Die Sau läuft schlecht. Soeben musste Harley Davidson Inc. einen massiven Absatzeinbruch seiner Motorräder – im Volksmund als hogs (“Schweine”) bekannt – vermelden, global ebenso wie national. Harley ist neben der Bierindustrie der ökonomische Stolz von Milwaukee, und wie das Unternehmen sich auf dem Weltmarkt schlägt, kann hier nicht egal sein. Umso weniger, als es sich seit an der Frontlinie eines europäisch-amerikanischen Handelskriegs befindet: Als die Trump-Administration 2018 Sonderzölle auf Stahl und Aluminium aus Europa erhob, schlug die EU mit gezielten Strafzöllen auf hogs zurück. Mit Präsident Biden wurde eine vorläufige Einigung erzielt.
Für den amerikanischen Wahlkampf 2024 ist das kein Thema. Ebenso wenig wie die immense amerikanische Staatsverschuldung, die unter Trump und Biden auf rund 35 Billionen Dollar gestiegen ist. Ebensowenig wie die Folgen der Erderwärmung, trotz Rekordhitzewellen und verheerenden Stürmen, und ebensowenig wie Amerikas zukünftige Haltung im russischen Krieg gegen die Ukraine. Die Demokraten reden nicht darüber, und Donald Trump inszeniert sich in der Endphase der Kampagne als Friedensfreund, der die USA gegen die “Kriegsgurgeln” auf der anderen Seite aus den Konflikten im Ausland heraushalten werde. Wenn sie die Amerikas kriegerische Intervention im Ausland möge, so solle sie doch selber in den Krieg ziehen, höhnte Trump gegen die republikanische Abtrünnige Lynn Cheney, die für Kamala Harris weibelt. Er regte an, Cheney vor die Mündungen eines Hinrichtungskommandos zu stellen, damit sie sehe, wie es sich so anfühle. Die Demokraten nennen das «Aufruf zum Mord», die Republikaner einen vielleicht nicht so gelungenen Trump-Scherz. Amerika ist tatsächlich in jeder Hinsicht ein Land der unbegrenzten Möglichkeiten.
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Im Wirbelwind der letzten Wahlkampftage umschwärmen Kamala Harris und Donald Trump den swing state Wisconsin wie die Fliegen einen frisch belegten Misthaufen. Ihre Propaganda dröhnt erbarmungslos auf allen Kanälen, ermöglicht durch rekordhohe Spendengelder (Harris hat 1 Milliarde Dollar eingetrieben und verfügt über mehr Geld als Trump). Die Werbung der Harris-Kampagne setzt darauf, durch Trump verbiesterte Republikaner abzuwerben, vor allem in den Vororten, und vor allem Frauen, welche das Männlichkeitsgehabe und die von Trump ermöglichte Aufhebung der Abtreibungsfreiheit abstösst. Die Trump-Werbung hat es mit der Geschlechtsumwandlung und der Transsexualität: auch als sporadischer Fernsehzuschauer kommst du nicht um den Clip herum, in dem Harris sich für den Zugang zu Sex-Change-Operationen für Gefangene einsetzt. Die Auftritte der Haupt- und Nebenfiguren folgen sich Schlag auf Schlag. Am Freitag vor der Wahl war Milwaukee, ungefähr so gross wie Zürich, das Epizentrum. Am gleichen Abend hielten Harris und Trump wenige Kilometer entfernt grosse rallies ab, am Sonntag kam als Zugabe der frühere Präsident Barack Obama in die Stadt, der von 2009 bis 2013 regierte. Obama ist 63, vierzehn Jahre jünger als Trump und drei Jahre älter als Harris.
Sonntag, 3.November, 1530 Uhr. Er hat’s noch immer drauf, der Alte. Im Baird Center in Milwaukee zeigt Barack Obama, wie man einen Donald Trump auch angehen könnte. Der 63jährige Ex-Präsident ist da, um den Demokratinnen – Präsidentschaftskandidatin Kamala Harris und Senatorin Tammy Baldwin – einen letzten Schub in den Rücken zu geben. Er spricht von der wirtschaftlichen Härte für das Durchschnittsvolk und zeigt Verständnis für die Sehnsucht nach change, Wandel: “Ich verstehen die Leute, welche die Dinge aufmischen wollen. Was ich nicht verstehe, ist, wie Donald Trump sie für uns aufmischen könnte”. Obama spottet, Trump rede nur über “das Konzept eines Plans” für einen Ersatz des “Obamacare”-Krankenversicherungssystems: ”Stell dir vor, deine Frau fragt, wie weit du mit dem Abwasch bist und du sagst, ‘ich gucke gerade Football, ich habe ein Konzept eines Plans’. Warum sollte das für den Präsidenten der USA funktionieren, wenn es daheim nicht funktioniert?””. Trump habe keine greifbaren wirtschaftlichen Konzepte, und jene, die er habe, seien schädlich. Fast eine Stunde zelebriert Obama vor mehreren tausend begeisterten Anhängern ein Feuerwerk aus Humor, Unterhaltung, Polemik und scharfem Argument, wie es in der laufenden Saison selten zu sehen ist.
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Natürlich preist er die Kandidatin Harris in höchsten Tönen an: “Generationenwechsel”, charakterliche Integrität, harter Einsatz. Aber er legt die Akzente anders als sie. Harris vermeidet es, den Namen des ungeliebten Präsidenten Joe Biden zu nennen, mit dem sie als Vizepräsidentin regiert und den sie beerben will. Obama nennt Biden, seinen Vize, mehrfach und im positiven Sinn. Er konzentriert sich auf die Frage, was weitere vier Jahre Trumpismus dem kleinen Mann bringen würden, während Harris die Abtreibungsfrage stark betont und die Gefahr einer Quasi-Diktatur unter Trump beschwört. Bei Obama ist die Abtreibung eine Parenthese unter anderen und bleibt die Diktaturgefahr unerwähnt. Er reibt den schwankenden Republikanern die zahlreichen Charaktermängel ihres Kandidaten unter die Nase und fragt, ob so einer wirklich ins Weisse Haus gehöre.
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Freitag, 1. November, 1600 Uhr. Die Harris-Veranstaltung ist im State Fair Park ausserhalb des Stadtzentrums angesagt, Schauplatz der jährlichen State Fair, die für Wisconsin etwa das ist, was die Olma für die Ostschweizer: Viehschau, Bratwurst, Kirmesbetrieb. Die Gebäude auf dem Areal einschlägig beschriftet, sheep&goat, swine&goat, an den zugesperrten Verkaufsständen ist angeschrieben, was dort angeboten wird: Rollbraten, brats, cheese curds. kraut. Kulinarische Reste der deutschen Siedlungsgeschichte, Eine Einweiserin macht gymnastische Kapriolen. Sie heisst Diana, pensioniert, für drei Wochen aus dem eindeutig demokratischen Bosten als Wahlhelferin ins umkämpfte Wisconsin gekommen. Diana geht canvassing. Sie klopft an Haustüre um Haustüre, um die Bewohner zur Wahl zu bewegen. Gefragt, ob die Harris-Werbung um die republikanisch gestimmte Wählerschaft funktioniere, antwortet sie. “Ein bisschen”. Sie treffe auf konservativ eingestellte Leute, die empfänglich seien, aber noch viel mehr auf solche, die Trump trotz allen Vorbehalten die Stange hielten. Diana erzählt eine schier unglaubliche Geschichte. Heute Morgen sei sie an einer Haustür einem Mann begegnet, der bereits brieflich gewählt habe. Gefragt wen, habe der Mann erklärt, er könne seinen zwei Töchtern eine Einschränkung der Abtreibungsfreiheit unmöglich zumuten, also habe er republikanisch gewählt. Er hatte gegen sein eigenes Anliegen gestimmt, weil er es nicht der richtigen Partei zuordnen konnte.
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Freitag, 1. November 1730 Uhr: Die Halle, Kapazität 10000, füllt sich allmählich mit Volk aus allen sozialen Ecken. Schwarze, Weisse, Braune, Junge, Alte. Im Publikum hat weniger freaks als an einer Trump-Veranstaltung, es geht eine Spur gesitteter zu. Auf der Bank entspinnt sich ein Gespräch mit zwei älteren Frauen, beide weiss, beide aus den suburbs, über das Thema Abtreibungsfreiheit. Harris hämmert dem Publikum noch und noch ins Bewusstsein, dass Trumps Oberster Gerichtshof das national geltende Recht auf Abtreibung gekippt und auf die Ebene der Gliedstaaten geschoben hat. Der landläufigen Meinung zufolge wird ihr dies konservative Frauenstimmen eintragen. Viele Frauen werden in der Abgeschiedenheit der Wahlzelle ihr Kreuzlein bei den Demokraten machen”, sagt ein Bekannter. “Und sie werden es ihren Männern nicht sagen”. Wieviel Zugkraft hat das Argument also? “Es ist nicht so wichtig”, sagt Tayyibah aus Mequon. “Es kommt auf, ja. Aber es ist nicht das Wichtigste”. Ihre Begleiterin, aus Germantown, teilt konservative Skepsis. Sie wählt Harris nicht wegen, sondern trotz der Abtreibungsfrage: “Ich war Krankenschwester in einer Gynäkologie. Ich habe zu oft gesehen, dass Abtreibungen schlicht als Form der Geburtenkontrolle benutzt wurden. Ich mag das bis heute nicht”.
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Tayyibah, die andere Frau, denkt, Harris reite zu sehr auf der Abtreibungsfrage herum und sollte sich mehr auf “die Wirtschaft” konzentrieren. Wie Obama. Sie ist keine Einzelstimme. In den Zufallsgesprächen auf dem road trip von New York City nach Milwaukee werden ziemlich regelmässig auch Vorbehalte gegen die Kandidatin laut. Es gibt Demokraten, die sich mehr Klartext und weniger rhetorischen fluff wünschen. Halbseidig” oder “unfassbar” wird die Kandidatin genannt, zu verschwommen in der Frage, was sie für den kleinen Mann erreichen werde. “Sie sagt jedem, was er hören will”, meint eine Frau in Milwaukee, die sich weder für die eine noch die andere Seite entscheiden kann, Sie will bemerkt haben, dass Harris ihren Akzent je nach Geographie färbt – ein bisschen twang im Süden, ein wenig Pastorenbrimborium vor schwarzem Publikum. Eine junge Nichtwählerin in Boston (“niemals Trump”) bringt ihr Unbehagen gegen Harris so auf den Punkt: “Sie ist Anwältin. Sie hat gelernt, zu reden, ohne etwas zu sagen”. Sicher ist das Geschlecht ein Faktor dafür, dass Harris gegen Trump nicht vom Fleck zu kommen scheint. . Von exotischen Ausnahmen abgesehen, sagt das niemand deutlich. Aber in den Umfragen ist die Geschlechterdifferenz (gender gap) so hoch wie nie: Männer mögen Trump und neigen nur zu etwas mehr als einem Drittel zu Harris – Frauen spiegelverkehrt. Wahrscheinlich hat Kamala Harris sich am Samstagabend noch einen grossen Gefallen in Sachen Image getan. Sie trat in der populären Satireshow Saturday Night Life als sich selbst auf, zusammen mit Maya Rudolph, die sie dort verkörpert. “Ich stimme für uns beide”, sagte Rudolph. Donald Trump muss im Roten drehen: Die Konkurrentin hat den Reality-TV-Star in seiner eigenen Domäne, dem TV-Bildschirm, geschlagen.
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Freitag, 1. November, 2015 Uhr: Auf ins Finserv Forum (1700) downtown, wo die Trump-Veranstaltung begonnen hat. Vor dem Eingang stehen die Verkäufer der Trumpwaren, T-Shirts, Hüte, Kirmesramsch. Auffallend: Die auf das Geschlecht der Kandidatin zielenden Sprüche (the ho – “die Hure”), die vordem zu sehen waren, sind aus dem Verkehr gezogen. Im Forum sind die obersten Ränge leer, aber so viele Besucher wie bei Harris werden es sein. Man trägt rote Kappe, Aufschrift make America great again.
Das Publikum ist auch hier gemischt, ein Unterschied in der sozialen Zusammensetzung ist nicht auszumachen. Ausser einem: Das Männervolk ist eine Spur austrainierter als drüben bei Frau Harris, sein Gang oft etwas dezidierter, das Kinn nicht selten kantiger, der Bizeps ein wenig deutlicher konturiert. Das passt. Donald Trump zeichnet das Image des Rebellen. Auf den T-Shirts an den Ständen draussen ist er der outlaw, In seinen Reden kultiviert er die Männermännlichkeit der Action-Helden. Er umgibt sich mit Kampfsportfiguren und Showringern, und er signalisiert dem Macho in subtiler Weise, dass es in Ordnung ist, den Mann Mann sein zu lassen oder auch einmal durchzugreifen.
Vor einigen Tagen pries er in einem längeren Redeexkurs die Maskulinität des ehemaligen Berufsgolfers Arnold Palmer in allen Facetten – einschliesslich der angeblich ausserordentlichen Penislänge. Die landläufige Meinung sagt, das habe bei den jungen Schwarzen Erfolg und bei den Latinos, welche an den überkommenen Trennlinien zwischen Mann und Frau festhalten. Wieweit das stimmt, ist umstritten. Sicher zielen Trumps Signale auch auf wokism, die laufende Schleifung der Geschlechterschranken in Sprache, Verhalten, Vorschriften und Benimmregeln. Gefragt, aus welchen Gründen ausser dem Protest gegen den Gaza-Krieg er Trump wähle, antwortet Ahmad, der muslimische Tankstellenbesitzer in Hamtramck: “Das ganze Zeug mit Mann und Frau”. In Wigley’s Deli in Detroit sagte der Manager, ein Katholik aus Kosovo, der gender bullshit treibe Trump Wähler zu. “99 Prozent der Leute kümmern sich einen Scheiss darum. Aber wenn ich einen Mann sehe und man mir sagt, ich solle ihn mit Miss ansprechen, geht mir die Galle über”.
Am Getränkestand kommt ein Gespräch mit einem älteren Mann zustande. Gefragt, was nach der Wahl passiert, sagt er ohne zu zucken: “Wenn Harris gewinnt, gibt es Krieg”. Er meint es so, Krieg mit Mord und Totschlag. Er sagt, Harris wolle das Recht auf freie Rede einschränken und als “Hassrede” strafverfolgen, wenn Unpassendes gesagt werde. Das sei die rote Linie. “Wenn die Tyrannei zum Recht wird, ist Rebellion rechtens”, sagt er, “da drinnen denken alle so”. Wenn einmal ein erstes Urteil gefällt werde, könne die Rebellion starten. Und die von christlichen Eiferern verordneten Bücherverbote an Schulen und Bibliotheken? “Liberale Lüge – das sind keine Verbote, da wird nur Pornographie entfernt, wo sie nicht hingehört. Sie können das weiterhin kaufen”. Der Mann ist nicht der Einzige, der im Ernst von Krieg redet. An einer Raststätte in Michigan sagt Chad, Noch-nicht-Wähler (“Ich mag beide nicht”), i n grosser Selbstverständlichkeit, er rechne binnen zwei Jahren mit einem Bürgerkrieg. Es könne gut sein, dass ein Gliedstaat wie Texas sich wegen der Streitigkeiten um den Grenzschutz von den USA abspalte und eigene Truppen aufstelle.
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Das Gespräch am Getränkestand driftet ab in einen Monolog über Pädophile und Geschlechtsumwandlungsoperationen an Kindern, bis Robert Kennedy ans Podium tritt. Der Covid-Impfgegner war als Unabhängiger ins Rennen gestiegen, hat sich im Sommer aber hinter Trump gestellt. Er könnte Gesundheitsminister werden. Kennedy redet nahezu unverständlich, ein Mix aus Genuschel und Heiserkeit. Applaus bricht los, als er mitteilt, er habe seine Anhänger aufgefordert, nicht für ihn zu stimmen.
Freitag, 1. November 2130 Uhr: Auf die Bühne im State Fair Park tritt die Rap-Vedette Cardi B, um Kamala Harris anzukündigen. Cardi sagt, sie habe eigentlich nicht wählen wollen. Aber als Kamala Harris auf den Plan getreten sei, habe sie ihre Meinung geändert. Dann ruft sie die Kandidatin auf die Bühne. Der Applaus tost, Frau Harris bleckt die Zähne in einem strahlenden Lächeln. Jetzt werde “das Blatt gewendet”, sagt sie. Man gehe “nicht zurück” in die Trump-Ära. Man müsse verhindern, dass “einer, der zunehmend unstabil und von Rache besessen” sei, an die Macht komme. Sie halte ihre Gegner nicht für Feinde und werde “eine Präsidentin für alle” sein. I will fight for you.