Am Samstag um halb zwei Uhr nachmittags, die Kundgebung neigt sich dem Ende zu, der Kandidat hat schon geredet, 35 Grad Bruthitze drücken erbarmungslos auf den Beton des Amphitheaters im St. Mary’s Park in South Bronx, betritt noch Bernie Sanders die Bühne und sagt den tausend ermatteten Anhängern, worum es geht. “Das ist die wichtigste Wahl der amerikanischen Geschichte. In dieser Kampagne geht es darum, der Milliardärsklasse mit ihrer Gier und ihren Super-PACs zu zeigen, dass sie die amerikanische Demokratie nicht zerstören werden. Nie zuvor in der Geschichte haben mächtige Sonderinteressen so viel Geld ausgegeben, um einen Kandidaten zu besiegen”.
Der Kandidat ist Jamaal Bowman, 48 Jahre alt, Abgeordneter des 16. Wahlreises von New York im US-Repräsentantenhaus, als “demokratischer Sozialist” dezidiert links von der Biden-Linie. Der Sitz ist sicher in der Hand der Demokraten, doch Bowmans Aussichten sind düster. Vor vier Jahren kegelte er in der Vorwahl einen seit drei Jahrzehnten amtierenden Parteifreund aus dem Rennen, jetzt blüht ihm dasselbe. Er wird von George Latimer herausgefordert, einem gestandenen Lokalpolitiker der von der mächtigen Israel-Lobby massiv unterstützt wird. Das American Israel Public Affairs Committee (AIPAC) hat 14,5 Millionen Dollar für Latimer-Propaganda aufgewendet, eine andere proisraelische Lobbyorganisation eine weitere Million. Hinzu kommen auf beiden Seiten je etwa 5 Millionen Wahlkampfspendengelder, alles in allem über 20 Millionen Dollar. Das ist Landesrekord für einen Vorwahlkampf im US-Kongress. In den Umfragen führt Latimer. Bis zur Wahl am kommenden Dienstag sind es noch drei Tage, und die linke nationale Prominenz kommt Bowman in der Schlussphase zu Hilfe. Neben Sanders, dem US-Senator aus Vermont und zweimaligen Präsidentschaftskandidaten, tritt die New Yorker Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez auf.
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Wie immer, aber selten so krass, geht es um den Einfluss des grossen Geldes auf den Wählerentscheid. Das Publikum, das im Schatten der Parkbäume liegt, trägt Plakätchen “for the many, not the money”. Ein Mann, der aus dem zwei Stunden entfernten Jersey City angereist ist, zeigt ein Schild “billionaires can’t buy the Bronx”. Das ist gut und recht. Aber das Thema, das die Leute in Wallung bringt, ist Gaza, will heissen der israelische Dampfwalzenkrieg im Gazastreifen (rund 40000 Tote) nach dem Terroranschlag vom 7. Oktober in Israel (rund 1200 Tote, 250 verschleppte Geiseln). Jamaal Bowman gehört zur Handvoll demokratischer Abgeordneter, die sich offen gegen die amerikanische Partnerschaft mit Israel wenden. Er stimmte zwar für die Finanzhilfe für Israels Raketenabwehrsystem Iron Dome, was ihm den Unmut der “demokratischen Sozialisten” eintrug, schwenkte seither aber auf die Generallinie “Boykott, Desinvestition, Sanktionen” ein. Bowman ist einer von zehn demokratischen Abgeordneten, die gegen die Festschreibung der dauerhaften Partnerschaft mit Israel stimmten. Gemeinsam mit Sanders verlangt er eine Untersuchung über den allfälligen Einsatz amerikanischer Waffenhilfe durch die israelische Armee im Gazastreifen. Deshalb die AIPAC-Millionen für Propaganda gegen ihn.
Die einzigen, die sich in der drückenden Hitze im St, Mary’s Park rühren, ist eine Schar radikaler Pro-Palästinenser ausserhalb des abgesperrten Kundgebungsbereichs. Während zwei Stunden schreien sie ihre Parolen heraus, ununterbrochen unerbittlich, unnachgiebig. “Intifada, Intifada”. Oder “genocide Joe gotta go”. Mit dem Präsidenten Biden, der zwischen der traditionellen amerikanischen Nibelungentreue zu Israel und Druck zur Mässigung laviert, haben sie nichts am Hut. Auch nicht mit seinen Anhängern. Auch nicht mit Jamaal Bowman.
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Bowmans Schlachtruf heisst “Waffenstillstand”. Jedes Mal, wenn unten im Amphitheater ceasefire now, ceasefire now angestimmt wird, erwacht die Menge aus der Hitzelethargie und stimmt mit ein. Den stärksten Applaus erhält Jamaal Bowman, wenn er gegen Israel loszieht. Er sagt: “Die Zerstörung von Gaza wird mit den Geldern bezahlt, die sie unserer Gesundheitsversorgung wegnehmen”. Und: “Mein Gegner unterstützt den Genozid”. Die Gegenpropaganda nennt Bowman einen Antisemiten.
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Bowman und Ocasio-Cortez inszenieren ihr rally im St. Mary’s Park als Heimspiel. Sie zelebrieren ein Heimatgefühl, den Stolz auf den unterprivilegierten Stadtteil, das Zusammenstehen im Viertel. Ocasio-Cortez erinnert daran, dass sie hier aufgewachsen ist, die Mutter Putzfrau, sie selbst Kellnerin, eine von unten. Sie erinnert an die grosse Stadtautobahn, den Cross Bronx Expressway, welche die Quartiere durchschnitten und zerstört hat, und an die Gier der Vermieter, die die Gebäude verslumen liessen, und sie erinnert an die Selbsthilfe von Kirchen, Nachbarschaften, Quartierorganisationen, die sich aus der tristen Hinterlassenschaft aufrappeln: “Bowman wird von denselben Leuten angegriffen, die unsere Gemeinschaften zerstört haben”. Und: “AIPAC kümmert sich einen Dreck um die Bronx”. Als Bowman auftritt, wummt der Wu-Tang Clan aus den Basslautsprechern. Der Abgeordnete, ein ehemaliger Schulvorsteher, hopst auf der Bühne herum, mit einem Barstuhl in der Hand: “Ich bin der Hip-Hop-Kongressmann”, schreit er, und stilgerecht – wo gehiphopt wird, muss gefickt werden – we are going to show fucking AIPAC the power of motherfucking South Bronx. Die Menge ist minimal beeindruckt. Als der Hip-Hop-Kongressmann sie zum Schlachtruf South Bronx, South South Bronx, hochkitzelt, lässt sich der erschlaffte Anhang unter den Bäumen allenfalls zu einem Mitmurmeln bewegen. Kunststück: Die South Bronx gehört gar nicht zu Jamaal Bowmans Wahlkreis. Ein grosser Teil des Publikums ist von weiter aussen im suburbanen Westchester County gekommen, wo am kommenden Dienstag gewählt wird . Der St. Mary’s Park in der South Bronx wurde nicht ausgewählt, um Wähler zu mobilisieren, sondern um ein Zeichen zu setzen: Wir, die kleinen Leute in den Städten, sind auch noch da.
An diesem Punkt knüpft Bernie Sanders an: Er beschwört die gemeinsame bescheidene Herkunft, die Anliegen der kleinen Leute, die schier unglaubliche Ungleichheit von Chancen, Einkommen und Vermögen und die in beiden politischen Parteien festgemachte Herrschaft des grossen Geldes in Amerika – die “Oligarchie”. Das machte ihn in seinen Präsidentschaftgskandidaturen attraktiv und gefährlich. Die Gescheiteren unter den Trump-Anhängern wissen darum. Vor kurzem hat Senator JD Vance, Verfasser der brillanten “Hillbilly Elegy” über die unterprivilegierten Massen auf dem Lande, und Trump-Republikaner, in einem Interview erklärt: : “Diejenigen auf der Linken, denen ich gegenuber politisch offen bin, das sind die Bernie Bros”. Die Berniebrüder, die wie er, Vance, verstünden, dass es in beiden politischen Lagern eine Mitte gebe, die den Status Quo zu erhalten suche und nicht sehe, “dass ihr Erfolg auf einem System beruht, das nicht denjenigen dient, denen es dienen sollte”.
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Im St. Mary’s Park hebt Bernie Sanders die Bereiche hervor, in denen er mit Jamaal Bowman übereinstimmt: Gesundheitsversorgung als “Menschenrecht” für alle. Bildung und Ausbildung ohne sich verschulden zu müssen. Dem grossen Geld in der Politik den Riegel schieben. Auch der Klimawandel: “Wir müssen den Mut haben, die fossile Industrie anzugehen”. Es könne einer seine Differenzen mit dem Hip-Hop-Abgeordneten Bowman haben, betont er mehrfach. Aber sein Sieg sei wichtiger als alles andere. “Wenn AIPAC hier verliert, werden sie es nicht nochmals versuchen”. Sanders braucht ein Argument, das wir in den Monaten bis zur Präsidentschaftswahl zwischen Donald Trump und Joseph Biden noch oft hören werden: Der Kandidat mag nicht die erste Wahl sein, aber der Sieg ist entscheidend – deshalb Augen zu, Nase zu und durch.
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Gaza? Sanders, der erste jüdische Präsidentschaftskandidat mit Chancen in der US-Geschichte sagt : “Was in Gaza vor sich geht ist vollig unakzeptabel. Israel hatte das Recht, sich gegen die terroristische Attacke zu wehren” (an diesem Punkt ertönen Buhrufe) “aber es hat kein Recht, gegen das gesamte palästinensiche Volk Krieg zu führen”. Er fügt hinzu: “Befreit die Geiseln”. Das ist klar, kurz und grundvernünftig. Und selten so zu hören.
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Die Vorwahl im 16. Wahlkreis von New York mag nicht “die wichtigste Wahl der amerikanischen Geschichte” sein. Das politische Grossereignis des Jahres ist die Präsidentschaftswahl vom 5. November. Aber der Wahlkampf zwischen den zwei – sagen wir: etwas baufälligen – alten Männern ist öde, langweilig, uninspirierend. Mit der weltweit wohl einzigen Ausnahme des Zürcher “Blick” (“egal wer von den beiden im Herbst gewälhlt wird: es ist gut für Amerika”) findet sich niemand, der einen guten Faden daran lassen kann. Wie der Schimmel über einem vergessenen Glas Eingemachtem legen sich Trump/Biden über das politische Leben des Landes. Und nicht wegen ihres Alters. Bernard Sanders ist 83 Jahre alt, älter als Biden und als Trump. Als er das Podium im St. Mary’s Park betritt, sehen wir keinen Tattergreis und keinen Schwadroneur. Sanders kann zehn Minuten lang ganze Sätze aneinandereihen, frei von der Leber, verständlich und vernünftig, ohne zu stolpern wie der Präsident oder auf irgendeinen Unsinn abzuschweifen wie Trump. Sein Auftritt führt schmerzlich vor Augen, welch traurige Auswahl den Amerikanern im kommenden November bevorsteht. Die TV-Debatte der beiden Präsidentschaftskandidaten vom kommenden Donnerstag – vorgestanzt, durchkalkuliert, einstudiert – wird daran nicht viel ändern.
* Korrektur zur Klarheit : …. die Lobbies setzten sich durch…..
«Dampfwalzenkrieg», ein Tattergreiss und ein Schwadroneur….Treffender geht es nicht! Mal wieder ein brillianter Text … Leider finden die fitten Alten à la Sanders (oder Fauci – ebenfalls 83) – erfahren, kenntnisreich, belesen, «verstaendlich und vernuenftig» – kein Gehoer mehr in den USA – ganz im Gegenteil. Und nun, nach den erfolgten Wahlen im 16. Wahlkreis, wissen wir noch besser, was wir schon immer vermutet haben: die Lobby setzt sich durch – koste es, was es wolle. Ein Omen fuer das, was kommt ?