Die Kuh ist vom Eis. Joe Biden macht es nicht ein zweites Mal, der Weg für eine Alternative auf Seiten der Demokratischen Partei ist offen. Eine zehnspurige kalifornische Autobahn für Vizepräsidentin Harris, die sich die nötige Stimmenmehrheit am Nominationsparteitag in einem Monat bereits gesichert hat. Die Wählerschaft ist aus der Ödnis des permanenten Wahlkampfs zweier alter Männer erlöst und kann sich – ähnlich wie die Franzosen und die Briten – auf eine relativ rasche Entscheidfindung freuen. Bewegliche Kriegsführung statt Grabenkampf.

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Wer Kamala (korrekte Aussprache: Kámala – erstes a betont, und nicht englisches ä) Harris ist  wird derzeit hundertfach kolportiert, Professorentochter, Immigrantentochter, halb indisch, halb jamaikanisch, of color, aber nicht ganz schwarz, Anwältin, Staatsanwältin, Kalifornierin, Kinderjahre auch im Mittleren Westen und in Quebec, spät verheiratet, Stiefmutter. Wer alles wissen will, findet es auch in den deutschsprachigen Gazetten. Die politische persona Harris jedoch wird in diesen Tagen erst definiert. Stäbe von politischen Regenmachern, Meinungsforschern, “Strategen”, Imagepflegern, meisseln am Produkt, das am 22. August in Chicago die Präsidentschaftskandidatur annehmen wird. Was wir sehen, wird nicht notwendigerweise sein, was wir erhalten. Denn anders als bei den Republikanern wird die Wahlplattform der Demokraten auf die eine oder andere Art Gegenstand von Auseinandersetzungen sein. Sie werden das Verhältnis rivalisierender Kräfte innerhalb der Partei sichtbar machen – beispielsweise, wenn es um die Unterstutzung von Israel oder die Ökologisierung der Wirtschaft geht. Ganz abgesehen davon, dass auf ganz anderem Blatt steht, ob und wie die Plattform umgesetzt werden wird. Amerikanische Präsidenten pflegen sich darum zu foutieren. Die Republikaner haben dieses Problem nicht. Ihre Wahlplattform ist eine Art Flugblatt, bestehend aus 20 “Versprechungen”, von Trump dktiert und ohne Widerredemöglichkeit durchgewunken (die “New York Times” berichtete, dass die Delegierten vor der Sitzung ihre Mobiltelefone und Laptops abgeben mussten).

Damit sind wir im Lager des Caudillo. Die Republikaner werden alles tun, um ihre Kampagne gegen Biden auf die neue Figur zu übertragen. Will heissen, Amerika als gefährdetes Land hinzustellen, bedroht von aussen durch eine Welle von Einwanderern (sie ist real) und von innen durch “Sozialismus” (Mumpitz), das Ganze garniert mit grosszügigen Portionen Hurra-Patriotismus, Christlichkeit und Familienkult. Das bleibt, aber in einem hat die Spielanlage sich geändert: Der alte Mann, der nicht loslassen kann, ist nun Donald Trump, 78. Der älteste Präsidentschaftskandidat je.

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In seiner Maga-Anhängerschaft ist Trump gottgleich, ein Hausbonze, Führer, Erlöser. Wie weit die Aura strahlt, hängt zurzeit in der Schwebe. Meine vier Stichworte zur “Einschätzung” – Schuld, badassery, Pop-Psychologie, Kumbaya – sind so gut wie das nächste Dutzend:. Im einzelnen:

  • Schuld: Es hat sich erhärtet, dass das Attentat aut Trump vom 13. Juli auf ein Versagen des Bundespolizeischutzes zurückzuführen ist. Der fällige Rücktritt ist erfolgt, aber der Makel haftet an der Biden-Administration. Wir werden im Wahlkampf viel davon hören.
  • Badassery: Trump hat beim Attentat Geistesgegenwart und Kämpferinstinkt bewiesen. Sein Parteikonvent hat das bis zum Gehtnichtmehr ausgemolken: Donald Trump hat Mut, er ist ein Kämpfer, er knickt nicht ein, etcetera. Er ist badass, ein furchtloser Draufgänger. The baddest of them all, schrie der Pro-Wrestler Hulk Hogan in seiner Parteitagsrede ins Publikum. Hulk ist ein ganz starker Mann, ein Muskelberg, ewiggebräunt, und Pro-Wrestling ist nicht Ringen, wie es an den Olympischen Spielen betrieben wird, sondern gezinkte Unterhaltung für Leute, die sich gerne Prügeleien anschauen. Hulk betreibt Sport so, wie Donald Trump Politik betreibt.
  • Pop-Psychologie. Einen Moment lang wurde gemutmasst, das Attentat habe Trump dergestalt geläutert, dass er seine Gegner nicht mehr als eine Art subhumane Vernichtungsobjekte auffasst. Pustekuchen. Der Caudillo muss den Ton gar nicht mehr angeben, das maga movement singt die Melodie von alleine.
  • Kumbaya: Desgleichen die Vorstellung einer nationalen Lagerfeuerromantik, angeführt von einem durch den Schuss ins Ohr geläuterten Trump und dankbar aufgenommen von den angeödeten Bürgern. An seinem Parteitag redeten der Caudillo und sein Sohn Eric (die Entdeckung von Milwaukee: der Mann scheint nicht so blöd, wie er veräppelt wird) von Versöhnung und dergleichen. Aber der Lack blätterte rasch, die message hielt nicht durch. Trumps nationale Versöhnung ist jene von Kaiser Wilhelm: “Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche”. Und ab in die Uniform, im Gleichschritt.
  • V: Neu hinzu kommt der V-Faktor. Das ist das Gewicht von Trumps Vizekandidat J.D. Vance in der Waagschale. Er kommt “von unten”, aus der Appalachenarmut, wo Gott, Vaterland, harte Arbeit und gesundes Misstrauen gegen alles, was nach “oben” riecht, den soziokulturellen Gleichklang machen. Da schöpft J.D. aus dem Vollen. Dem Parteitag erzählte er, wie seine Grossmutter ihn als Teenager vom schlechten Umgang mit einem Drogentypen abbrachte. Sie werde seinen Kollegen eigenhändig mit dem Auto überfahren und umbringen, habe sie ihm eröffnet, “und sie werden mich nicht erwischen”. Das zählt. Inhaltlich sagt J.D. viel Richtiges, was der “Sozialist” Sanders auch sagen könnte: Die Politik in Washington hat den kleinen Mann noch und noch betrogen. Der kleine Mann wird vernachlässigt. Der kleine Mann wird den Interessen der grossen Konzerne geopfert. Die Globalisierung hat dem kleinen Mann geschadet, weil seine amerikanischen Arbeitsplätze ins billigere Ausland ausgelagert wurden. «Ökonomischer Nationalismus», bei J.D. Vance mit Scharf nachgewürzt durch die Ranküne gegen die Einwanderung aus dem spanischsprachigen Süden. J.D. zapft die berechtigten Ressentiments der Deindustrialisierungs- und Globalisierungsverlierer an, aber er offeriert keine politischen Rezepturen ausser Gott, Vaterland, harte Arbeit, Bekämpfung der Einwanderung («grösstes Deportationsprogramm je») und gegen “Eliten”, denen er sich selbst angedient hat. Als persona macht er eine schlechte Figur. Sein Lächeln ist schief, sein Vortrag hölzern, seine Körpersprache unecht. Er erinnert an Dan Quayle, den ungelenken Vize von George Bush dem Älteren. Ausser einer faszinierenden Jugend – sein Buch “Hillbilly Elegy” (nicht der Film) ist Pflichtlektüre – hat J.D. Vance nichts zu bieten. Quayle mit einer Biographie.

Genug gemeckert. Wir in der Holzklasse des politischen Publikums nehmen dankbar an, dass der amerikanische Präsidentschaftswahlkampf nicht länger eine langweilige Klatscherei zweier Senioren ist. Klar wird weiter geklatscht, weiter bramarbasiert (“wichtigste Wahl der Geschichte”), weiter gelogen und ganz sicher weiter weiter gedreckelt werden. Aber im Vergleich zu europäischen Gepflogenheiten – zum Beispiel die Hinterzimmerkabale zur Abwahl von Christoph Blocher oder der Fall Helmut Kohls – war die Abhalfterung von Joe Biden ein Muster an Transparenz. Und wo anders als in Amerika hätte eine rechtsautoritäre Partei Humor? Der republikanische Parteitag in Milwaukee liess einen Hulk Hogan auftreten – eine Gestalt, die nur im second degré genommen werden kann. Und «Babydog»: Babydog ist der übergewichtige Bullenbeisser von West Virginia-Gouverneur Jim Justice. Der postierte ihn bei seinem Parteitagsauftritt auf einem Stuhl neben dem Rednerpult, wo der Köter selbstzufrieden ins begeisterte Publikum hechelte.. Das Video ging viral. Man muss kein Trumpist sein, um hier Heiterkeit zu finden.