Vor dem Delonis Center in Ann Arbor stinkt es nach Reeferrauch. Ein halbes Dutzend Klienten sitzt am Eingang und wartet, bis es fünf Uhr schlägt. Dann werden sie innen das Nachtessen servieren. Gefragt, ob sie wählen gehen, und wenn ja wen, ist die Meinung einhellig. “Trump”, sagt “D.J.”, der ergraute Mann mit dem Fahrrad. Warum? The financial, will heissen: Donald Trump kann es besser mit der Wirtschaft. Warum nicht Kamala Harris. Sleazy, sagt D.J. – halbseidig. “Sie sagt nicht die ganze Wahrheit”. Am Boden sitzt Shi, Mitte dreissig. Auch sie wählt Trump. Ihre Begründung: “Harris ist im Alter der Wechseljahre. Da werden Frauen launisch und unberechenbar. Wir können es uns nicht leisten, dass sie einen schlechten Tag hat, wenn sie es mit dem Chinaman zu tun kriegt”.

Zwei Stimmen für Donald Trump dort, wo du es am wenigsten vermuten würdest. Das Delonis Center ist eine Obdachloseneinrichtung. D.J. und Shi gehören zu den Bedürftigen. Shi ist homeless”, vorbestraft (“eine Messerstecherei”), aus Ypsilanti nach dem sozialeren Ann Arbor gekommen, weil die Fürsorge hier besser ist (“hier kriegst du zwei Mahlzeiten am Tag und kannst duschen, in Ypsi geben sie das nicht”). Am Tag bettelt sie oben in der Main Street, wo die schicken Cafés teure Chais servieren. Heute Abend wird sie draussen schlafen. Die Nächte in Michigan sind bereits kalt, aber die von der Stadt offerierten Schlafgelegenheiten öffnen erst Mitte November.
Natürlich sind D.J. und Shi nicht repräsentativ. Aber sie zeigen, wie sehr in diesem Wahljahr die politischen Gewissheiten ins Schwimmen geraten. Normalerweise müssten jene ganz unten, die von den sozialen Leistungen der “liberal” regierten Orte profitieren, diese auch honorieren. Aber dem ist längst nicht mehr so. Die Democrats, quasi-linke politische Heimstatt der liberals, sind die Partei der Bessergestellten, Wohlsituierten geworden, die Partei der Lehrer, Staatsangestellten, Hochschulgebildeten, Urbanen Die Republikaner sind die Partei der weniger gut Geschulten, nicht so gut Gestellten, der Traditionalisten, der Gewerbler und der Ländlichen. Die Republikaner sind die Partei von Donald Trump und seiner MAGA-Bewegung («Make America Great Again»). Die Demokraten haben nach Präsident Bidens plötzlichem Verzicht ohne jegliche Ausmarchung dessen Vizepräsidentin Kamala Harris auf den Schild gehoben. Es steht Spitz auf Kopf.

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Ein Mahlstrom von Propaganda prasselt in diesen letzten Tagen vor der Wahl auf swing states wie Michigan nieder, finanziert durch rekordhohe Geldsummen. Harris nahm seit ihrer Kür zur Kandidatin 1 Milliarde Dollar ein – mehr als Trump. Die Werbung besteht weitgehend aus Angriffen auf die gegnerische Person. Die Harris-Kampagne konzentriert sich auf die zahlreichen autoritären Ankündigungen von Donald Trump, der Millionen von illegalen Einwanderern deportieren, das Militär gegen “die inneren Feinde” einsetzen und die Verwaltung durch ergebene Maga-Anhänger gleichschalten will. Zwei hohe ehemalige Generäle haben Trump vor kurzem on the record als “Faschisten” bezeichnet. Das Trump-Lager zeichnet Kamala Harris als Versagerin, im selben Boot mit dem ungeliebten Präsidenten Biden, und als “Grenz-Zarin” angeblich verantwortlich für die poröse US-Grenze, die “Mörder, Vergewaltiger, selbst Terroristen” ins Land gelassen habe (es stimmt so nicht, Harris’ Job war es, mittelamerikanische Länder zur Drosselung der Auswanderung zu bewegen). Und immer wieder werden die extrem gestiegenen Alltagskosten – Essen, Wohnen, Tanken – ins Feld geführt und der Biden/Harris-Regierung in die Schuhe geschoben.

Beides stimmt. Trump ist nach allen landläufigen Kriterien der Politikbetrachtung ein Faschist – kein völkermörderischer Hitler, aber ein Caudillo lateinamerikanischen Zuschnitts. Wie sagte der berüchtigte Senator Joe McCarthy in den fünfziger Jahren? If it looks like a duck, talks like a duck, quacks like a duck, it is a duck. Und auch die zunehmende Unerschwinglichkeit des Alltags schleckt keine Geiss weg. Der Andrang vor dem Delonis Center ist kein Zufall. “Die Not ist so gross wie nie, höher als während der Pandemie”, sagt eine Mitarbeiterin.

Im swing state Michigan sind die Gewichte gleich verteilt und können wenige tausend Stimmen den Unterschied ausmachen. Es wird nicht nur darauf ankommen, wer seine “Basis” effizienter mobilisiert, sondern auch darauf, wer dem anderen Lager Anhänger abspenstig macht, oder bisherige Nichtwähler gewinnt (amerikanische Wahlbeteiligungen sind ähnlich wie schweizerische – zirka die Hälfte der Wahlberechtigten stimmt nicht ab).
Die Demokraten setzen ihre Hoffnungen auf die angewiderten Republikaner, welche die Kapriolen des Caudillo nicht aushalten. “Viele haben es satt”, sagt Thomas Whitener, demokratischer Kandidat zur Wiederwahl als county treasurer in Kalamazoo. “Sie sagen es nicht, aber sie werden im Wahllokal nach ihrem Gewissen wählen”. Einer, der es offen ausspricht ist der Arzt Michael Bartlett in Midland. “Ich bin lebenslang Republikaner, aber ich habe nie für Trump gestimmt”. Er sieht “die faschistischen Tendenzen” im Kandidaten und sagt, er sei nicht allein mit seiner Einschätzung. Aber: “die Leute, die mit mir einig sind, schauen darüber hinweg”. Und halten still: “viele stimmen für ihn, aber sagen es nicht”. Ihr Hauptmotiv sei “die Wirtschaft”, sagt Bartlett. Diese Republikaner trauten einem Präsidenten Trump wirtschaftspolitisch mehr zu als der mit dem unpopulären Biden identifizierten Harris. Dabei sieht Bartlett den Zustand der US-Wirtschaft nicht so schwarz wie vom Trump-Lager gemalt: “Unsere Wirtschaft erholt sich seit der Pandemie gut, und soweit ich sehe besser als die europäische. Präsident Biden verdient Anerkennung dafür.” Von einem Republikaner ist so etwas selten zu hören. Ein Unternehmer, der Trumps Verhalten und seine Rhetorik (“bombastisch”) verabscheut, aber trotzdem Trump wählt, nannte seinen Grund mit einem Wort: business. Er führt ein Unternehmen, das Lebensmittelfabriken reinigt, und er sagt, die Biden/Harris-Administration habe sein Geschäft beinahe ruiniert, als sie Chemikalientransporte über Staatsland verbot. Seither müsse er seine Rohstoffe aus Lateinamerika importieren und auf Lastkähnen zum Werk bringen, was nicht nur teurer, sondern auch riskanter sei. Er ist sicher, dass ein Präsident Trump Bidens Verbot rückgängig machen wird.

Detroit

Detroit ist die am stärksten gebeutelte Stadt Amerikas. Seit den sechziger Jahren hat sie über die Hälfte der Einwohner verloren, ihre Automobilindustrie ist immer noch dominant, aber nicht mehr die grösste, stärkste und beste der Welt. Zwischen den riesigen, mittlerweile aufgeräumten Industriebrachen liegen moderne Produktionsstätten, im historischen River Rouge Werk in Dearborn baut Ford den neuen elektrischen Truck. Downtown Detroit ist aus einer gemiedenen No-go-Zone eine nette Innenstadt geworden. Kein Paris, New York, man findet jederzeit Parkplatz. Aber an einem Samstagnachmittag flanieren Touristen, Paare mit Kinderwagen.

Lafayette Coney Island, wo eine griechische Familie seit Jahrzehnten durch alle urbanen Wirren hindurch Hot Dogs serviert (with everything ist die gewöhnungsbedürftige Normalvariante mit Schweinswurst, Chili und Zwiebeln) steht als verlotterte Bruchbude mitten in den neuen Gebäuden. Seit neuem fährt ein Tram. Und die Lions sind zuoberst in der Tabelle der NFL North, das erste Mal seit den Weltmeisterschaften der fünfziger Jahre. Mit dem Schriftzug «Sanders» auf den städtischen Abfalleimern ist nicht der Senator aus Vermont gemeint, sondern der running back der neunziger Jahre.

Detroit ist «back» , nicht zum ersten Mal, aber diesmal vielleicht auf einige Dauer. Eine bemerkenswerte Leistung. Und was sagt Donald Trump, wenn er vor dem Detroit Economic Club eine Rede hält? Er warnt, nach einem Wahlsieg der Demokraten werde “das ganze Land so werden wie Detroit”, nämlich ein “Schlamassel” und “ein Entwicklungsland”. Das war nicht für die Stadtväter gedacht, sondern für die Hunderttausende, die nach den Unruhen von 1968 in die umliegenden Gemeinden zogen und die Stadt sich selbst überliessen. In der amerikanischen Variante verläuft der Stadt-Land-Graben nicht nur zwischen den ländlichen Gegenden und den Metropolen, sondern auch zwischen den Kernstädten und den suburbs rundum.
Sonntagabend, 1956 Uhr, Joseph Campau Avenue Hamtramck. Aus dem Islamischen Zentrum röhrt der Muezzinruf zu einem Gebet. Im Restaurant «Remas» vis-à-vis, yemenitische Küche, sitzen drei Dutzend Männer an einem langen Tisch. Alles Araber, alle sonntäglich gekleidet, einige im Anzug, andere in traditioneller Gewandung, grosse Platten voller Reis und Huhn vor sich. Einer steht auf und spricht, nicht ganz feierlich, aber ernsthaft. Er wendet sich an ein Gegenüber, der anschliessend auch aufsteht und redet, offenbar amüsant, es geht Heiterkeit durch die Runde. Der erste Redner erteilt das Wort weiter, bis fast jeder am Tisch gesprochen hat. Die Sitzung eines Männervereins? Nein, sagt einer der Teilnehmer. “Eine Hochzeit”. Und wo ist die Braut? “Die findet erst noch statt. Hier besprechen wir Datum und Ort”. Offensichtlich sind Datum und Ort ihrer Hochzeit nichts, das eine Braut angeht.

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In Detroit lebt die grösste arabische Gemeinschaft Nordamerikas, rund 350 000 Menschen. Seit einem Jahrhundert Libanesen, gefolgt von syrischen Christen (“Chaldäer”), Irakern, Ägyptern, Yemeniten. Die Enklave Hamtramck, eine selbständige Gemeinde, war einst eine Hochburg der Polen und ist seit zirka zehn Jahren die erste amerikanische Stadt mit muslimischer Mehrheit. Die Geschäfte an Joseph Campau sind arabisch angeschrieben, die Frauen sind vollverschleiert. Weil die US-Regierung unter Präsident Biden den israelischen Vergeltungskrieg gegen die Hamas im Gaza unterstützt, bröckelt hier die Treue zur Demokratischen Partei. “Normalerweise wäre das eine sichere Sache für Harris, 70 Prozent der Arabisch-Amerikaner wählen demokratisch”, sagt Sami Khalid, Präsident des Dearborn Democratic Club. “. Aber jetzt ist der Krieg das Wichtigste”. Und das bedeutet Zurückhaltung oder Absprung. Sie reichen in der Demokratischen Partei weit über die Arabischstämmigen hinaus. “Der Krieg in Gaza muss aufhören”, sagt Demokrat Whitener: “Ich hasse es, dass unsere Regierung Komplize ist”. Bei den Michigan-Vorwahlen im vergangenen Sommer legten über 100 000 Personen leer ein. Donald Trump haut in die Kerbe und wirbt intensiv um die Stimmen der Arabisch-Amerikaner. Er verspricht ihnen, er werde den Gaza-Krieg beenden (wie, sagt er nicht), trat mehrfach mit arabischen Lokalfürsten auf und hat Erfolg. Der Prominenteste von ihnen ist Bürgermeister Amer Ghalib in Hamtramck, der Trump offiziell unterstützt. Ghalib, ein gebürtiger Yemenite, ist Demokrat. Gefragt, wie er solche Schritte pariere, antwortet Sami Khalib von den Dearborn Demokraten: “Ich sage ihm, dass der Krieg vorbeigehen wird, seine Probleme aber bleiben. Seine Stadt braucht bleifreie Wasserleitungen und bessere Strassen. Seit die Demokraten im Weissen Haus sind, gibt es Geld für Infrastruktur. Trump hat nichts getan”.

Inwiefern ein Präsident Trump der arabischen Sache besser dienen würde, rückt in den Hintergrund. Während seiner Amtszeit hat er der illegalen israelischen Besiedlung der Westbank nichts in den Weg gelegt, die US-Botschaft nach Jerusalem verlagert und ein allgemeines Einreiseverbot gegen Muslime verlangt. Für Trumps arabische Wähler spielt das keine Rolle. “Ich mag Trump nicht, er mag mich auch nicht”, sagt Ahmad, ein Gast in Remas Restaurant. Er wählt Trump nicht nur wegen des Gaza-Kriegs. “Der Krieg ist das Kleinste”, sagt er. Was dann? “Mein Geschäft. Ich mag Trump nicht, und er mag mich auch nicht. Aber wir brauchen jemanden, der uns vorwärts bringt, mich, unsere Kinder, unsere Grosskinder.”

Kamala Harris ist keine gute Kandidatin

Wieder business. Demokrat Thomas Whitener sieht es genauso: “Das Hauptthema ist die Wirtschaft. Die Inflation, der Wohnungsbau. Wir haben einen guten Plan”. Das mag sein, Harris verspricht “Einsatz für den Mittelstand”, Staatsgeld für das erste Kind, das erste Haus, das erste Unternehmen. Aber sie scheint nicht gehört zu werden. Es könnte an der Kandidatin liegen. Nicht an der Karikatur aus der Trump-Propaganda. Aber an der simplen Feststellung, die sowohl in der Demokratischen Partei wie in der Presse tabu ist: Kamala Harris ist keine gute Kandidatin. Sie kommt etwas zu glatt, etwas zu unverbindlich, etwas zu allgemein hinüber. So wie die Dame von der Personalabteilung, die dir in netten Worten eröffnet, dass es nichts wird mit der Beförderung und die Ferien auch nicht wie eingegeben bewilligt werden. Kamala Harris lässt es beim Allgemeinen und bei der finsteren Warnung vor dem Gegner bewenden. Sie malt mit dem breiten Pinsel und lässt den Rest offen. Sie lässt das Publikum werweissen, ob und wie sie ihren Plan durchsetzen würde, wenn es hart auf hart geht. Das ist kein gutes Rezept, um einen Faschisten zu besiegen.