Schon bald ist ein Monat Trump II – der erste von 48 –überstanden, und man gewöhnt sich. Man gewöhnt sich so, wie der Körper sich nach einem Sprung ins Eiswasser gewöhnt: Plötzlich und unangenehm. Das Überraschende dabei ist nicht, was in den USA geschieht, sondern wie Europa sich verhält. Was geschieht, war alles angekündigt, vorgeplant, beschrieben. Wir sehen nicht den blossen Übergang von einer administration zur nachsten, sondern eine Machtergreifung. Das Wort ist historisch belastet und mit Bedacht gewählt.

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Weniger berechenbar ist die europäische Reaktion. Europa, weil unser Kontinent als der kleinste und machtpolitisch schwächste durch die von Washington aus betriebene Zeitenwende am klarsten herausgefordert ist. Wir unterscheiden drei Phasen.

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Phase eins war Konsternation: Geschockt, dass ein gewählter Politiker tut, was er vor der Wahl versprochen hat, fragten sich “Experten”, “Politologen” und andere Kommentatoren, waseliwas der Caudillo wohl beabsichtige, und ob hinter den Deklarationen nicht aecht andere, wirkliche Ziele stünden. Sind sie nicht. What you see is what you get. Die Trumpregierung in den USA kommt dem am nächsten, was in den dreissiger Jahren als “Faschismus” bekämpft werden musste: Macht- und Militärpolitik ohne jegliche Rücksichten, nationaler Chauvinismus, schrankenloser Kapitalismus, gewürzt mit religiösem Rigor und Galle gegen “die anderen”. If it looks like a duck, walks like a duck and quacks like a duck it is a duck.

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Phase zwei ist Vertrauen in die Widerstandsfähigkeit der amerikanischen Gesellschaft. Es treten die “Atlantiker” auf den Plan, um Amerika vor sich selbst in Schutz zu nehmen. Die älteste Demokratie der Welt sei robust genug, um den Trumpismus zu überwinden, heisst es. Die demokratischen Institutionen seien stärker als die laufenden Versuche, die Präsidial- zur Allmacht auszuweiten. Kann sein. On verra. Mit Sicherheit sind der Eigensinn, der Widerstandswille, die Bereitschaft zur Rebellion im amerikanischen Volk breiter und tiefer als die kläglichen Versuche der Demokratischen Partei, Trump mit Hilfe von mehr oder weniger an den Haaren herbeigezogenenen Gerichtsverfahren oder einer unglaubwürdigen Gegenkandidatin zu schlagen. Doch Rebellion kann auch bitter herauskommen. In den dreissiger Jahren, als der Louisiana-Gouverneur Huey Long von ganz rechts aussen auf die politische Szene drängte, schrieb Sinclair Lewis eine Warnung,  it can’t happen here. Nicht sein stärkster Roman, aber vor dem heutigen Hintergrund lesenswert. Am Ende siegt nicht Gutes über Böses oder umgekehrt, sondern versinkt Amerika in einen Bürgerkrieg.

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Phase drei hat soeben begonnen. Das ist die Anpassung an die gewendete Zeit, die kalkulierte Schmeichelei. Hier steht die Schweiz an vorderster Front. Nachdem Vizepräsident Vance an der Münchner Sicherheitskonferenz Europa vorwarf, wegen Beschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit seine eigenen “Werte” zu verraten, pries Bundespräsidentin Keller-Suter seine Rede als «discours libéral, dans un certain sens très suisse». Häh? Vance hatte den Europäern empfohlen, mit den rechtsextremen Parteien in einen «Dialog» zu treten, auf die Verbote von «Hassreden» im Internet zu verzichten und die «digitale Werbung aus dem Ausland» im politischen Betrieb zuzulassen. «Misinformation» und «Disinformation» seien «Worte aus der Sowjetzeit».

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In einem wichtigen Punkt hatte Vance recht. Seine Beispiele (der britische Abtreibungsgegner, den die Polizei daran hinderte, vor einer Abtreibungsklink für das «ungeborene Leben» zu beten, deutsches Vorgehen gegen «antifeministische» Posts in Social Media, schwedische Protektion von islamistischen Empfindsamkeiten) sind ungehörige Beschränkungen der Meinungsfreiheit. Sie soll uneingeschränkt gelten, nach altem amerikanischem Brauch: Jeder soll sagen dürfen, was er will, ausser er schreit «Feuer» in einem vollbesetzten Theatersaal und ruft dadurch eine Panik hervor. Die Massnahmen gegen «Hassrede» und das Vorgehen gegen verbale «Diskriminierung» in Europa sind schlüpfrig, weil sie den Zensurseelen im Staat und – noch wichtiger – im wirtschaftlichen Management Vorschub geben und zu weit gehen. In der Schweiz haben wir soeben auch ein Beispiel erlebt: Die Leitung des von unseren Gebühren finanzierten Radio- und Fernsehunternehmens SRG hat Mitarbeitern befohlen, kritische Stellungnahmen in den social media zu Kürzungsvorhaben zu löschen. Solche Kritik dürfe nur «intern», aber nicht öffentlich vorgetragen werden, beschieden die hacks von der Pressestelle, Das ist ebenso falsch wie verlogen. Solche Kritik muss öffentlich geäussert werden dürfen.

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Soweit Frau Keller-Suter mit dem discours libéral solche Meinungsfreiheit meinte, lag sie richtig. Aber sie redete als Schweizer Bundespräsidentin. Und von einer Bundespräsidentin ist zu erwarten, dass sie ihre Worte in den politischen – den aussenpolitischen – Zusammenhang zu stellen vermag. An diesem Punkt legt ihr Interview mit der Zeitung «Le Temps», en exclusivité quelques minutes après le discours de M. Vance, also ungefilterte hundert Prozent Kellersuter, eine erschreckend unbedarfte politische Ausstattung frei. Es war der Magistratin offenbar nicht bewusst, welch elender Heuchler die Botschaft von der Liberalität vorgetragen hatte. Herr Vance ist der Vizepräsident des Landes, in dem die Opfer von Misshandlungen mit privatrechtlichen non-disclosure agreements geknebelt werden, in dem Bibliotheken Teile der Weltliteratur nicht verleihen dürfen, in dem Abtreibungsärzte durch Gerichtsklagen um ihr Auskommen und durch Terrorangriffe um ihr Leben fürchten, und in dem Studenten von der Universität gewiesen werden, wenn sie für die falsche Sache demonstrieren. Soeben hat die Trump-Administration die Nachrichtenagentur Associated Press vom Besuch ihrer Presseveranstaltungen ausgeschlossen, weil sie den Golf von Mexiko weiterhin so benennt und auf den Furz vom Gulf of America nicht eintritt.

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All das ist ausserhalb des politischen Horizonts unserer Bundespräsidentin. Und mehr noch: Vance hatte nicht einfach dem «Dialog» mit den Rechtsextremen, sondern darüberhinaus einer Trumpisierung Europas (being more responsive to the voices of your citizens) das Wort geredet. Auch diese Dimension ist offensichtlich ausserhalb des politischen Gesichtsfelds der obersten Schweizerin. Das ist ihr nicht als persönliches Defizit anzukreiden. Es ist ein Symptom für ein Land, das die aussenpolitische Abstinenz als Tugend hochhält und sich bei der gemeinsamen Verantwortung für seinen Kontinent heraushält.