Mehr diplomatisches Schaufenster geht  nicht: Die Schweiz präsidiert in diesem Monat Mai den UNO-Sicherheitsrat, und gleich zu Beginn standen zwei grosse Nummern auf der Agenda. Beide  Male ging es um  das «wie weiter»: -wie weiter in dem vom Ukraine-Krieg gebeutelten Europa? Und wie weiter mit der immer von neuem machtlosen UNO und der abgewetzen internationalen Zusammenarbeit – dem «Multilateralismus» – überhaupt? Im einen Fall debattierte der Rat sein Verhältnis zur «Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa» (OSZE), die einst mit Russland und den Nordamerikanern als gemeinsames Spielfeld «von Vancouver nach Wladiwostok» gegründet wurde und in der Ukraine  versagt hat. Im anderen stellte die Schweiz eine Debatte über «Friedenserhaltung».unter den Titel «Vertrauen zukunftsfähig machen» und schuf damit eine Plattform zur Diskussion um Erosion alles Multilateralen. Das war gut justiert, weil dort angesetzt wurde, wo einst mit der Bewältigung des Kalten Kriegs begonnen worden war. Die «vertrauensbildenden Massnahmen» waren in den siebziger und achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts ein Kernelement der «Entspannung» zwischen Ost und West.

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Für beide Sitzungen hatte die Schweiz den Aussenminister nach New York geschickt. Als erster Bundesrat durfte Herr Cassis zur Eröffnung den Sitzungshammer (gavel) niederschlagen und das Wort erteilen, auf dass erörtert werde, was zu tun sei, um bröckelndes globale Vertrauen zu kräftigen und  wie Frieden zu fördern wäre. Da gehen die Meinungen extrem auseinander. Zahlreiche unter den über 60 Teilnehmern servierten Allgemeinplätze oder Aufgewärmtes aus den Konflikten in ihrer Nachbarschaft. China empfahl Rücksicht auf die unterschiedlichen «Entwicklungspfade» der einzelnen Länder und Verzicht auf «unterschiedslose Anwendung einseitiger Zwangsmassnahmen». Der Russe goss eine massive Dosis Essig in das ganze Gericht: «Wir leben in einer Welt, wo die Wahrheit wertlos ist». Damit erübrige es sich, über Vertrauen zu reden. Der UNO-Menschenrechtskommissar erklärte: «die volle Einhaltung der Menschenrechte ist das beste Gegengift gegen Ungleichheit, Ausgrenzung und Zurücksetzung, die oft an der Wurzel von Unstabilität und Konflikt liegen». Einige Staaten, vor allem die westlichen, forderten Nachdruck beim Einbezug von Frauen in Friedenslösungen oder eine Stärkung der Peacebuilding Commission (UNO-Kommission für Friedensförderung – Schweiz im Vorsitz der «Burundi-Konfiguration»).Manche unterstrichen die Bedeutung von Rechtsstaatlichkeit und Verantwortlichkeit (accountability) .Der Vertreter Liechtensteins erklärte, ein Hauptfaktor für die russische Invasion der Ukraine 2022 sei, dass die Verantwortlichen für die Abtrennung und Annexion der Krim 2014 nicht zur Rechenschaft gezogen wurden,

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Und was sagte die Schweiz in diesem Gerede? Ungebunden wie sie ist, hätte sie hier alte Forderungen («Frauen, Frieden, Sicherheit») bekräftigen können. Hätte skizzieren können, wie sie sich in einem angegriffenen Europa versteht, das sich nicht mehr auf Binnenmarktrichtlinien und Fördermilliarden beschränken kann, sondern auch verteidigen muss. Vor allem hätte die Schweiz – Aussenpolitik ist Innenpolitik (Cassis)- – erläutern sollen, wie sie in der gegenwärtigen europäischen Klemme die Neutralität praktisch handhabt. Vor der Schweizer Presse hatte der Aussenminister angekündigt, er werde dem Rat den Unterschied zwischen Neutralität und «Gleichgültigkeit» ausdeutschen, aber es kam nichts. Seine Stellungnahmen beschränkten sich auf das Naheliegende, Offensichtliche und Unbestrittene: Bekenntnis zur OSZE, Bekenntnis zur UNO, Bekenntnis zum Multilateralismus, Bekenntnis zur Forderung  nach einer «neuen Sicherheitsarchitektur». Genaueres blieb aus. Auf die Frage, ob die OSZE in Sachen Ukraine eventuelle Lehren zu ziehen habe, sagte Cassis vor der Schweizer Presse: «Bilanz ziehen über das Verhalten der Staaten innerhalb eines Krieges ist eine sehr schwierige Sache, und die macht man nie während einer Krise, sondern nach der Krise. Das überlässt man den Historikern.» Das ist schwach. Auch die Äusserungen über das internationale Vertrauen blieben banal: Là où il y a la confiance, tout est possible. Man hielt es mit dem Inspektor Bräsig Fritz Reuters «ut mine stromtid»: «Die Armut kommt von der powerteh». Dabei könnte der Redner es anders: Beim Vertrauen zwischen Staaten komme es auf  «dieselben menschlichen Elemente» an wie zwischen Nachbarn oder in Familien: «Transparenz, Ehrlichkeit, sagen, was wir  tun, und tun, was wir sagen», erläuterte Herr Cassis. Und auch «bereit sein, einen Schritt zurück zu machen, um Konflikte zu vermeiden und Kompromisse zu ermöglichen». Das war wohl nicht viel konkreter, aber deutlich fasslicher als die rhetorische Sülze, die er dem Rat auftischte.

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Nicht jeder Bundesrat ist ein Demosthenes, und alle werden am Nasenring der «Konsultationen» in der Verwaltung an die Rednerpulte geführt. Man kann sich über die Verständlichkeit der Äusserungen von Herrn Cassis in New York aufhalten und fragen, was er denn gemeint haben könnte. Aber darum geht es nicht. Seine Ansprachen waren nur zu verständlich. Die Botschaft (message) lautet: Wenn es um die dringenden Fragen geht, die jetzt auf dem Tisch liegen, in Europa vor allem, hat die Schweiz nichts zu sagen.