Ich mag keine Demonstrationen. Ich mag sie nicht, so wie ich an Konzerten nicht im Takt klatschen,  bei «la ola» nicht aufstehen oder nicht im Gleichschritt marschieren mag, wenn marschiert werden soll. Vor allem mag ich Demonstrationen nicht, wenn sie «Demos» heissen.

***

Ich bin ein wenig in Berlin. Das eine Stadt der «Demos», dieser Tage besonders, weil der Nahe Osten brennt, Israel wütet, Gaza verblutet, der Hass auf die Juden sich hier wieder Raum und Stimme verschafft. Es heisst, man solle sich an der Sonnenallee in Neukölln besser nicht mit einer yarmulka auf dem Kopf zeigen. Die Sonnenallee ist fest in islamischer Hand, ein Falafelimbiss reiht sich an den andern, und Juden, die sich dorthin verirrt haben, sollen angepöbelt worden sein. Als ich an der Sonnenallee war, auf dem Hermannplatz beim Umsteigen auf den Bus, stand ein Häuflein Leute um einen Mann herum, der unter Zuhilfenahme eines Lautsprechers über «Genozid» an den Palästinensern referierte. Lang und  laut. Und auf Englisch.

***

Es ist irr, wie viel Englisch in Berlin geredet wird. Auf der Strasse, im Supermarkt, im Bus hörst du weniger Berliner Deutsch als Globalenglisch. «Icke» ist seltener als «votts up»? Oder wie das nach Berlin entwichene Zürcher Startupwunder auf Globalenglisch bloggierte: «What means that?»

***

Ich war zweimal bei Demonstrationen. Das erste Mal ahnungslos. Am letzten Oktobersamstag wollte ich am Moritzplatz auf die Untergrundbahn und erspähte im Hintergrund Blaulicht und Polizei. Ich ging hin und merkte, dass eine grosse Gaza-Demonstration im Gange war. «Gross» ist falsch – sie war riesig. Wie ein geschwollener Fluss quoll es durch die Oranienstrasse, querbeet die Mischung: Frauen, Kinder, Alte, Junge, viele Farbige, noch mehr «Bio-Deutsche», wie der widerliche Begriff für das Reinrassige hier heisst (die Franzosen nennen dasselbe etwas nobler Français de souche).  Ich lief auf dem Trottoir mit bis zum Schlesischen Tor, immer der Demo entlang, an einem gigantischen Aufgebot von Polizei vorbei. In der Menge wimmelte es von Palästinaflaggen und selbstgemachten Plakaten, es wurde gebrüllt, was die Lunge hielt: «Free Free Palestine», «Viva Viva Palästina». Ein Lautsprecherheld schrie sich heiser – auf Englisch. Die indizierte Wendung from the river to the sea sah ich nirgends, judenfeindliche Parolen hörte ich nicht. Der Mann, auf dessen Plakat no genocide stand, trug yarmulka. Deutsche Kampfrufe gab es keine. Vielleicht ein Zufall, hoffentlich Verantwortungsrhetorik.

***

Ich mag keine Demonstrationen, aber manchmal ist es wichtig dabei zu sein, wenn gezeigt wird, worauf es ankommt. Deshalb ging ich am 9. November hin. Der 9. November 1938 ist der Tag des grossen Pogroms im Deutschland Adolf Hitlers. Unterstützt, angefeuert und bei Laune gehalten durch den Durchschnitt, griffen nationalsozialistische Schläger jüdische Geschäfte an, zerstörten Schaufenster, stahlen Auslagen, plünderten Wohnungen,  steckten Synagogen in Brand, schändeten jüdische Friedhöfe, beschmierten Hauswände, quälten Juden, verschleppten Juden, schlugen mehrere hundert Juden tot. 300 Juden nahmen sich das Leben. Um ein Signal gegen den Antisemitismus in Deutschland zu setzen, hatten in Berlin die christlichen Kirchen zum Gedenkmarsch aufgerufen. Er führte auf einem «Gedenkweg» vom Winterfeldplatz zum jüdischen Gemeindehaus an der Fasanenstrasse, durch die Tauentzienstrasse und den Kurfürstendamm, wo «der Mob besonders stark wütete», wie es im Aufruf hiess. Alles sei nicht mehr rekonstruierbar, aber mindestens 119 jüdische Einzelhandelsgeschäfte hätten seinerzeit auf der Route existiert. An einigen Stellen wurden Plakate mit den Namen der Ausradierten hochgehalten: «Albert Rosenhain: Das Haus für Geschenke: Kurfürstendamm 232».Oder « Ida Radecke, Lebensmittelhandlung: Maassenstrasse 8». Die Ecke Joachimsthaler Strasse/Kurfürstendamm heisst neu wieder «Grünfeld-Ecke», wie sie in den zwanziger Jahren genannt wurde, nach dem populären Geschäft des Versandhauspioniers Heinrich Grünfeld (die Firma wurde nach NS-Machtergreifung «arisiert», aber weil es so besser rentierte, schrieben die neuen, biodeutschen Besitzer «vormals F.V. Grünfeld» hinter den Namen).

***

Die Menge, die da marschierte, war kleiner als jene in Kreuzberg. Sie war alles andere als bunt, und sie war still. Es gab  keine Kampfrufe. Keine Flaggen und keine Transparente, abgesehen von wenigen Ausnahmen, hier eine Israelflagge, dort ein Schild «nie wieder», da eines «nie wieder ist jetzt». Polizei hatte es wenig. «Zwischenfälle» gab es nicht. Ein- oder zweimal schallte aus der Ferne ein Ruf «Free Free Palestine».

***

Ich fand das gut. Ich fand sehr gut, dass der Krieg, die Angriffe der Hamas auf Israel, die israelische Vergeltung aussen vor blieben. Das war  gut, weil zurzeit alles, was zu diesem Krieg gesagt wird, in einer politischen Tunke daherkommt.

***

Ich fand alles gut bis zum Wittenbergplatz. Da hielt der Zug, und es begannen die Gebete. Ein Monsignore rief den Gott an, der die Überlebenden heilen und trösten, die «Verblendenten» verändern und jene stärken möge, die sich für Toleranz einsetzen. Und dann: «Gott, wir denken an die Menschen in Israel, die Opfer des Terrors der Hamas geworden sind. Gejagt, ermordet und verschleppt. In ihrer Existenz bedroht. Befreie sie».

***

Da riss mir der Faden. Da wird gerade jetzt, as we speak, der Tod  tausender von Zivilisten in Kauf genommen, um Hamas – übrigens zu Recht – auszuschalten, und für das Vorgehen wird nicht selten auch die Shoah als Rechtfertigung angeführt. Und der Pfaffe betet für die einen Opfer, verliert aber kein Wort zum Blutzoll der andern. Als ob diese seinem Gott egal sein könnten.

***

Der Mann könnte Probleme bekommen, wenn er dereinst an seiner Himmelspforte steht, dachte ich mir. Dann löste ich mich aus dem Verbund und ging zum Wein.