Lieber H.,
Die Wahlen, die amerikanischen: Du hast mir einen Link auf einen Artikel von Andrew Sullivan geschickt. Merci vielmals! Ich habe das mit Interesse gelesen. Du fragst, was ich davon halte. Wie ein guter Marxist («die erste Antwort auf eine Frage ist die Kritik der Frage selbst») richte ich das Visier zunächst auf den Autoren. Ich nahm Herrn Sullivan bereits während meiner Zeit in Washington zur Kenntnis – einer jener Briten, die sich dank Univeritätspedigrees und ideologischen Verbindungen Eintritt ins Pantheon der amerikanischen Halböffentlichkeit verschaffen. Er trat dort als Thatcherist und Reaganist in Erscheinung, was ihn im amerikanischen Sprachgebrauch zum «Konservativen» (limitierter Staat, Eigenverantwortung) machte. Das ist heute alles gegessen, weil «konservativ» sich ins Chauvinistische, Patriarchalische und Alttestamentarische gewendet hat, mittlerweile auch in einen Führerkult um Donald Trump. Leute wie Sullivan (ein praktizierender Schwuler, der von allem Anfang an für die «gay rights» eintrat und sich so ausserhalb des Nullachtfünfzehn Konservatismus stellte) sind damit politisch heimatlos. Deshalb wählten sie 2020 und 2016 «sogar Hillary», wie Sullivan schreibt. Beide waren wählbarer als Trump, den es unter allen Umständen zu verhindern galt, da er das politische Grundgefüge zu unterspülen drohte: Ein Autokrat, der die Präsidialmacht so extensiv auslegt wie Richard Nixon und (man sagt es weniger laut) Franklin Roosevelt. Ein Ultrakapitalist, der die Unternehmerfreiheit ohne Rücksicht auf Umwelt oder Mitmenschen ausbeutet. Ein Haudrauf, dessen Aussenpolitik darin besteht, «Amerikas Feinde» einzuschüchtern und allenfalls kleinzuschlagen.
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Seit dem abrupten Rückzug von Präsident Biden ist Frau Harris in der Rolle der Trump-Verhinderin, und Andrew Sullivan ist hin- und hergerissen. Er schreibt, sie sei ihm zu links, wofür er die einschlägigen Belege rezitiert. Harris war für «die Entkriminalisierung illegaler Grenzübertritte», für «Gratismedizin für illegale Einwanderer», für die Freilassung inhaftierter «Black-Lives-Matter»-Krawallanten ohne Kaution, für «die Abschaffung der privaten Krankenkassen», für das Verbot der «fracking»-Erdgasgewinnung, und überhaupt für die «woke»-Konzepte, mit denen der Staat die Gleichstellung aller «identitären Gruppen» in der Gesellschaft sicherstellen soll. Sullivan hat recht, die Kandidatin hat das an irgendeinem Punkt ihrer Laufbahn alles gesagt. Sie ist schliesslich aus San Francisco in Kalifornien, einem Laboratorium für die staatliche Legitimierung jeglicher Art von Devianz.
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Du schreibst, Sullivans Artikel sei «raffiniert infam». Ich denke nicht. Er ist nicht infam, weil er den Finger auf einen triftigen Punkt legt: Keiner weiss, wer Frau Harris ist. Und er ist nicht besonders raffiniert, weil er nur Ratlosigkeit offenbart: Auf der einen Seite konzediert der Autor, dass es darum geht, Trump zu verhindern. Und auf der andern Seite zeigt er sich von der Alternative nicht so erbaut, wie er es gerne hätte. Das ist ein altes Lied. Mit Ausnahme der Schweiz (wo Wahlen kaum je etwas verändern) wissen Wähler in allen Ländern, dass sie sich zwischen dem nicht Akzeptablen und dem schwer Goutierbaren zu entscheiden haben.
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Erstaunlicher finde ich, dass Andrew Sullivan – ein Mann, der seine klassische Bildung gerne zur Schau stellt und zu Beginn von Trumps Aufstieg nicht etwa den naheliegenden Vergleich zu Adolf H., Benito M., Juan Peron und all die anderen lateinischen Caudillos zog, sondern das Ende Roms beschwor – dass also dieser Sullivan kein Wort darüber verliert, wie der Übergang von Biden zu Harris zustande gekommen ist. Immerhin geschah er auf sozusagen sowjetische Art, ohne Knirschen in der Partei, Einsprache in irgendwelchen Gremien oder Empörung in den Medien, von den Krokodilstränen ganz rechts einmal abgesehen. Wie nach einem unsichtbaren Drehbuch folgten die Szenen sich eine nach der anderen. Akt 1: Plötzliches Entsetzen über Bidens Schläffe. Akt 2: Abrupter Rücktritt des Kandidaten von der Kandidatur. Akt 3: Frau Harris erklärt sich bereit. Akt 4: Der Abgehalftere stellt sich und seinen Wahlkampfapparat mitsamt der Kriegskasse hinter sie. Akt 5: Ergebenheitserklärungen aller potentiellen Rivalen, allgemeiner Applaus und Übergang zur neuen Tagesordnung. Der Fünfakter erinnert an die unzimperlichen Machtwechsel in Eurer deutschen CDU, oder den Übergang von einem Kim zum anderen, mit dem Unterschied dass Ausgemusterte nur politisch tot ist, sonst jedoch sich seines Daseins freuen darf. In jedem einigermassen demokratischen Arrangement wäre die Nachfolge ein weneli ausgemarcht worden, zumindest parteiintern. Im vorliegenden Fall überhaupt nicht. Der einzige Abklatsch einer politischen Auseinandersetzung war die Wahl der Vize-Kandidatur, die jedoch einzig und allein der Kandidatin oblag. Dort gab es nichts Öffentliches. Nur Audienzen.
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Zurzeit ist das kein Thema. Alles, was publiziert, hechelt dem Harris-Hype hinterher, in dieser Woche mit extra Schmackes. Denn es ist Parteikonvent der Demokratischen Partei in Chicago, wo die Krönungsmesse gelesen wird. Es mag sein, dass ein paar Meinungsverschiedenheiten bei der Formulierung der «Wahlplattform» aus den dicht gewobenen Sprachregelungen sickern (die «Linke» gegen die «Gemässigten», pro-Palästina gegen pro-Israel, möglicherweise etwas Grün in der Suppe), aber der Mist ist geführt, wie wir hier sagen. Liest man die «Einschätzungen» und «Einordnungen» der Schweizer Presse, ist Kamala Harris so gut wie gewählt (im fernen Bonn entgehen Dir vermutlich die Einsichten aus Zürich, aber dort hat einer bereits den «landslide» vorausgesagt).
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An dieser Stelle hilft ein Rückblick auf das Jahr 1988. Im Juli jenes Jahres lag der demokratische Präsidentschaftskandidat Michael Dukakis in den Meinungsumfragen 17 Prozentpunkte vor dem Republikaner George Bush dem Älteren und galt als sicherer Sieger. Bush gewann. Diesmal sind die Unterschiede weit geringer. Harris wird nach dem Schub des Parteikonvents wohl nochmals ein wenig steigen, aber die Wahl bleibt knapp. Es geht – wie Du ja weisst – nicht um das landesweite Total der Stimmen, sondern um die Ergebnisse in jedem Gliedstaat und die entsprechende Anzahl «Elektoren». Wenige zehntausend Stimmen am richtigen Ort können entscheidend sein.
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Noch befinden wir uns derzeit im Niemandsland zwischen «drôle de guerre» und Ernstkampf. Noch haben sich die Demokraten und ihre Kandidatur nicht vollends definiert. Erst nach ihrem Parteikonvent wissen wir Ende Woche verbindlich, was auf dem Papier der Propaganda steht, respektive, mit welchen Themen die Demokraten gegen Trump antreten wollen. Natürlich ist das weitgehend klar. In jedem amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf gebärden sich die Demokraten im Endspurt als die Partei des Kleinen Mannes, der gegen «Wall Street» und die «Konzerne» verteidigt werden muss. Natürlich werden sie bessere medizinische Versorgung, mehr Rücksicht auf Kinder, weniger Verteilungsungerechtigkeit, etwas mehr Ökozeugs und natürlich sehr viel «Respekt» vor jeder erdenklichen Minderheit unter Gottes Auge fordern.
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Der Ernst- und Endkampf beginnt nach dem «Labor Day», dem amerikanischen Tag der Arbeit Anfang September. Das letzte Hurra nach der langen Sommerpause, Beginn des Schuljahres, Ende der Feriensaison, Leben B. Da wird sich entscheiden, welche Faktoren den Wahlkampf bestimmen. Sehr offen ist, wieviel davon auf einigermassen rationale politische Argumentation entfällt, und wieviel auf Gefühl, Stimmung und «Persönlichkeit». Ironischerweise haben sich die Perspektiven gegenüber 2020 verschoben. In der Abteilung «politische Argumentation» zeigt Trump eher die klareren Konturen. Wird er gewählt, werden alle ökologischen Verbesserungen der Biden-Administration rückgängig gemacht, die staatlichen Verordnungen für Gewerbetreibende so weit wie nur möglich abgeschafft, die Steuern gesenkt, die Militärhilfen an die Ukraine gekürzt oder eingestellt. Bei Kamala Harris ist das Programm wie gesagt im Fluss. Umgekehrt in der Abteilung «Stimmung und Gefühl». Da hat Harris die Nase vorn, weil der 78 Jahre alte Donald Trump auf einmal als alte Mann dem Umzug nachstapft und der Unsinn in seinen Reden nicht nur angeprangert, sondern verspottet wird. Und Spott – wenn geteilt – ist allemal besser als Empörung.
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Beide Lager behaupten, der Gegner stehe neben den Schuhen. Trump keift, Harris sei «eine Kommunistin», Harris höhnt, Trump sei weird. Trump hat den Vorteil, dass er auf einen Grundstock quasi-religiös ergebener Anhänger zählen kann, Harris versucht, ein Weltgefühl von «Modernität» anzuzapfen, wie es weiland die Obama-Kampagne beflügelt hatte. Beide Seiten werben unterschwellig auch mit der Unzuverlässigkeit ihrer Kandidaturen. Bei den nicht totaltrumpisierten Republikanern ist zu hören, die Furcht vor einem Ende der Demokratie und der autokratischen Missachtung der Verfassung sei übertrieben, weil der Caudillo es in seiner vierjährigen Amtszeit schliesslich auch nicht geschafft habe, seine Alleinregierung durchzusetzen. Wie der Eigner eines scharfen Hundes sagen sie: «Er will nur spielen». Auch Dein Andrew Sullivan sieht das so: «er war immer weniger an der Macht interessiert als am Ruhm, was ihn weniger gefährlich macht». Umgekehrt ist auch gefahren: Gegen den Vorwurf, Harris sei zu «links» und zu «weich» führt die demokratische Propaganda bereits ins Feld, sie habe sich als kalifornische Staatsanwältin (quasi Justizministerin des Gliedstaats) durch Härte und Kompromisslogkeit gegen Gesetzesbrecher ausgezeichnet.
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Na ja. Wähler rechts wissen, was sie von Trump erhalten werden: Weniger Steuern, weniger Auflagen, weniger Vorschriften, noch mehr radikale Richter. Für sie sind das gute Gründe, sich an der Wahlurne die Nase zuzuhalten. Wie Kamala Harris regieren wird, ist schwer auszumachen. Die Anhaltspunkte sind spärlich und schwach. Harris hat nie irgendetwas regiert. Ihre Wahlkampagne 2020 war ein Fiasko, weil niemand wusste, wozu sie die Macht wollte. Damals, und auch aus ihrem Vizepräsidentinnenbüro wurde über Frustration im Stab und übermässig viele Abgänge berichtet, was ebensogut «Führungsschwäche» wie Vorbehalte gegen die Frau als Boss signalisieren kann. Und wieviel Harris angesichts der Mehrheitsverhältnisse im Parlament ausrichten kann, ist mit ziemlicher Sicherheit anders als die Propagandaparolen auf der Wahlplattform versprechen und die Reden auf den rallies verheissen. Auch das ist nicht ungewohnt, für die linkere Hälfte der Wählerschaft vor allem. In den USA genauso wie in Deinem Deutschland und meiner Schweiz wissen Wähler zur Linken aus schmerzlicher Erfahrung, dass die Halbwertszeiten ihrer Hoffnungen kürzer ist als die Amtszeiten ihrer Volksvertreter.