Es kann wohl sein, eher als nicht, dass die Verzweiflung unter den amerikanischen democrats in sich zusammenfällt und der weidwunde Präsident Biden bis zum Wahltag am 5. November auf den Beinen gehalten wird. Doch das Bild, das er in der TV-Debatte vom 27. Juni mit seinem Gegner Trump abgab, wird bei der Wählerschaft haften bleiben. Der verwirrte Greis, der mit offenem Mund aus gelifteten Augen leer in die Kamera starrte und unverständlich brabbelte, wenn er antworten sollte, ist der commander in chief. Der Mann, der im Ernstfall weniger als eine halbe Stunde Zeit hat, um über den Einsatz von Atomraketen zu entscheiden. Kann der das noch?

Bis zu jenem Donnerstagabend war US-Politik eine eher trostlose Angelegenheit. Sie ist mit dem Aufstieg von Donald Trump zur Alleinherrschaft in der Republikanischen Partei in zwei Lager erstarrt, die einander nebst Schlemperlingen wenig mehr als quasi-religiöse Glaubensbekenntnisse zu sagen haben: hie Welf, hie Waiblingen. Die 90 Minuten TV-Debatte haben diese öde Routine aufgebrochen. Vor unserem Gebäude in New York diskutierten am Morgen danach die Sicherheitsleute im im gym die über die beunruhigende Vorstellung ihres Präsidenten, und tags darauf, als wir zu einer Hochzeitsgesellschaft geladen waren, fanden sich die gewöhnlich spinnefeinden Trumpisten und Anti-Trumpisten am Familientisch in rarer Einmütigkeit: Biden geht nicht.

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Namhafte Medien – so die New York Times – rufen Biden auf, das Handtuch zu werfen und nicht mehr zur Wahl anzutreten. Und in der Demokratischen Partei ist der Kampf ausgebrochen, den sie sich während der gesamten Vorwahlperiode vom Leibe hielt. Im Gegensatz zu den Republikanern, wo der 2020 abgewählte Trump eine Reihe wenig glaubwürdige Gegenkandidaturen abwatschen musste, blieb Präsident Biden als incumbent (Bisheriger) unangefochten. Die einzige verbleibende Alternative, der Minnesota-Abgeordnete Dean Phillips, erhielt 4 von fast 4000 Delegierten zum Parteikonvent, der im August das ticket wählen wird. Seine Hauptargument lautete: Der Präsident ist zu alt und zuwenig vital, um Trump zu schlagen. Noch im Frühling war das tabu. Heute sagen Demokraten es laut. „Präsident Biden hat eine zweite Amtszeit verdient, aber er wird sie nicht gewinnen“, schrieb der Kampagnen-Unternehmer James Carville in der New York Times. Mittlerweile haben 9 Kongressabgeordnete und eine ganze Anzahl aus der zweiten Reihe des politischen Parteipersonals eingestimmt, auch der erste Senator hat sich aus der Deckung gewagt. Wichtige grosse Geldgeber sperren den Geldhahn für Biden zu. Eine neue Kasse – ein political action committee – ist geschaffen, um einer Alternativ-Kandidatur mit 100 Millionen Dollar auf die ersten Sprünge zu helfen.

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In den ersten Momenten nach dem Debatten-GAU reagierte das Weisse Haus mit einfältigen Pressesprechersprüchen: Der Versager war erkältet. Er hatte zuwenig geschlafen. Wenn man nur auf den Inhalt des Gesagten achte, habe er die Debatte “gewonnen”. Das war treffend und unzutreffend zugleich. Unzutreffend, weil Biden dermassen nuschelt, dass man nicht versteht, was er sagt. Zutreffend, weil Trump auf keine Frage antwortete, sondern sich in jeder Antwort als autoritärer Herrscher und Kämpfer gegen die Einwanderer darstellte (ausser den Trumpisten in Amerika fand nur der “Blick” in Zürich, er sei “richtig gut” gewesen und habe “triumphiert”). Seit ein paar Tagen sind nun “Strategie” und message der Biden-Kampagne besser formuliert. Die Argumente sind auf die Reihe gebracht. Sie lauten: Erstens geht nicht um Joe Biden, sondern um die Verhinderung Donald Trump, weil dieser Rache für seine Niederlage von 2020 angekündigt hat und die Demokratie zu Boden reiten wird. Zweitens hatte Joe Biden “einen schlechten Abend”, und ein Abend sagt nicht alles aus. Drittens hat Joe Biden Trump vor vier Jahren geschlagen, und weil er weiterhin gut regieren wird, schlägt er Trump ein weiteres Mal. Seit ein paar Tagen packt der Präsident einen Spielzug aus der Trickkiste von Trump aus: Es sind die “Eliten” in Washington, die ihn weghaben wollen. “Das Volk” seht zu ihm, an seinen Wahlkampfstops feiern ihn die Anhänger, soeben an einem Ice-Cream-Stand in Harrisburg/Pennsylvania.

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Soweit die Argumentation, die unbarmherzig durchgezogen wird, mit Präsidentenbrief an alle Abgeordneten, Interviews, kurzen Kampagnenauftritten. Der Kampf intra muros wird mit harten Bandagen geführt. Einem Radio in Philadelphia fütterte das Weisse Haus die Fragen für ein Biden-Interview (die Journalistin, die sie akzeptierte und stellte, verlor ihren Job). Die Kolumnistin Maureen Dowd detaillierte die Druckversuche eines Biden-Pressemanns, ein Zitat des Präsidenten abzuändern (in den USA eine schwere Berufssünde – im Gegensatz zur Schweiz, wo sich die Interviewten nicht nur die Fragen zum voraus vorlegen lassen, sondern das Gesagte im Nachhinein “korrigieren”).

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Die Vorstellungen des Präsidenten wirken gut, vor allem im Fernsehen, solange er im Skript bleibt. Eins zu eins bleibt er eine unsichere Nummer. Vor kurzem sagte er in einem Radiointerview, er sei “die erste schwarze Frau, die mit einem schwarzen Präsidenten dient”. Horsefeathers und auf keine Geissart richtig: Biden brachte offensichtlich durcheinander, dass er Vizepräsident des Schwarzen Barack Obama war und seine Vizepräsidentin Kamala Harris dunkelhäutig ist.

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Biden gräbt sich ein. Den demokratischen Parlamentariern schrieb er: „Ich gehe nirgendwohin“. Am Frühstücksfernsehen teilte er nur, nur wenn „der Allmächtige“ ihn dazu auffordere, werde er seinen Platz abgeben. Gefragt, wie er reagieren wurde, wenn seine Parteifreunde ihm “verlässlich” unterbreiteten, er werde nicht nur seine eigene Wahl verlieren, sondern auch die des Parlaments, verweigerte er die Antwort: “Das wird nicht passieren”.

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Vielleicht nicht. Wichtige demokratische Parteigrössen schlagen sich auf seine Seite. Die Parlamentariergruppen (caucuses) der Schwarzen und der Hispanics und eine ganze Anzahl Senatoren rufen dazu auf, die Reihen zu schliessen und das Kapitel „der Kaiser ist nackt“ abzuhaken. Desgleichen die Linksaussen-Abgeordnete Alexandria Ocasio-Cortez, die zur squad gezählt wird, einer kleinen Gruppe von Kongressmitgliedern, die Bidens Nahost- und Klimapolitik als zu wenig weitgehend kritisiert. Sie weiss warum: In einer New Yorker Vorwahl ist das squad-Mitglied Jamaal Bowman soeben dank Millionenspenden des American Israel Public Affairs Committee weggewählt worden, und anderen blüht dasselbe Schicksal. Bei allen Kompromission und Verwedelungen ist Biden in vielen Bereichen der «linkste» aller demokratischen Anwärter, «linker» als Obama und viel «linker» als Clinton.

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Eine grosse Zahl von Senatoren, Gouverneuren, Abgeordneten hängt sich nicht zum Fenster hinaus. Sie räumen ein, dass der Chef schwächelt, wollen ihm aber Zeit zur Besserung gewähren. Der Präsident müsse «mehr tun», um sich zu beweisen, erklärte Senatorin Patty Murray. Die Kühnsten verhalten sich wie hartnäckige Liebhaber nach der ersten Absage – is this a firm no? – und fragen den Präsidenten mittlerweile öffentlich, ob das letzte Wort gesprochen sei. Die Zögerer wissen: Wenn er nicht freiwillig einlenkt, ist der der störrische Alte so einfach nicht vom Sockel zu stürzen. Es gibt mehrere Wege, und in der Fronde herrscht keine Einigkeit. Die Varianten sind: :

  • Gemäss Verfassung kann das Kabinett Antrag der Vizepräsidentin den Präsidenten als amtsunfähig erklären, worauf die Vizepräsidentin nachrückt, sofern beide Kammern des Kongresses es mit Zweidrittelsmehr bestätigen. Das wurde in der Presse aufgebracht (und war während Trumps Amtszeit unter Regierungsmitgliedern diskutiert worden), wird aber nicht geschehen.
  • Rücktritt vom Präsidentenamt. In diesem Fall rückt Vizepräsidentin Harris automatisch ins Amt. Wahrscheinlicherweise – aber nicht ganz sicher – wäre sie dann als incument ­– zur Wiederwahl gesetzt.
  • Rückzug der Kandidatur zur Wiederwahl. Biden könnte erklären, er werde seine Amtszeit beenden, stelle sich jedoch aus welchen Gründen auch immer nicht für eine zweite Amtszeit zur Verfügung. Dazu hat er bis zum 19. August Zeit. Dann beginnt der Parteikonvent in Chicago, der das ticket formell bestimmt. In einem solchen Fall könnte Biden entweder eine Wahlempfehlung abgeben (wohl Harris) oder seine Delegierten von der Bindung an ihn befreien. Der Konvent wäre dann “offen”, wer die Mehrheit der Delegiertenstimmen erreicht, würde Kandidat oder Kandidatin.
  • Die vierte Möglichkeit ist ein Parteitagsaufstand.In diesem Szenario würde Bidens Kandidatur bestritten, und käme es zum Kampf um seine Delegiertenstimmen. Das ist theoretisch möglich, weil die Delegierten zwar auf die Sieger der Vorwahlen verpflichtet sind, die Verpflichtung aber nicht ganz wasserdicht formuliert ist. Ihre Stimme muss “nach Treu und Glauben das Gefühl derjenigen widerspiegeln, die sie gewählt haben”. Ändert sich das Gefühl gegenüber dem Präsidenten, kann alles anders werden. Darüberhinaus gibt es neben den 3933 “verpflichteten” Delegierten noch 739 “Superdelegierte”, die ebenfalls mitbestimmen.

“Offene” Parteikonvente waren bis in die sechziger Jahre an der Tagesordnung – oft tumultuös, immer hinter den Kulissen ausgekungelt. Das Schreckensszenario ist die convention von Chicago im Sommer 1968. Damals hatte der im Vietnamkrieg verrhedderte Präsident Lyndon Johnson seinen Verzicht auf eine erneute Kandidatur erklärt. Der führende Gegenkandidat Robert Kennedy wurde im Juni des Jahres erschossen, es blieb Eugene McCarthy, der Kriegsgegner und Favorit der protestierenden 68er Generation. Um ihn zu verhindern, organisierte das Parteiestablishment in letzter Minute die Kandidatur von Johnsons Vizepräsident Hubert Humphrey, der sich an keiner Vorwahl beteiligt hatte. Der Chicagoer Bürgermeister Daley, ein Demokrat, untersagte “antipatriotische” Aktionen im abgeriegelten Kongresszentrum und liess seine Polizei Demonstrationen der Students for a Democratic Society zusammenprügeln. Humphrey wurde nominiert und erlitt eine Erdutschniederlage gegen den Republikaner Richard Nixon, der als Mann von “Recht und Ordnung” antrat. Die Parallelen zu heute liegen auf der Hand.

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Dass Biden aufgibt, ist nach seinen Äusserungen der letzten Tage kaum denkbar, es sei denn, die Biologie hülfe weiter nach. Er hat den Fehdehandschuh hingeworfen: “Wenn irgendeiner dieser Kerle findet, ich solle nicht kandidieren, dann sollen sie antreten. Lasst sie ihre Kandidatur erklären und mich am Parteitag herausfordern”. Biden und seine Anhänger weisen auf 14 Millionen erhaltene Vorwahlstimmen und sagen, es wäre undemokratisch, diese nicht zu honorien. Der letzte Versuch, einem führenden Kandidaten die Delegierten abzujagen, geht auf das Jahr 1980 zurück, als der Herausforderer Ted Kennedy (der jüngere Bruder der ermordeten John und Robert) den zur Wiederwahl antretenden Präsidenten Jimmy Carter bis zuletzt bekriegte – mit dem Argument, dass Carter die Wahl verlieren werde. Der Unmut in der Partei war gross. Kennedy behielt recht. Carter verlor.

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Die Anti-Biden-Front will keine Wiederholung von 1980 und schon gar nicht die von 1968. Aber die Vorwahlperiode ist vorbei, bis zum Parteitag bleiben nur fünf Wochen Zeit. Es kursieren Vorschläge für eine Art Vernehmlassungsverfahren. Alt-Stratege Carville bringt die ehemaligen demokratischen Präsidenten Clinton und Obama ins Spiel, die öffentliche Podiumsgespräche (town hall meetings) mit ausgewählten Papabili veranstalten sollten. Einige von diesen haben bereits abgewunken.

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Wenn der Aufstand gegen den alten Joe Biden gelingen soll, muss irgendjemand muss sehr bald den Winkelried spielen und in den Ring treten. Gesucht ist ein Held, möglicherweise ein tragischer. Das liegt nicht in der Natur der Partei. Die Zweifel an der Amtsfähigkeit des POTUS (president of the United States) sind nicht erst zwei Wochen alt, aber bis zur zum Debattendebakel niemand einen Pieps gemacht. Die einen wollten nichts sehen, die Mitwisser führten das Volk an der Nase herum: Der Mann sei alt, aber rüstig, hiess es.

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Während die Frondeure taktieren, nimmt der belagerte Biden die Kriecher beim Wort. Er kämpft, um zu zeigen, dass er noch etwas draufhat: Da eine Rede ohne Versprecher, dort ein Fernsehauftritt ohne Stocken, soeben hat er am Nato-Gipfel eine Ansprache fehlerfrei aufgesagt. Ein abgeschriebener Greis im letzten Kampf, gegen falsche Freunde, ein underdog mit dem Rücken zur Wand. Das mögen die Leute. Aber nächste Woche wird eine andere Sau durchs Dorf getrieben. Ab 15. Juli ist in Milwaukee Parteikonvent der Republikaner, die Krönungmesse des Caudillo, ein Woodstock des rechtsextremen “Populismus”, nachgewürzt mit Hohn und Häme über den unglücklichen Hagestolz im Weissen Haus. Noch und noch wird man die Bilder des stolpernden, stockenden Joe Biden sehen, seine verbalen Eseleien hören, die Geschichten von den Einflüsterern und Abschirmern um die Ohren geschlagen erhalten. In diesen Tagen wird nicht viel Raum für Gegendarstellung bleiben.

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Auf einmal findet Politik in den USA seitenverkehrt statt. Bidens stärkstes Argument lautete bislang: Ich bin nicht Trump. Nun kann der Caudillo den Spiess umkehren: Ich bin nicht Biden.