Der ehemalige Schweizer Botschafter Jean-Daniel Ruch über die «strategische Autonomie» Europas, die Rolle der Schweiz und seine Kritik seine Kritik an der schweizerischen Übernahme der EU-Sanktionen gegen Russland.
Herr Ruch, wo befinden wir uns gerade, weltpolitisch gesehen ?
Sicherlich ist Trumps Übernahme der Macht in Amerika ein bestimmender Faktor, der die vier nächsten Jahre beeinflusst. Es ist viel zu früh, um zu sagen, ob es in Richtung einer anderen, aber stabilen Ordnung geht, oder in eher in Richtung Chaos oder Konfusion. Wir stehen am Anfang einer Periode, an einem Kreuzweg, und man weiss nicht, in welche Richtung der Zug fährt. Doch wenn es eher positive Signale von Trump gibt, dann würde ich sagen, es ist der Wille, mit den Russen zu sprechen, um diesen Krieg zu Ende zu bringen, den die Ukrainer zu verlieren im Begriff sind, der Europa mehr und mehr kostet, und der sinnlos ist.
Was ist die Herausforderung der Schweiz in dieser Lage ?
Die Schweiz ist ganz und gar nicht in einer schlechten Lage. Während der ersten Präsidentschaft Trump hatten wir ein gutes Verhältnis. Trump ist der erste Präsident, der einen Schweizer Bundespräsidenten empfangen hat, Ueli Maurer, der übrigens ein ausserordentliches Präsidialjahr hatte, er traf Putin, Xi Jinping und Trump. Das zeigt, dass die Schweiz ernst genommen wurde, zumindest als Ueli Maurer Bundespräsident war. In seinem Wahlkampf hat Trump das Schweizer Bildungssystem erwähnt, also kennt er die Schweiz ein wenig und hat einen guten Eindruck. Auf der negativen Seite will er gegen die Länder mit positiver Handelsbilanz mit den USA vorgehen, was die Schweiz betrifft. Und er hat uns nicht in diejenigen Länder eingeschlossen, die gewisse hochtechnologische Chips erhalten, welche nur die Amerikaner herstellen. Und schliesslich hätte die Schweiz Probleme, wenn es wirklich zu einem Handelskrieg mit China kommt, denn die Schweiz hat einen Freihandelsvertrag mit China, der für uns sehr profitabel ist. Es ist eher dieser Aspekt, der mich beunruhigt.
Wie soll die Schweiz sich verhalten?
Meiner Meinung nach müsste der Akzent auf unsere Brückenbauerrolle gelegt werden, unsere traditionelle Neutralität, um zu zeigen, dass man eine nützliche Rolle spielen kann. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung wäre, den Gipfel zwischen Trump und Putin zu veranstalten.
Schweizer OSZE-Präsidentschaft
2026 übernimmt die Schweiz die Präsidentschaft der OSZE. Kann sie etwas bewirken ? Welche Karten kann sie ausspielen ?
Wie alle internationalen Organisationen, hängt die OSZE von ihren Mitgliedsstaaten ab. Wegen des ukrainischen Konflikts und wegen der enormen Spannungen zwischen Russland und den westlichen Ländern ist sie handlungsunfähig. Im Moment ist sie eine Phantomorganisation. Wenn es eine Entspannung zwischen Washington und Moskau geben sollte, könnte die OSZE wieder zum Ort werden, wo die unterschiedlichen Interessen diskutiert werden und man sich an Lösungen, Vorschläge, konkrete Taten macht, um Frieden und Sicherheit in Europa voranzubringen. Aber offensichtlich ist das erste eine allgemeine Übereinkunft zwischen den Russen und den Amerikanern. Und eine solche Übereinkunft müsste weiter reichen als nur eine Waffenruhe in der Ukraine. .
Was würde über eine Beendigung Ende des Kriegs gegen die Ukraine hinaus reichen ?
Für die langfristige Stabilität des Kontinents braucht es neue Abkommen zur Kontrolle der Rüstung in Europa, wie man sie in der Vergangenheit hatte und nach und nach fallen liess. Ich denke an die bilateralen Nuklearabkommen zwischen Moskau und Washington, und ich denke natürlich auch an das Abkommen zur Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa. Nötig wäre ein Abkommen, das für jedes Land die Zahl der Offensivwaffen festlegt, Panzer, Kampfflugzeuge und so weiter. Und schliesslich müssten die Abkommen erneuert werden, die im Schoss der OSZE geschlossen wurden. Die Vereinbarungen über vertrauensbildende Massnahmen zur Sicherheit zwischen West und Ost, die militärische Inspektionen vorsehen, Einladungen an Beobachter, die kleinen Gestern, die Vertrauen bilden.
Und was macht Herr Cassis als Präsident der OSZE, wenn diese Entspannungen zwischen Russland und Amerika ein Luftschloss bleibt ?
Es gibt kleine Dinge, sich tun lassen, Unterstützungen an dieses oder jenes Land, zum Beispiel Moldawien oder Länder wie Georgien. Es gibt mehrere Länder, die zwischen Ost und West eingeklemmt sind und nicht sehr gut wissen, wie sie sich verhalten sollen, wo die Bevölkerungen gespalten sind. Ich würde den Akzent auf diese Länder legen und versuchen, sie so gut wie möglich zu konsolidieren, zu stabilisieren. Auch auf der Ebene der Menschenrechteund der Demokratie gäbe es viel zu tun. Namentlich, was die Meinungsfreiheit betrifft, alles, was mit Hassrede verbunden ist und alles, was mit der Künstlichen Intelligenz als Turbomotor der Desinformation zu tun hat. Es gilt, Normen auszuhandeln, und warum nicht versuchen, dies im Schoss der OSZE voranzutreiben ?
Sanktionen: «Das Volk hat das Recht zu wissen, warum»
Sie haben den Entscheid der Schweiz kritisiert, die europäischen Sanktionen gegen Russland zu übernehmen. Russland sagt, die Schweiz habe ihre Neutralität verlassen. Einverstanden ?
Was ich bedaure ist, dass man uns nicht sagt, warum man jene Sanktionen übernimmt. Es kann sein, dass es sehr gute Gründe gibt. Aber Tatsache ist, dass die Schweiz zwischen 2014 und 2022 mit ihren Partnern gut gefahren ist, indem sich Massnahmen gegen die Umgehung der Sanktionen ergriff, diese aber nicht übernahm. 2022 hat man uns zunächst gesagt, dass man auf dieselbe Art verfahren werde, und dann plötzlich, über ein Wochenende, gab es eine Kehrtwende und man hat die europäischen Sanktionen mitgetragen. Deshalb entstand der Eindruck, dass man sich zum Anhänger der Europäischen Union machte, ohne uns zu erklären, was diese fundamentale Änderung rechtfertigte. Dann hat man uns gesagt, es sei wegen der sehr schweren Verletzung des Völkerrechts. Nein doch ! Über ein Wochenende hat diese Verletzung sich nicht verändert, die russische Aggression bestand seit dem 22. Februar 2022. In den Kulissen war zu hören «oh, wenn Sie nur wüssten, welchem Druck man ausgesetzt war ». In einer direkten Demokratie wie der unseren hat das Volk das Recht zu wissen, warum eine so wichtige Entscheidung getroffen wurde. Es ist vollkommen fähig zu verstehen, dass man unsere Neutralitätspolitik ändert, falls die Amerikaner oder die Europäer uns mit Strafmassnahmen bedrohen würden, die unserer Wirtschaft wirklich schadeten.
Kann man nicht akzeptieren, dass die Neutralitätspolitik so geändert wird, dass die Schweiz nicht mehr neutral ist, wenn es um schwere Verletzungen des Völkerrechts, des humanitären Völkerrechts, geht ? In dieser Logik müsste man dem Bundesrat vorwerfen, dass er in ähnlichen anderen Fällen zu neutral ist.
Es gibt mehrere andere ebenso schwerwiegende Situationen in der Welt, wo man keine Sanktionen ergreift. Die Neutralität ist wie eine dreistufige Rakete. Die erste Stufe ist das Neutralitätsrecht, rein juristisch. Es bedeutet grob gesagt, dass ein neutrales Land keine Konfliktpartei begünstigen darf. Da sind wir im grünen Bereich. Dann gibt es die zweite Stufe. Das ist die Neutralitätspolitik, im Wesentlichen durch den Bundesrat bestimmt. Hier muss man spielen, manövrieren können. Von den hier getroffenen Entscheidungen hängt die dritte Stufe ab. Das ist die Aussensicht, die äussere Perzeption der Neutralität.
Auf welcher Stufe liegt das Problem ?
Im Fall der Ukraine, aber auch bei Israel oder Gaza hat die Perzeption der Neutralität durch die Positionen der Regierung, aber auch des Parlaments gelitten. Unser Ruf, unser Image, unsere Soft Power als neutrales Land haben seit 2022 gelitten.
Welche Entscheide des Parlaments neben den Sanktionen gegen Russland schaden der Perzeption der Schweizer Neutralität ?
Ich denke als erstes an den Entscheid, der UNRWA …
… die UNO-Agentur für Palästinenserhilfe.
…die Gelder zu entziehen. Wir waren das erste Land der Welt, das dies machte. Das hat einen Einfluss auf die Perzeption unserer Neutralität. Es gibt einen Cocktail von Entscheidungen in Bern, die den Eindruck hervorriefen, dass man sich sehr deutlich ins israelische Lager stellt. Dazu gehört auch der Entscheid des Parlaments, Hamas zur terroristischen Organisation zu erklären. Jahrelang hat man nur diejenigen Organisationen als terroristisch betrachtet, die auf der Liste der Vereinten Nationen stehen. Mit Hamas hat man eine Pandorabüchse geöffnet. Zudem verzichtet man auf eine Rolle, die wir in der Vergangenheit spielen konnten.
Frieden in Sicht im März 2022
Im Fall der Ukraine sagen viele, dass wir nicht mehr neutral sein können, weil wir einer kontinentalen Bedrohung durch Russland ausgesetzt sind, der sich der Kontinent gemeinsam entgegenstellen muss – einschliesslich der Schweiz, die Teil des europäischen Kontinents ist.
Da die Russen nicht imstande sind, bis zum Dnjepr zu gelangen, habe ich etwas Mühe mit der Vorstellung, dass sie in Berlin oder St. Gallen ankommen könnten. Das ist ein vollkommen absurdes Argument. Diese Rede hält keiner Analyse stand, schlicht weil die Russen weder die militärischen Mittel noch den Willen haben, den ganzen Kontinent zu überfallen.
Wie wissen Sie, dass Russland nicht den ganzen Kontinent bedroht ?
Wer in den Krieg zieht, muss klare und realistische militärische Ziele haben. Die Russen scheinen sie zu haben. Grosso Modo geht es um die Übernahme der vier östlichen Oblasts. Der Westen hat gesagt, man müsse Russland « besiegen » oder schwächen. Das sind weder klare noch realistische Kriegsziele. Und was ist das Resultat ? Ein Desaster, ein Massaker hunderttausender junger Ukrainer und Russen. Man hätte es sechs Wochen nach Beginn der Kämpfe durch türkische Vermittlung beenden können.
Es gab im Frühjahr 2022 Gespräche in Istanbul. Haben Sie als Schweizer Botschafter eine Rolle gespielt ?
Es gab im März einen Moment, wo Ignazio Cassis den türkischen Aussenminister anrief. Es hatte in Antalya ein erstes Treffen zwischen Lawrow und dem ukrainischen Aussenminister gegeben, im Rahmen eines Forums, das die Türken jedes Jahr veranstalten. Der türkische Minister ersuchte Cassis, seinen Botschafter …
Sie…
… zu schicken, um zu versuchen, miteinander zu arbeiten, da es wirklich gut laufe. Also traf ich den türkischen Chefunterhändler. Wir hatten ein langes Gespräch, in dem er mir erklärte, was auf dem Tisch lag. Die Türken waren an schweizerischer Hilfe bei der Definition einer ukrainischen Neutralität interessiert. Am Ende des Gesprächs sagte er mir : « Weisst Du, Jean-Daniel, ich bin nicht optimistisch, weil es grosse Mächte mit einer globalen Agenda gibt, die kein Interesse an einem Frieden haben ». Wenig später ging Boris Johnson nach Kiew und die Diskussionen waren zu Ende. Und wenige Tage danach sagte der amerikanische Verteidigungsminister öffentlich, Russland müsse weiter geschwächt werden.
Die Schweiz und die «strategische Autonomie in Europa»
Wenn es keine kontinentale Bedrohung gibt, gibt es auch keine Dringlichkeit, darauf zu reagieren, indem man die Strategie ändert und das Militär aufrüstet. Einverstanden ?
Ich denke, es ist eine gute Sache, dass die Schweiz und Europa ihre Verteidigungssysteme überprüfen, verstärken und endlich eine glaubwürdige militärische Macht aufbauen. Denn es hat sich in der Geschichte erwiesen, dass Frieden und Stabilität vom Gleichgewicht der militärischen Kräfte abhängen, vor allem, wenn das Völkerrecht nicht mehr oder praktisch nicht mehr existiert, wie es heute der Fall ist.
Eine europäische Armee ?
Ja. Das sagt Macron. Viel zu lange ist Europa vom amerikanischen Schutz abhängig gewesen. Jetzt besteht wirklich die Notwendigkeit, eine strategische Autonomie in Europa herzustellen. Die Amerikaner haben ihre eigenen Interessen, sie sind 6000 Kilometer von uns entfernt und es ist ein strategischer Irrtum, die europäische Sicherheit von Akteuren am anderen Ende der Welt abhängen zu lassen, deren Interessen vollständig andere sind als die unseren. Ich denke, dass das langfristige Interesse Europas darin besteht, wieder stabile Beziehungen zu Russland anzuknüpfen, was offensichtlich nicht im amerikanischen Interesse liegt. Immerhin gibt es eine territoriale Verbindung zwischen Russland und Europa, und sich von Russland und seinen enormen Ressourcen zu trennen, heisst, sich in den eigenen Finger zu schneiden.
Soll die Schweiz sich in diese « strategische Autonomie in Europa » einbringen ?
Sie soll es, aber eher auf technischer Ebene, nicht als Beitritt zu einem Militärbündnis. Die Europäer entwickeln militärische Innovationsprogramme und intensivieren ihre Zusammenarbeit im Rüstungsbereich. Hier hat die Schweiz etwas anzubieten. Auf diese Weise würde man einen Beitrag zur Stärkung eines europäischen Sicherheits- und Militärpfeilers leisten, der in der Folge ein kontinentales Gleichgewicht herstellen könnte. Dies würde den Weg zur Wiederaufnahme der wirtschaftlichen und Handelsbeziehungen mit Russland öffnen, was meiner Ansicht nach im Interesse Europas liegt.
In der Schweiz wird eine Diskussion über die Positionierung der Armee geführt, man wird mehr Geld in die Armee stecken. Liegen die Akzente auf den richtigen Themen ?
Bevor man Gelder aus dem Verteidigungsbudget auf Waffenkäufe und Waffenentwicklungsprogramme verwendet, müsste man sich darüber vergewissern, welche Strategie und Sicherheitspolitik man will. Ich bin nicht sicher, dass man diese Arbeit gut gemacht hat. Denn unsere ganze Sicherheitsstrategie, sämtliche Dokumente, die von unserer Armee ausgearbeitet worden sind, gehen vom Prinzip aus, dass man sich der NATO annähern muss. Man integriert sich in die NATO, ohne formell dazuzugehören.
Was ist die Alternative ?
Wir haben technologische Kapazitäten, auch noch einige Rüstungskapazitäten, die meiner Meinung nach verstärkt werden sollten, um das zu sein, was wir während des gesamten Kalten Kriegs gewesen sind. Das heisst, unsere Rolle in der Mitte Europas einzunehmen und unseren Partnern zu bedeuten : Wir haben eine glaubwürdige Armee, wir können zu Kriegszeiten kooperieren, aber wir sind neutral. Diese nationale Debatte hat es nicht gegeben. Es gibt kleine Zirkel von Experten, die diskutieren. Die Armee macht ihr Ding in ihrer Ecke, ziemlich undurchsichtig, und überdies haben sie ihre Inkompetenz durch die Auswahl von Waffensystemen bewiesen, die sehr teuer sind und nicht funktionieren. Die Eidgenössische Finanzkontrolle hat 5 oder 6 Programme enthüllt, bei denen Entscheide anscheinend aus ideologischen Gründen gefällt worden sind und nicht auf der Grundlage einer wirklichen Analyse und einer gerechten Ausschreibung.
Das war unter der Aegide von Ueli Maurer und seiner SVP-Kollegen als Chefs des Verteidigungsdepartements.
Ich bin nicht sicher, dass Sie als Bundesrat wirklich die technischen Kenntnisse haben, um derartige Entscheide zu fällen. Sie haben vielleicht eine vage militärische Erfahrung als Bataillons- oder Regimentskommandant, aber dann kommen die Experten und erzählen Ihnen, warum der F-35 der Beste ist. Ich beobachte, dass es im ganzen Verteidigungssystem eine pro-israelische und pro-amerikanische Voreingenommenheit gibt. Als ich Botschafter in Israel war, sah ich jede Woche diese militärischen Delegationen ankommen, manchmal mit dem Auftrag, Waffen zu kaufen. Ich weiss, dass es sehr enge Beziehungen gibt, die in meiner Sicht nicht das Ergebnis einer objektiven Analyse des Bedürfnisse der Schweiz oder des Markts sind. Manchmal habe ich den Eindruck, man sollte jenes Genfer Zentrum für die demokratische Kontrolle der Streitkräfte einschalten, um zu analysieren, inwiefern unsere Volksvertreter unsere Streitkräfte wirklich kontrollieren.
Solche Aussagen machen Sie nicht gerade populär. Die Neue Zürcher Zeitung hat Sie in die Ecke der « Putinversteher » gerückt, weil Sie an einer Veranstaltung von « Aufrecht Schweiz » teilnahmen. .
waren Impfgegner, ich wusste es nicht, als ich zugesagt habe. In der Suisse Romande sind sie völlig unbekannt. Mich interessierte der Dialog mit dem russischen Botschafter. Es gibt nicht alle Tage Gelegenheit, auf dieser Ebene zu diskutieren, vor 500 Personen im Saal. Ich habe gesagt, was ich richtig finde, ich habe die Schweizer Position vertreten, mein erster Satz lautete, dass Russland eine Aggression verübt hat. Danach hatten wir eine sehr herzliche Debatte. Ich spreche zu denen, die mich hören wollen, ich habe keine Limiten. Ich sehe, dass es in der Deutschschweiz eine Art « cancel culture » gibt, die in der Suisse Romande nicht existiert. Die Haltung der NZZ und der Ringier-Gruppe ist extrem ideologisch geworden. Sie « cancel », wenn man nicht sagt, was sie hören wollen. Mir ist das völlig egal, es gibt andere Medien, mit denen ich arbeiten kann, um die Öffentlichkeit zu erreichen.
Neutralitatsinitiative: Dafür und dawider
Wie stellen Sie sich zur Volksinitiative, welche die Neutralität in der Verfassung festschreiben will ?
Sie ist schon in der Verfassung, im Sinne, dass der Bundesrat beauftragt ist, die Neutralität zu wahren. Die Initiative will die Übernahme von Sanktionen auf die Sanktionen des UNO-Sicherheitsrats beschränken. Diese Initiative ist willkommen, indem sie die Möglichkeit eines wirklichen nationalen Dialogs über eine Frage eröffnet, die viele als identitätsstiftend ansehen. Ich habe übrigens im vergangenen Dezember in Genf ein Zentrum für Neutralität eröffnet, um allen, die sich äussern wollen, einen Raum anzubieten. Wir dürfen das Monopol auf die Neutralität nicht einer politischen Partei überlassen.
Und Ihre Haltung zur Initiative ?
Ich habe mich nicht entschieden. Es gibt Argumente dafür und dawider. Das Hauptargument dafür, wovon übrigens niemand je gesprochen hat, lautet, dass dies dem Bundesrat eine Waffe in die Hand gäbe, um dem Druck zu widerstehen, der auf ihn ausgeübt werden könnte. Im Fall von Russland zum Beispiel hätte der Bundesrat sagen können, dass er unsere Verfassung verletzte, wenn er die europäischen Sanktionen übernähme. Das würde das Rückgrat des Bundesrats stärken. Auf der anderen Seite würde ein solches Verfassungsmandat dem Bundesrat jede Manövriermöglichkeit nehmen, seine Politik gemäss unseren Interessen zu definieren.
Jenes Genfer Zentrum – was ist das ?
Wir haben das am 12. Dezember, dem Welttag der Neutralität, im Haus von General Dufour mit einer kleinen Gruppe lanciert. Wir haben ein enormes Interesse festgestellt. Jetzt sind wir daran, uns auf drei Achsen zu strukturieren. Die erste ist die Debatte in der Schweiz. Die zweite die Verknüpfung mit vergleichbaren Institutionen in der Welt, um ein Geflecht zu schaffen, das sich nicht an den einen oder anderen Block anlehnt. Die dritte Achse hängt mit der digitalen oder numerischen Neutralität zusammen. Da bildet sich eine ganze Reihe von Bedrohungen heraus. Es gibt Bedarf nach einem neutralen Raum, wo man Normen über die Anwendung der künstlichen Intelligenz entwickeln kann, sei es im Bereich der Information oder in Rüstungsfragen. Stellen Sie sich eine Welt vor, in der Maschinen über den Griff zur Nuklearwaffe entscheiden, ohne menschliche Mitwirkung ! Die Ankunft von KI macht eine solche Welt wahrscheinlich.
Jean-Daniel Ruch war Mitarbeiter der OSZE, politischer Berater des UNO-Tribunals für Ex-Jugoslawien, Schweizer Botschafter in Serbien, Montenegro, Israel und der Türkei und Sondergesandter des Bundesrats für den Nahen Osten. Seine Ernennung zum Staatssekretär im VBS scheiterte 2023 an einer undurchsichtigen personalpolitischen Intrige.