, an denen andere, gleichgesinnte Ratsmitglieder vor ihr gearbeitet haben. Ein Beispiel ist der Klimaschutz. Dass Dürren oder Wüstenbildungen zu Konflikten führen können, liegt auf der Hand, aber seit Jahren drängen namentlich die westeuropäischen Mitglieder vergeblich darauf, dass der Rat den Zusammenhang zur «internationalen Sicherheit» anerkennt. Ende 2021 scheiterte eine Resolution am Veto Russlands, nun wird weiter gebohrt. Die Schweiz ist Ko-Vorsitzende der «Expertengruppe Klima und Sicherheit» und versucht, den Aspekt des Klimawandels in die Mandate der UNO-Missionen hineinzuschreiben. Einige von ihnen haben bereits climate advisers angestellt. Im UNO-Geschäft komme es «nicht darauf an, was du tust, sondern in welchen Rahmen du es stellst», erklärt die Vertreterin einer der zahllosen Lobby-Gruppen rund um das UNO-Hauptquartier. «Du musst schrittweise vorgehen, du beginnst mit dem, was keine Verpflichtungen nach sich zieht». Wer «wie ein Traktor» vorgehe, sei zum Scheitern verdammt.
… und die Verbandsoberen
Einmal hat die Schweiz es unternommen, in einem grösseren Bereich voranzugehen. In der ersten grossen Debatte des Präsidialmonats gab sie das Thema «Zukunftssicherung von Vertrauen» vor. Das war wahrscheinlich als eine Art politischer Elektroschock gegen die drohende Blockbildung in der Welt gedacht und gut gemeint. Schliesslich standen «vertrauensbildende Massnahmen» am Anfang vom Ende des Kalten Kriegs. Vor der Presse erläuterte Bundesrat Cassis, wie er dies im Hier und Heute verstehe. Beim Vertrauen zwischen Staaten komme es auf «dieselben menschlichen Elemente» an wie zwischen Nachbarn oder in Familien. Unter anderem «bereit sein, einen Schritt zurückzumachen, um Konflikte zu vermeiden und Kompromisse zu ermöglichen». Auf die Ukraine übertragen, ist das eine ziemlich prägnante Position. Vor dem Rat erklärte Ignazio Cassis, eine «neue Sicherheitsarchitektur» müsse her. Aber dann kam nichts mehr. Wie bei der Hockey-Nati flog kein Puck ins Tor. Der Redner beliess es bei Banalitäten : Là où il y a la confiance, tout est possible.
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Warum, war nur zu verständlich. Um glaubwürdig zu bleiben, hätte Aussenminister Cassis ein bisschen erklären müssen, wie die Schweiz sich die Kräftigung des bröckelnden globalen Vertrauens vorstellt, was «Neutralität» dabei bedeuten solle, wie das angegriffene Europa seine Verteidigung organisieren könnte oder wo die Schweiz sich im Dispositiv einordnet. Das konnte er nicht, weil ihn jede :Äusserung, egal in welche Richtung, in Bern in die Nesseln gesetzt hätte. Und das im Wahljahr. Aussenpolitik ist Innenpolitik.
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Das hat mit «Neutralität» nichts und mit Unentschlossenheit alles zu tun. Und die liegt nicht bei der ausfuhrenden Diplomatie, sondern bei den politischen Taktgebern in Bern – bei den «Verbandsoberen», wie es im Jargon der Sportberichterstatter heisst. Wenn es um die gröberen Fragen der Zeit geht, steht man sich selber im Wege. Die Schweiz hat in New York viel zu bieten, aber wenig zu sagen.