Über sieben Jahrzehnte war der militärische Sieg über das nationalsozialistische Deutschland ein einigender Moment “von Vancouver bis Wladiwostok”, doch neuerdings verkommt er eher zur inconvenient truth. Denn keine Geiss schleckt weg, dass es rote Sowjetarmee war, welche Ende April/Anfang Mai 1945 den letzten deutschen Widerstand zerschlug, aber blöderweise sind die Nachfolger der Sowjetunion zum russischen Imperialismus zurückgekehrt und führen seit drei Jahren einen blutigen Einverleibungskrieg gegen das Nachbarland Ukraine. Das macht das Gedenken schwierig. Wie den Sieg des Guten feiern, wenn die Siegernation neuen Dreck am Stecken hat? Der Russe stinkt.
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Dazu ist alles gesagt, und in den letzten Tagen noch mehr geschrieben worden. Besser hingehen und schauen, was sich vor Ort so tut. In Berlin, vor 80 Jahren Schauplatz des Geschehens, ist Feiertag.
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Wir beginnen im Osten, beim Sowjetischen “Ehrenmal” im Treptower Park. Ein Massengrab ohne Grabsteine, umringt von Stelen mit Zitaten von Joseph Stalin, überragt von der gigantischen Skulptur eines Sowjetsoldaten, mit Kind im Arm. Die Menge ist überschaubar. Enorm viel Polizei. Vor dem Geländer erläutert ein älterer Herr zwei Amerikanern, warum die Anlage so gross ausgefallen ist, er redet über die Entbehrungen des sowjetischen Kampfs gegen Hitlerdeutschland, die Millionenverluste, die 80 000 Gefallenen allein im Kampf um Berlin, die Vereinnahmung des “Antifaschismus” durch die sowjetische Propaganda. Daneben posiert ein Araber mit einer Palästinenserfahne. “Eigenartig, wie sie das Fahnenverbot” umsetzen”, mulrmelt einer, der danebensteht.
Fahnenverbot? Ich erkundige mich bei einer Polizistin. “Fahnen sind gestattet, ausser russischen Fahnen”, erklärt sie. Freunde Moskaus haben die Feiern beim Ehrenmal seit je genutzt, um sich ins warme Licht des “Antifaschismus” zu stellen, aber die linke Folklore wird seit dem russischen Überfall auf das Nachbarland Ukraine mit Verständnis und Apologetik für den Stalin-Nachfolger Putin scharf gewürzt. Dem offiziellen Deutschland sticht das in die Nase. Zu den offiziellen Gedenkfeiern wurde der russische Botschafter nicht eingeladen (in Torgau an der Elbe, wo russische und amerikanische Soldaten Ende April 1945 zusammentrafen, ging er trotzdem hin), und in Berlin erliess die Polizei eine umfassende “Allgemeinverfügung”, was am 8. Und 9. Mai alles verboten ist: Keine russischen Fahnen, keine Militäruniformen oder -abzeichen, keine “St.Georgs Bänder”, keine “Symbolik oder Kennzeichen, die geeignet sind, den Russland-Ukraine-Krieg zu verherrlichen”, keine “russischen Marsch, bzw. Militärlieder (insbesondere aller Varianten des Liedes “der Heilige Krieg” , Swjatschennaja woina”) und überhaupt “das Billigen des derzeit von Russland gegen die Ukraine geführten Angriffskriegs”. Die Allgemeinverfügung ist an diesem Donnerstag ein durchschlagender Erfolg. Weit und breit ist nicht ein St. Georgs Band zu sehen. Tags darauf, am 9. Mai, wenn die Russen feiern, kam es gemäss den spärlichen Presseberichten zu Wortgefechten mit Parteigängern der angegriffenen Ukraine.
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Auf dem Platz vor dem Eingang zum Ehrenmal singt der Ernst Busch Chor vom Frieden, in der Intonierung ziemlich schief. Es werden Zeitzeugnisse vorgelesen. Drei junge Männer schwenken orangefarbene Fahnen der Partei Die Linke. An einem kleinen Stand wird antiquarische kommunistische Literatur verhökert. Zwei Männer heben ein zerfleddertes Exemplar Marx/Engels hoch, aus der blauen DDR- Gesamtausgabe. “Willste es”? fragt der eine. “Nee. Das hatten wir 10 Jahre in der Schule, es reicht mir”. Nebenan fordert ein Plakat das “Ende der Deindustrialisierung”. Wie Donald Trump. Die Dame am Stand findet es nicht lustig, als ich sie darauf hinweise.
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An einem Drahtzaun hängt eine meterlange Dokumentation der roten russischen Sünden, von der Revolution bis zum Überfall auf die Ukraine: Der rote Terror, die von Stalin organisierte ukrainische Hungersnot Holodomor, das Massaker von Katyn, das Moskau leugnete, bis die Archive geöffnet wurden, die Kriege gegen Tschetschenien, Georgien, Ukraine. Gefragt, welche Organisation es sei, die dem deutschen Publikum hier geschichtlichen Unterricht gebe, antwortet eine junge Dame, die Plakate aufhängt: “I cannot speak German but I can explain to you in English”.
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Weiter zum Pariser Platz. Dort steht die offizielle Freilicht-Ausstellung “Endlich Frieden”. Zehn Bildtafeln zum Weltkriegsende, ergänzt mit Tondokumenten, organisiert von der “Ständigen Konferenz der NS-Gedenkorte im Berliner Raum”. Mit knappem Text und grossen Bildern wird der Bogen vom “deutschen Vernichtungskrieg” bis zu “Verdrängung und Erinnerung” geschlagen, der “Kampf bis zum Ende”, die Todesmärsche der KZ-Häftlinge, die sowjetische Besatzung Berlins, inklusive Massenvergewaltigungen und retuschierten Siegerphotos, die Vertreibungen, die selektiven Naziprozesse, welche “die meisten Täter und Mordgehilfen des deutschen Vernichtungskrieges” ungeschoren liessen. Neues ist hier nicht zu sehen, aber vor den Tafeln drängen sich Trauben von Menschen. Die halblauten Kommentare sind in allen möglichen Sprachen vernehmbar.
Wenig Schritte weiter geht es zum zum anderen sowjetischen Ehrenmal, westlich hinter dem Brandenburger Tor an der Strasse des 17. Juni. Die Anlage mit den zwei T-34-Tanks am Eingang. Wiederum viel Polizei und nicht so viele Besucher. Auffallend sind hier die riesigen ukrainischen Flaggen. Auch eine Nato-Flagge ist zu sehen. Von weiter hinten ist Kundgebungslärm zu hören: Demonstration vor dem Reichstag.
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Es ist das erste Mal seit 2020, dem 75-Jahr-Jubiläum, dass Berlin den 8. Mai als Feiertag begeht. Ein Anlass für eine weitere Debatte über die “Erinnerungskultur”: Man streitet sich ein wenig darüber, ob der “Tag der Befreiung” gesetzlicher Feiertag werden soll, jedes Jahr und überall.