Die Behörde hat erneut geurteilt: Leonard Peltier, 1977 wegen zweifachen Mords zu zweimal Lebenslänglich verurteilt, wird nicht auf Bewährung – on parole – freigelassen. Er bleibt im US-Bundesgefängnis von Coleman/Florida. Eine nächste Anhörung gebe es im Juni 2026, teilt die US Parole Commission mit. Die Anwälte sagen, das sei zu spät. Die Wahrscheinlichkeit sei gross, dass Peltier im  Knast sterbe. Er ist 79 Jahre alt und gesundheitlich am Rumpf.

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Vor dreissig Jahren, 1993, war Leonard Peltier zum ersten Mal berechtigt, um Freilassung auf Bewährung zu bitten. Die Anhörung vom Juni dieses Jahres war die erste seit fünfzehn Jahren. In der Zwischenzeit hatten die Präsidenten Clinton, George W. Bush und der Friedensnobelpreisträger Obama Gnadengesuche abgelehnt – jedesmal auf robuste Intervention der Bundespolizei FBI, die vehement auf fortwährende Gefangenhaltung pochte. “Im Namen der gesamten FBI-Familie” fordere er die Rückweisung des Freilassungsantrags, schrieb FBI-Direktor Christopher Wray an die Behörde. Leonard Peltier sei ein “Killer ohne Reue, der zwei von uns brutal ermordet hat”. Ihn aus dem Gefängnis zu entlassen, “würde die Respektlosigkeit vor dem Gesetz fördern”. 1999, als Präsident Clinton Peltier auf seiner Begnadigungsliste fand, demonstrierten 500 FBI-Agenten auf der Strasse in Washington, D.C. Das FBI versteht keinen Spass, wenn es um die “FBI-Familie” geht. Die amerikanische Justiz ist grausam.

Der Fall ist es ebenso. Es geht um die Ermordung der FBI-Agenten Ronald Arthur Williams und Jack Ross Coler am 26. Juni 1975 im Pine Ridge Indianerreservat im US-Gliedstaat South Dakota. Die beiden hatten auf der Spur eines Diebstahlverdächtigen ein Auto verfolgt. Auf der Jumping Bull Ranch hielt das Auto an, es setzte ein Feuerwechsel ein, in dessen Verlauf über 100 Polizisten einer ungenannten Zahl von Gegnern gegenüberstanden. Am Ende lagen Williams und Coler sowie einer der Gegner tot da. Die Täter flohen.

Das Scharmützel in der Pine Ridge Reservat war nicht eine Wildwestschiesserei wie Dutzende andere. Es war eine Fortsetzung einer langen, bitteren Vorgeschichte, die in die Vertreibung, Marginalisierung, Zwangsanpassung der amerikanischen Ureinwohner zurückreicht – ein Genozid im wahrsten Wortsinn (und der Grund, warum die USA die Genozid-Konvention der Vereinten Nationen nicht unterzeichnen). Aus Sicht der Opfer sind die Schützen von der Jumping Bull Ranch nicht einfach Kriminelle, sondern auch Freiheitskämpfer oder «Aktivisten» mit legitimer politischer Absicht. Und Leonard Peltier ein politischer Gefangener.

Pine Ridge ist ein Überbleibsel des grossen Sioux-Reservats, das in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nach und nach immer kleiner gemacht wurde, und in Pine Ridge liegt Wounded Knee, wo die 7. Kavallerie der US-Armee Ende Dezember 1890 die letzten Kämpfer der Hunkpapa und Miniconjou Lakota entwaffneten und über 150 Männer, Frauen und Kinder erbarmungslos umbrachten. Ein historisch beladener Ort (heute National Historic Landmark mit Parkservice etc.), der Anfang der siebziger Jahre einen neu entfachten indianischen Widerstand beflügelte. In den Stämmen der Lakota (“Sioux” und andere) brodelte ein Konflikt zwischen der gewählten Stammesregierung, die mit dem weissen Staat kooperierte und den “Traditionalisten”, welche sich dem Anpassungszwang in den Schulen (English only, kein Verständnis für die Kultur der “Wilden”) widersetzten. Der korruptionsanfällige Stammespräsident Dick Wilson baute eine eigene Miliz auf, die “Traditionalisten” riefen das American Indian Movement (AIM), eine städtische Bürgerrechtsbewegung, zu Hilfe. Aus Protest und Gewalt wurde offene Sezession: Im Februar 1973 besetzten “Traditionalisten” den Ort Wounded Knee, verlangten die Absetzung von Wilson und die Neuverhandlung der mit der Regierung in Washington seit dem 19. Jahrhundert geschlossenen und systematisch gebrochenen Verträge. Die Bundesregierung antwortete mit Gewalt. Wounded Knee wurde abgeriegelt und 71 Tage belagert. Die Bundestruppen stellten den Strom, die Wasserversorgung und die Versorgung mit Lebensmitteln ab. Nachdem die Belagerten aufgaben, folgte eine Welle von Gewalt, Mord und Totschlag.

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Das war die Situation am 26. Juni 1975, als die FBI-Agenten Williams und Coler den Tod fanden. Die Jumping Bull Ranch war ein Zufluchtsort der “Traditionalisten”, und Leonard Peltier, Mitglied des AIM, war vor Ort und bewaffnet. Aber war er derjenige, der die wehrlosen FBI-Polizisten in den Kopf geschossen hatte? Das FBI und die Justiz waren davon überzeugt. Im Februar 1976 wurde der inzwischen nach Kanada geflohene Peltier von der Royal Canadian Mountain Police verhaftet, im darauffolgenden Dezember an die USA ausgeliefert, in Fargo/North Dakota vor Gericht gestellt und im April 1977 zu zwei aufeinanderfolgenden lebenslänglichen Zuchthausstrafen verurteilt. Zwei weitere Angeklagte, die sich  ebenfalls am Ort des Verbrechens aufhielten, wurden freigesprochen. Sie hatten Selbstverteidigung im Schusswechsel mit den Polizisten geltend gemacht. Bei Leonard Peltier lag der Fall anders: Eine Zeugin sagte aus, sie habe die Morde beobachtet. Und Peltier hatte ein Gewehr desselben Modells auf sich, mit dem die Agenten hingerichtet wurden. Zudem hatte er sich auf der Flucht erneut mit der Polizei angelegt, die in seinem Auto die Pistole des ermordeten FBI-Agenten Coler fand. Indizien, welche von einer schludrigen Verteidigung kaum in Zweifel gezogen wurden und die Geschworenen zum Schuldspruch bewogen. Die Vorgeschichte – der “Kontext” – des Verbrechens kam Prozess nicht zur Sprache. Eine Frau, die zugab, sie sei “gegenüber Indianern voreingenommen”, durfte als Geschworene in der Jury sitzen.

Peltier selbst stritt die Tat von Anfang ab. Im Verlauf der Jahre kam heraus, dass die Augenzeugin gelogen hatte, weil sie vom FBI unter Druck gesetzt wurde. Auch, dass eine Schusswaffenanalyse ergeben hatte, dass die im Auto der Opfer gefundenen Patronenhülsen nicht aus Peltiers Gewehr stammen konnten. Zahlreiche Personen, die am Prozess und den Folgeverfahren beteiligt waren, erklären heute, Peltier sei unschuldig. Der Staatsanwalt, der die Appellationsverfahren leitete, schrieb 2021 an Präsident Biden: “Wir waren nicht imstande zu beweisen, dass Herr Peltier persönlich ein Verbrechen auf der Pine Ridge Reservat begangen hat”. Senatoren haben sich für seine Freilassung eingesetzt, Nelson Mandela, der Dalai Lama, der Papst, Martin Luther Kings Witwe. Alles vergeblich. Die “FBI-Familie” ist stärker.

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Aus der Sicht von Opfern wie Leonard Peltier hat Donald Trump einen Punkt, wenn er die Selbstherrlichkeit und Machtfülle der amerikanischen Bundespolizei anprangert.