Mit dem Attentat auf Donald Trump hat eine weitere Stunde der schnellen Schlüsse geschlagen: Nun habe Trump die Wahl gewonnen, jetzt werde er zum grossen Versöhner, etcetera. Die Vermutung erhärtet sich erneut: Je weiter weg, desto kategorischer werden die “Einschätzungen” zum Geschehen in den USA.  In den deutschsprachigen Medien sind sie deutlich spitzer gefasst als in jenen der Amerikaner selbst.

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Ich war upstate, als es passierte, im Hudson Valley zweieinhalb Stunden ausserhalb New York City. Eine Zwielichtzone, wo die Gentrizierung sich ins Landleben gefressen und neu angekommenes Stadtvolk die rednecks  verdrängt hat. Eine Stunde nach den Schüssen von Butler/Pennsylvania waren wir im Park am Fluss im Städtchen Hudson am Jahreskonzert des Hudson Festival Orchestra. Ein paar hundert Leute, wunderbarer Abend, alkoholfrei (wir sind in Amerika), der hot dog für zwei Dollars. In den aufgeschnappten  Gesprächsfetzen war nicht vom Attentat die Rede. Die Stimmung war nicht “gedrückt”. Die Trumpisten in meiner Nähe waren keine Verschwörungstheoretiker und nicht aufgestachelter gegen die liberals als sie es sonst sind.  Niemand geiferte. In zwei Punkten bestand Einigkeit: Kandidatenmord geht nicht. Und gut,  dass das Opfer lebt. Sehr gut. Denn sonst würden noch mehr Messer gewetzt.

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Mein Eindruck, auf zugegeben beschränkter Grundlage: Das ist kein Kennedy-Mord, auch nicht das Reagan-Attentat. Die für solche Momente bereiten Floskeln  greifen nicht. Die Uhren standen nicht still. Das Land hielt keinen Atem an. Nicht alle werden sich noch nach Jahrzehnten erinnern, wo sie sich befanden, als die Nachricht einschlug.

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Was die Episode von Butler für den weiteren Verlauf der US-Präsidentschaftskampagne bedeutet, lässt sich nicht sicher abschätzen. Wir müssen uns zunächst aufs Beobachten beschränken. Eine Handvoll Aspekte lassen sich im Auge behalten:

  • Schuld: Amerikanische Präsidenten, Ex-Präsidenten und Präsidentschaftskandidaten werden so scharf bewacht wie Diktatoren. Warum es möglich war, dass sich ein Schütze auf einem Hausdach in Schussweite des Rednerpults postieren konnte, ist die unbeantwortete 64000-Dollar-Frage. Der Schutz des Kandidaten ist Sache der Bundesregierung. Die Bundesregierung ist von Präsident Biden geführt. Er ist verantwortlich. Jeder Makel aus der laufenden Untersuchung ist ein politischer Sargnagel für Biden.
  • Bad ass: US-Wahlen sind Persönlichkeitswahlen, und auf dieser Ebene hinterlässt das Attentat die tiefsten bereits sichtbaren Spuren. Denn Trump hat Tapferkeit bewiesen. Während die Sicherheitsleute ihn in Sicherheit brachten, hob der blutende Kandidat seine Faust und schrie fight! Fight! – “Kämpft! Kämpft!”. Es gibt die Photo, mit Flagge, Blut, einem Sicherheitsmann mit dunkler Sonnenbrille. Wir werden diese Photo überall sehen – auf T-Shirts, Plakaten, Fahnen, Wimpeln, Humpen, Klebern. Eine “Ikone”. Trumps Reaktion ist, was Amerikaner als “heroisch” verklären, in Filmen lieben und im wirklichen Leben gerne sein möchten: Nicht aufgeben, kämpfen, dagegenhalten.  So hat Trump seine Anhänger am 6. Januar 2021 zum Sturm auf das Capitol angetrieben. Damals wurde es ihm als Aufforderung zum Aufstand ausgelegt, jetzt als Zeichen persönlicher Bravura. Bad ass. Das bleibt. Übrigens: Die neue Einschätzung von Trumps Persönlichkeit macht die Verteidigung des belagerten Präsidenten Biden schwieriger: gegen die Zweifler im eigenen Lager, die ihn wegen seiner Altersschwäche aus dem Amt hieven wollen, präsentiert er sich ebenfalls als Kämpfer. Aber gegen Trumps fight! Fight! kommt er nicht an.
  • Pop-Psycho: Einige Kommentare äussern die Hoffnung, das Attentat habe Trumps Psyche dermassen erschüttert, dass er sich vom Hetzer gegen Kriminelle, Einwanderer und “Kommunisten” zu einem Apostel der politischen Grosszügigkeit mausere und als Versöhner der Nation auftrete. Politisch und taktisch hat das Sinn. Wie weit Wandel oder Selbstdisziplin reichen, zeigt sich am soeben begonnenen republikanischen Parteikonvent, wo Trump als nominee sprechen wird.
  • Kumbaya: Einige amerikanische Kommentare wünschen, das Attentat möge die Spirale des politischen Hasses brechen und das Land in einen angenehmeren Aggregatszustand von Kompromiss, Koexistenz und bipartisanship zurückschnellen lassen. Wieviel davon zu halten ist, signalisiert der republikanische Parteikonvent. Es gibt keine Anzeichen, dass die Programmatik – massive Steuersenkungen, Rückgängigmachung alles Grünen, Stärkung der Exekutive zu einer autoritären Präsidialmacht – modifiziert würde, und keine, dass das Attentat den Widerstand der Gegenseite abschwächte. Auch ein mit Glück an der Ermordung vorbeigeschrammter Donald Trump bleibt Amerikas nächster Verwandter zum faschistischen Phänomen. Ein Caudillo lateinamerikanischen Zuschnitts.